Heike Augustin, Isabella Bauer et al.: Kommunale Konfliktbearbeitung
Rezensiert von Prof. Dr. Theresa Hilse-Carstensen, 25.02.2025

Heike Augustin, Isabella Bauer, Kerstin Borgel, Firedemann Bringt, Maria Budnik u.a.: Kommunale Konfliktbearbeitung. Konflikte ‚vor Ort‘ klären, lösen, transformieren.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2024.
ISBN 978-3-7566-0074-8.
Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit - Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis.
Thema
„Kommunen […] sind sozialpolitische Mikrokosmen“ (S. 5), zu deren Alltag auch die Auseinandersetzung mit Konflikten zwischen verschiedenen kommunalen Akteur:innen gehört. Die Nähe der Kommunalpolitik zur Lebenswelt und die unmittelbare Erlebbarkeit von (politischen) Entscheidungen beschreiben die kommunale Ebene einerseits als kleinste Einheit im Staatsaufbau und Ort des direkten, lokalen Zusammenlebens. Andererseits befördert gerade diese Nähe auch Konfliktpotenziale.
Zu den Konflikten, die den kommunalen Nahraum betreffen, kommen zunehmend nationale oder globale Konfliktthemen, die über den lokalen Kontext hinausgehen und dennoch lokales Konfliktgeschehen beeinflussen (Integration von Geflüchteten, Verteilung von Transferleistungen, Ausstieg aus fossilen Energien etc.). Die Kommunen agieren oftmals in der Rolle, gesamtgesellschaftlich bedingte Konfliktsituationen vor Ort auszuhalten, zu schlichten oder aktiv zu moderieren. „Kommunaler Politik und Verwaltung kommt hier nicht selten eine Doppelrolle zu, die den Umgang mit Konflikt erschwert: Sie ist (häufig) beteiligte Konfliktpartei, die politische Vorgaben entlang ihres Mandats zu vertreten und umzusetzen hat. Und es ist gleichermaßen ihre Aufgabe, Konflikte zu bearbeiten.“ (S. 7–8).
Der Umgang mit Konflikten vor Ort ist entscheidend für den sozialen Zusammenhalt, das Zugehörigkeitsgefühl, die Akzeptanz von Entscheidungen, das Demokratieverständnis und die Bereitschaft zur Beteiligung und zum Engagement auf kommunaler Ebene. In diesem Sinne haben Konflikte ein gestalterisches und demokratisches Potenzial und können als etwas Positives verstanden werden. Gleichzeitig ist die Moderation von Konflikten ressourcenintensiv, erfordert entsprechende Moderationskompetenzen sowie die Bereitschaft und den Mut, unterschiedliche Positionen zuzulassen, sich auf einen Aushandlungsprozess einzulassen und ein nicht vorherbestimmtes Ergebnis oder gar ein Scheitern akzeptieren zu können. Konflikte werden nicht selten als unangenehm oder störend empfunden. In dieser Zu- und Beschreibung kommt die Ambivalenz der kommunalen Konfliktbearbeitung zum Ausdruck.
Im Zentrum des Praxisfeldes der kommunalen Konfliktbearbeitung „stehen Konflikte, die in einem geographischen, sozialen oder politischen Raum lokal ausgetragen werden und/oder in Strukturen der kommunalen Selbstverwaltung in Städten, Gemeinden oder Landkreisen Bearbeitung finden“ (S. 10). Hierfür haben sich in den letzten Jahren professionelle Akteure und Netzwerke etabliert, die Kommunen bei der Bearbeitung von Konflikten unterstützen.
Entstehungshintergrund
Die Zeitschrift „Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit“ des Wochenschau-Verlags hat 2024 ein Themenheft „Kommunale Konfliktbearbeitung – Konflikte vor Ort klären, lösen und transformieren“ herausgegeben. Darin kommen Akteure zu Wort, die sich mit der Bearbeitung und Erforschung des Feldes befassen.
Autor:innen
Das Themenheft der Fachzeitschrift umfasst Beiträge von Heike Augustin, Isabella Bauer, Kerstin Borgel, Friedemann Bringt, Maria Budnik, Thimna Bunte, Kai Denker, Aladin El-Mafaalani, Kerstin Eppert, Annette Flos, Sonja Fücker, Ulrike Gatzemeier, Katrin Großmann, Christoph Hedtke, Uwe Jordan, Vincent Knopp, Alexander Krahmer, Beate Küpper, Nick Nestler, Konstanze N’Guessan, Anna Christina Nowak, Dominique Pannke, Dieter Rucht, Julia Schatzschneider, Constanze Spieß, Georgios Terizakis und Andreas Zick.
