Frederik von Reumont, Marine Simon et al.: Auf der Spur der Menschen vor 80.000 Jahren
Rezensiert von Prof. Dr. Hannes Stubbe, 20.02.2025

Frederik von Reumont, Marine Simon, Ute Dieckmann, Ralf Vogelsang, Felix Henselowky u.a.: Auf der Spur der Menschen vor 80.000 Jahren. Eine kommentierte Graphic Novel. Dietrich Reimer Verlag (Berlin) 2024. 170 Seiten. ISBN 978-3-496-01702-8. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Was man unter einer Graphic Novel verstehen will, darüber gehen die Meinungen auseinander.
Einige verstehen darunter eine Bildgeschichte oder einen Bildroman, die wissenschaftliche, künstlerische, historische oder biografische Themen zu visualisieren und damit verständlicher und einprägsamer zu machen versuchen. Gutgelungene, hervorragende Beispiele wären Kate Evans (2018) und Tardi-Verney (2008) oder die schon 1946 publizierte einflussreiche Evolutionsgeschichte in Bildern „Life throught the ages“ von Charles R. Knights. Graphic Novels sprechen unser menschliches Bildbewusstsein an, das evolutionär tief in uns verankert ist (vgl. Stubbe, 2024:42ff).
Die Visualisierung der Prähistorie ist in der Wissenschaftsgeschichte eigentümliche Wege gegangen. Unter dem Einfluss des Darwinismus hat man die prähistorischen Menschen z.B. den Homo erectus oder Neandertaler zuerst affenähnlich (man-monkey) abgebildet (vgl. Kort & Hollein, 2009; Pääbo, 2024) und erst peux à peux setzte sich dann eine allmähliche „Humanisierung“ dieser Frühmenschen durch, die intelligent waren und denken, fühlen und kreativ gestalten konnten (vgl. Stubbe, 2024). Um diese vor ca. 300.000 Jahren in Afrika entstandenen Frühmenschen (Homo sapiens) geht es in diesem Buch (vgl. Schrenk, 2019). Die Autorinnen schreiben:
„Ziel der Forschenden aus verschiedenen Fachrichtungen war es, den Weg und die Ursachen für die Ausbreitung der ersten anatomisch modernen Menschen aus Afrika nach Mitteleuropa zu erforschen. Nach jahrelanger Forschungsarbeit in Afrika und Europa trugen sie Ergebnisse aus der Rekonstruktion der Klima- und Umweltbedingungen, aus der Ethnologie und der Ur- und Frühgeschichte zusammen. Auf diesen Forschungsergebnissen basiert die Geschichte von Aluru.“ (S. 7)
Autoren und Autorinnen
Über die Autorinnen und Autoren finden sich im Buch keine Angaben und müssen aus dem Internet erkundet werden. Alle gehören dem Sonderforschungsbereichs 806 an, der an der Universität zu Köln etabliert wurde. Angeführt wird die Gruppe von dem Geodidaktiker Dr. Frederik von Reumont. Marine Simon, M.A., vertritt die Humangeographie und ist seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geographiedidaktik an der Universität zu Köln. Dr. Ute Dieckmann wird als „principal investigator in the DFG-AHRC funded project ‚Historicizing Natures’” geführt. Dr. Ralf Vogelsang ist ein „Research Associate“ mit dem Spezialgebiet der paläolithischen Archäologie. Der Geomorphologe Dr. Felix Henselowsky arbeitet an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz im Geographischen Institut. Prof. Dr. Alexandra Budke ist die Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Geographiedidaktik an der Universität zu Köln. Prof. Dr. Frank Schaebitz lehrt am Seminar für Geografie und ihre Didaktik ebenfalls in Köln. Comic (Text und Zeichnungen), sowie Layout stammen von Dr. Frederik von Reumont. Als Wissenschaftshistoriker ist mir aufgefallen, dass es einen Moritz von Reymond gegeben hat, der im 19. Jh. satirisch über Häckelismus (1877) illustrierte und publizierte (vgl. Kort & Hollein, 2009:252).