Aufbau
Das Themenheft enthält neben einem themenspezifischen Editorial neun Schwerpunktbeiträge, u.a. zu den Themen
- Integrationsparadox,
- menschenrechtsorientierte Gemeinwesenarbeit,
- allparteiliche kommunaler Konfliktberatung,
- Herausforderungen und Chancen kommunale Konfliktbearbeitung,
- gesellschaftlicher Zusammenhalt
- kommunales Konfliktmanagement und
- Lokalität von Konflikten.
Im Anschluss daran finden sich unter der Überschrift „Forum“ zwei Beiträge mit den Titeln „Für Demokratie – gegen Rechtsextremismus. Profil und Dynamik der jüngsten Protestwelle“ sowie „Extrem rechte Internet-Meme als Mittel der politischen Propaganda“. Weiterhin wird unter der Rubrik „Buzzword“ der Begriff der „Remigration“ erläutert. Es schließen sich ein Marktplatz zur Präsentation konkreter Initiativen und Buchbesprechungen an.
Inhalt
Die vorliegende Rezension bezieht sich auf drei Beiträge aus dem Schwerpunkt kommunale Konfliktbearbeitung.
Aladin El-Mafaalani und Ulrike Gatzemeier „‘Wofür streiten wir eigentlich?‘ Sechs Jahre nach dem Integrationsparadox“, S. 16 – 29.
Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Gespräch von Ulrike Gatzemeier mit Aladin El-Mafaalani. Zum Hintergrund: Was ist mit dem Integrationsparadox gemeint? „Je erfolgreicher es migrantischen und migrantisierten sozialen Gruppen gelingt – gemessen an Bildung, Einkommen oder Erfolg auf dem Arbeitsmarkt – in die Mittelschicht aufzusteigen, desto mehr Diskriminierung erlebten sie“ (S. 16). Mit zunehmender Integration entstehen Konflikte, so die These von El-Mafaalani. Ein Konflikt ist in diesem Sinne nicht unbedingt etwas ausschließlich Negatives, sondern auch eine Chance für Veränderung.
In der ersten Frage geht es darum, ob die These vom Integrationsparadox präzisiert werden muss. El-Mafaalani antwortet darauf mit dem Hinweis auf die Paradoxie von Konfliktgeschehen und die Multipolarität von Konflikten. Im Hinblick auf eine Schärfung seiner Hauptthese erläutert er zwei Perspektiven:
- Den Begriff der „Doxa“ (vgl. Bourdieu), der einen Zusammenhang zwischen Herrschaftsverhältnissen und Sinnverhältnissen beschreibt. Auf eine einfache Formel gebracht, lässt sich dieser Zusammenhang wie folgt erklärt: Werden Herrschaftsverhältnisse aufgelöst, dann werden auch Sinnverhältnisse (Orientierung, Sinnstiftung etc.) aufgelöst, und dies führt zu verschiedenen Konflikten.
- Weiteres Konfliktpotenzial sieht El-Mafaalani in der zunehmenden Entwicklung, dass Themen wie Migration, Integration und auch Diskriminierung vielstimmiger und damit diverser werden. Am Beispiel der Diskriminierung zeigt El-Mafaalani drei Positionen auf: 1. Eine moralische Position, nach der es keine Rolle spielen sollte, woher eine Person kommt und wie diese aussieht. 2. Eine normative Position, die der Differenz, also dem Gegenstand der Diskriminierung, große Bedeutung und Identifikationspotenzial zuschreibt („Ich liebe mein Schwarzsein“). 3. Eine dekonstruktive Position, die die Rolle und die Privilegien der Privilegierten in den Mittelpunkt stellt. Aus diesen drei Positionen ergibt sich ein sogenanntes „Trilemma“, das Widersprüche zwischen den Positionen aufzeigt und dazu führt, dass die Thematisierung und die Bearbeitung von Konflikten an Komplexität gewinnt. El-Mafaalani bringt dies mit Blick auf die Gemengelage in Konflikten wie folgt auf den Punkt: Es handelt sich um ein Spannungsfeld von „Widersprüche [n, HC], also um Positionen, die sich ausschließen, die aber zugleich alle ihre Berechtigung haben“ (S. 21). All dies verweist auf den hohen gesellschaftlichen Diversitätsgrad.