Aufbau
Das Buch ist in folgende „Episoden“ gegliedert, die sich an Geografie und Klimaperioden, sowie der fiktiven Geschichte Alurus orientieren:
- Aufbruch (Klima und Vegetation in sehr feuchten Perioden)
- Dem Fluss folgen (Potenzielle Flüsse in sehr feuchten Perioden)
- Über das Meer (Küstenlinie zu Zeiten eines sehr niedrigen Meeresspiegels)
- Durch die Wüste (Niederschlag in trockenen Perioden)
- Die Anderen (Das Gewässernetz im Vergleich zwischen trockenen und sehr feuchten Perioden)
- Nichts ist, wie es war (Klima und Vegetation in trockenen Perioden)
- Literaturhinweise
- Kartengrundlagen und Daten
- Bildnachweise
Inhalt
Die Autorinnen und Autoren schreiben über ihr Buch:
„Die Graphic Novel“ erzählt die erfundene Geschichte der jungen Frau Aluru, die sich vor etwa 63.000 Jahren, also in der Mittleren Altsteinzeit, auf eine lange, abenteuerliche Reise begibt. Diese Geschichte fasst viele der Forschungsergebnisse des Sonderforschungsbereichs 806 „Unser Weg nach Europa beispielhaft zusammen.“ (S. 7)
Aluru, eine junge Frau, beginnt ihre langjährige Wanderung im Osten Afrikas von einem See in Äthiopien (Chew Bahir) in Richtung arabischer Halbinsel und durchquert Flusslandschaften, Wüsten, Gebirge und das Meer, begegnet fremden Menschen und wird mit vielen neuen Herausforderungen konfrontiert, die sie gut bewältigen kann. Danach kehrt sie zurück und findet viele Veränderungen vor.
Ihre Wanderung wird ständig kommentiert. So vermuten die Autoren z.B. „Die Gesellschaftsformen in der Steinzeit waren durchweg egalitär organisiert, ohne krasse Hierarchien. Einerseits galt nicht das ‚Recht des Stärkeren‘, bei dem sich derjenige mit der größten körperlichen Kraft gegen alle anderen durchsetzte und zum ‚Bestimmer‘ wurde. Andererseits war auch nicht die Person mit dem größten Besitz an Waffen überlegen, denn die Waffen, die existierten, konnte jede Person herstellen. So konnten auch körperliche Unterschiede ausgeglichen werden. Physische Kraft war zumindest nicht der einzig entscheidende Faktor, auch Geschicklichkeit, Schnelligkeit oder Taktgefühl und soziales Verhalten spielten eine Rolle. Die Menschen damals wussten vermutlich sehr gut, dass sie sowohl Teil einer menschlichen als auch nichtmenschlichen Gemeinschaft waren. Daher war die Fähigkeit zur Kooperation wohl sehr wichtig, wichtiger als individueller Besitz oder persönliche Leistung.“ (S. 36) Man kann sich bzgl. dieses Zitats fragen, ob die sozialen Verhältnisse in der sog. Westlichen Welt der Gegenwart einen humanen Fortschritt bedeuten?
Diskussionen
Carel van Schaik & Kai Michel (2023) heben zu Recht hervor, dass wir in unserem modernen Bildungsbewusstsein ein falsches Bild unserer Vergangenheit pflegen, weil wir allein ein einziges Prozent der Menschheitsgeschichte berücksichtigen.
„Unberücksichtigt bleiben sage und schreibe 99 Prozent der Menschheitsgeschichte. Das sind 2,5 Millionen Jahre, wenn man die Gattung Homo berücksichtigt, oder immerhin noch 300 000 Jahre, in denen der Homo sapiens existiert. Wir sind damit blind für die Wahrheit. Diese 99 Prozent aber sind unverzichtbar.“ … „Wie also sollen wir uns selbst verstehen, wenn uns die eigentliche Zeit des Menschseins unbekannt ist?“ (Schaik & Michel, 2023:22)
Es ist auch sehr verwunderlich, dass Frauen und ihre Lebenssituation bisher in der prähistorischen Forschung sowohl als Forscherinnen wie auch als Forschungsgegenstand eine sehr geringe Rolle gespielt haben (Androzentrismus der Archäologie). Diese Einseitigkeit der Forschung passt nicht mehr in die geistige Situation unserer Zeit. Mit diesem Thema hat sich grundlegend erstmalig die französische Prähistorikerin Marylène Patou-Mathis (2021) befasst. Sie schreibt:
„‘Die gesamte Geschichte der Frau wurde von Männern geprägt‘, schrieb Simone de Beauvoir (2000:179). Es überrascht nicht, dass der Blick auf die prähistorischen Menschen männlich ist. Die ersten Vorgeschichtler wandten auf ihr Studienobjekt das patriarchale Modell der Geschlechterrollen an. Diese gegenderte Perspektive findet sich noch Anfang der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – einer Zeit, in der die Erforschung der menschlichen Evolution hauptsächlich Männern vorbehalten blieb. Die anthropologischen, prähistorischen und archäologischen Forschungen dürfen als androzentrisch bezeichnet werden, denn die sozialen Beziehungen, innerhalb derer sich Frauen bewegten, wurden nur selten berücksichtigt (vgl. N.-Cl. Mathieu, 1991). Davon zeugt das in den 1950er- Jahren entwickelte Modell des ‚männlichen Jägers‘, der als Haupternährer der Gemeinschaft und Erfinder von Werkzeugen und Waffen galt. Der Mann sei demnach der Hauptkatalysator der Menschwerdung oder gar der ‚Humanisierung‘“. (Patou-Mathis, 2021:11) Es war daher sinnvoll und innovativ eine Frau (Aluru) ins Zentrum der Geschichte zu stellen.