Das Gespräch geht über in das Thema Streitkultur, Umgang mit Konflikten und Lernen von Konflikten. Grundsätzlich braucht es eine etablierte und faire Streitkultur. Diese ist wichtig, um das Zusammenleben auszuhandeln. Für El-Mafaalani ist der Blick in die Zukunft zentral. Er macht dies an der Frage fest „Für was und wozu streiten wir eigentlich?“ (S. 23). Für ihn geht es darum, den Fokus zu verändern: Weg von Konflikten über die Gegenwart oder Vergangenheitsdeutung, die auf eine „Besitzstandswahrung“ (S. 23) verweisen, hin zu Fragen der Zukunftsgestaltung, um das gestalterische Potenzial von Konflikten hervorzuheben. Gerade angesichts der zunehmenden Skepsis gegenüber Zuwanderung in der Bevölkerung und migrationsfeindlicher Stimmen. Das Gespräch endet mit der Aussage: Heute geht es darum „[…] für eine bessere Zukunft zu streiten. Aber ohne in der Vergangenheit die Lösung zu suchen – das machen Populisten und religiöse Fundamentalisten schon“ (S. 29).
Sonja Fücker, Ulrike Gatzemeier „Gesellschaftlicher Zusammenhalt im Spiegel kommunaler Konfliktbearbeitung“, S. 95 – 107.
Konflikte gelten häufig als Störfaktor für den sozialen Zusammenhalt. Diese Deutung greift nach Ansicht der Autorinnen zu kurz und übersieht das integrative Potenzial von Konflikten.
Der Schwerpunkt des Beitrages liegt auf den stärkenden Möglichkeiten des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch Konflikte und deren Bearbeitung. Aus Sicht der Autorinnen können Konflikte vergesellschaftend wirken, sofern konstruktiv mit ihnen umgegangen wird. Dabei kommen verschiedene Ansätze der Konfliktbearbeitung – Konfliktlösung, Konfliktregelung und Konflikttransformation – zum Tragen. Sie helfen, Konflikte zu akzeptieren, konstruktiv zu bearbeiten und vor allem auch das gemeinschaftsstärkende Potenzial von Konflikten zu nutzen. Die drei Ansätze der Konfliktbearbeitung werden im Beitrag anschaulich erläutert und geben Hinweise, einmal hinter die Kulissen eines Konfliktgeschehens zu blicken und nach den Interessen und Bedürfnissen von Akteur:innen zu fragen.
Konflikt und gesellschaftlicher Zusammenhalt sind eng miteinander verbunden. Die Austragung, Bearbeitung und Moderation von Konflikten kann helfen, Vertrauen zueinander und in Institutionen zu entwickeln, Gemeinsamkeiten zu finden, Unterschiede anzuerkennen sowie Beziehungen und Kooperationen vor Ort zu stärken
Christoph Hedtke, Maria Budnik, Katrin Großmann, Alexander Krahmer „Wie werden lokale Konflikte eigentlich ‚lokal‘?“, S. 126 – 142.
Die zentrale Fragestellung des Beitrags deutet sich bereits im Titel an. Die Autor:innen gehen der Frage nach, wie gesellschaftliche Spannungen und überlokale Ereignisse „lokal werden“. Dazu haben sie eine Studie in verschiedenen ostdeutschen Klein- und Mittelstädten durchgeführt und stellen anhand einer Fallkommune dar, „wie überlokale Krisen und Veränderungsdruck zur Bildung eines Bürgervereins und regelmäßigen Protesten führen“ (S. 126). Das Autor:innenteam legt den Fokus auf Emotionen als bisher wenig beachteter Bestandteil einer „dynamischen Konfliktkonstellation“.
Die Situation in der Fallkommune im Hinblick auf überregionale Themen stellt sich wie folgt dar: Nahezu jede politische Entscheidung wird als nachteilig oder bedrohlich für den eigenen peripheren ländlichen Raum wahrgenommen (Beispiele sind das 49-Euro-Ticket oder das Heizungsgesetz) (S. 133). Dies fördert ein kollektives Gefühl des Abgehängt-seins und -werdens, das mit Gefühlen der Missachtung oder Bedrohung durch Regierungshandeln einhergeht. Dem steht „ein positives und ‚engagiertes‘ Wir-Gefühl“ (S. 136) der Bürger:innen für ihre Kleinstadt entgegen.
Den lokalen Protesten liegt eine widersprüchliche Gefühlslage zugrunde, die vor Ort als Anknüpfungspunkt für die Mobilisierung diente: „stark negative Empfindungen, die sich vor allem gegen das Außen richten, und zugleich positive Gefühle, die sich hingegen auf die eigene Gemeinschaft und das Selbstbild beziehen“ (S. 141).