Sehr gut gelungen und didaktisch wertvoll und lehrreich ist auch die begleitende Kommentierung der mit Sprechblasen versehenen Geschichte Alurus in die Kategorien „was wir wissen“, „was wir vermuten“ und „was wir nicht wissen“. Hier lernen wir gelebte Prähistorie. Wichtig ist auch, dass das Buch die bedeutende Rolle, die Frauen in der Prähistorie gespielt haben, hervorhebt (vgl. Patou-Mathis, 2021; zdfinfo Doku, 2022; Stubbe, 2024:51ff).
Aluru als Identifikationsfigur ist gut geeignet die Leserinnen zu motivieren weiterzulesen.
Von einer Graphic Novel erwartet man eigentlich, dass die Bilder schön und ansprechend gestaltet sind (vgl. z.B. Conard & Wertheimer, 2010), insbes. wenn es sich um didaktisches Material handelt. Dies ist leider nicht immer gelungen. Warum müssen prähistorische Menschen hässlich dargestellt werden? Möglicherweise waren die prähistorischen Menschen sogar schöner als die rezente Menschheit. In der antiken Bevölkerung waren z.B. ein Apollo von Belvedere oder eine Venus von Milo so selten wie weiße Raben. Konrad Lorenz sprach zivilisationskritisch in der Gegenwart bekanntlich von der „Verhausschweinung des (Kultur-) Menschen“. Eine ästhetisch anspruchsvollere Darstellung wäre für die (jungen) Leser und Leserinnen sicher attraktiver gewesen. Warum hat man keine Künstlerin engagiert?
Obwohl die Autorinnen und Autoren häufig eine psychologische Terminologie verwenden (vgl. z.B. Animismus (S. 16), Rituale (S. 18), Vorstellungsvermögen und Fantasie (S. 28), Mythen und Legenden (S. 106), Aggression (S. 112), Kunst (S. 120), Symbole (S. 130), Beziehungen (S. 144), Emotionen (S. 146), Gefühle (S. 158), etc.), bedienen sie sich nicht der neuen Erkenntnisse der Paläopsychologie (vgl. z.B. Stubbe, 2024). Man sollte vielleicht mehr Interdisziplinarität wagen!
Fazit
Das gut lesbare Buch macht neugierig, wie die Geschichte der Aluru weitergeht. Es ist für alle Leser und Leserinnen, die sich für die Prähistorie und für ihre gegenwärtigen Forschungsergebnisse interessieren, insbesondere auch für den Schulunterricht gut geeignet.
Literatur
Conard, Nicholas J. & Wertheimer, Jürgen (2010). Die Venus aus dem Eis. Wie vor 40.000 Jahren unsere Kultur entstand. München: Knaus, 2. Aufl.
Evans, Kate (2018): Rosa. Die Graphic Novel über Rosa Luxemburg. Berlin: Dietz, 2. Aufl.
Knights, Charles R. (2001, [1946]): Life through the ages. New York
Kort, Pamela & Hollein, Max (Hrsg.) (2009): Darwin. Kunst und die Suche nach den Ursprüngen. Katalog. Schirn Kunsthalle. Frankfurt/M.: Wienand
Pääbo, Svante (2024). Die Neandertaler und wir. Meine Suche nach den Urzeit-Genen. München: DVA
Patou-Mathis, Marylène (2021): Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann. München: Hanser
Schaik, C. van & Michel, K. (2023): Mensch sein. Von der Evolution für die Zukunft lernen. Hamburg: Rowohlt
Schrenk, Friedemann (2019): Die Frühzeit des Menschen. Der Weg zum Homo sapiens. München: Beck
Stubbe, Hannes (2023): Wie intelligent war der Neandertaler? Eine paläopsychologische Skizze. In: Stubbe, H. & Frenken, R. (Hrsg.) (2023), Paläopsychologie. Lengerich: Pabst, S. 139–155
Stubbe, Hannes (2024): Paläopsychologie. Eine kommentierte Bibliografie. Düren: Shaker
Tardi – Verney (2008): Elender Krieg 1914–1918. 2 Bde. Zürich: Edition Moderne
Zdfinfo Doku (28.12.2022): Lady sapiens. Auf den Spuren eines Steinzeit-Mythos.
Rezension von
Prof. Dr. Hannes Stubbe
Mailformular
Es gibt 6 Rezensionen von Hannes Stubbe.