In diesen Protestbewegungen kann eine zweifache Schnittstelle gesehen werden: 1. Überregionale Themen werden aufgegriffen und eine Anbindung zur lokalen Ebene geschaffen („die da oben in Berlin“, „Vernunft statt Bevormundung“). 2. Kollektiven Verletzungserfahrungen dienen der Mobilisierung von (rechten) Protestaktionen. Der Anbindung an Gefühlsdispositionen kommt nach Ansicht der Autor:innen eine zentrale Rolle zu. Einerseits werden kollektive Verletzungserfahrungen genutzt, um für Empörung zu sorgen oder diese zu steigern, andererseits sind die organisierten Proteste Gelegenheiten der Vergemeinschaftung und mit positiven Emotionen verbunden.
Diskussion
Das Schwerpunktheft „Kommunale Konfliktbearbeitung“ setzt sich aus verschiedenen Beiträgen zusammen, in der Gesamtheit oder einzeln gelesen werden können, um einen fokussierten Einblick in die Thematik zu erhalten. Als Einstieg empfiehlt sich das Editorial. Es ist fachlich auf den Punkt formuliert und benennt die zentralen Herausforderungen kommunaler Konfliktbearbeitung.
Insgesamt greift das Schwerpunktheft ein Thema von hoher Relevanz auf, dass eine weite Verbreitung und vertiefte Auseinandersetzung verdient. Exemplarisch seien hierzu drei Aspekte genannt und weitere Fragen aufgeworfen:
- Extreme Positionen: Wie mit extremen Positionen umgehen? Sollen diese im Sinne einer breit angelegten Konsensfindung einbezogen oder mit Blick auf humanistische und demokratische Werte ausgeschlossen werden?
- Umdenken:
- Konflikte sind nicht zwangsläufig nur ein Störfaktor, sondern ein Grundpfeiler der Demokratie. Aus ihnen können gestalterische Impulse gewonnen und Chancen für die Beteiligung verschiedener Akteursgruppen eröffnet werden.
- Nicht jeder Konflikt muss im Konsens enden. Auch ein ausgehandelter Dissens ist ein Ergebnis. Es gilt, Widersprüche auszuhalten und Dissens anzuerkennen.
- Strategie: Eine kommunale Konfliktstrategie setzt die Bereitschaft und ein Weiterdenken seitens kommunaler Spitzen voraus. Inwieweit können und sollen Konflikte ausgehalten, mitgetragen oder moderiert werden? Wann ist es notwendig aktiv zu werden, wann beobachtet man? Wann wirken Konflikte konstruktiv und welche Rahmenbedingungen sind dafür nötig?
Das Heft dient als Anregung, das gestalterische und demokratische Potenzial in moderierten und fair ausgetragenen Konflikten zu erkennen. Darüber hinaus regt es dazu an, Konflikten auf den Grund zu gehen: Welche Interessen und Bedürfnisse stehen hinter geäußerten Positionen? Welche grundsätzlichen Fragen nach empfundener Ungerechtigkeit, (verwehrten) Möglichkeiten der Teilhabe etc. bewegen die Akteure in einer Konfliktsituation?
Die Lektüre des Hefts kann allen empfohlen werden, die sich im kommunalen Raum bewegen. Dies betrifft kommunale Politik, Verwaltung, Wirtschaft, sozialwirtschaftliche Organisationen, organisierte Zivilgesellschaft und (aktive) Bürger:innen … eigentlich darf sich jede:r angesprochen fühlen, da wir in unserer eigenen Lebenswelt vielfältige Berührungspunkte mit der kommunalen Ebene haben. Für alle, die daran interessiert sind, lokale Konflikte zu verstehen, die sich fragen, wie die kommunale Ebene mit dem gesamtgesellschaftlichen Konfliktgeschehen verwoben ist oder die gezielt nach Möglichkeiten der konkreten Konfliktbearbeitung vor Ort suchen, lohnt sich ein Blick in das Heft.
Fazit
Das Schwerpunktheft „Kommunale Konfliktbearbeitung“ ist eine informative und gelungene Ausgabe der Zeitschrift „Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit“, die ein überaus relevantes Thema in den Fokus setzt.
Rezension von
Prof. Dr. Theresa Hilse-Carstensen
IU Internationale Hochschule Erfurt
Dipl. Sozialpädagogin/ Sozialarbeiterin (FH)
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