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Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie

Rezensiert von Thomas Barth, 30.12.2024

Cover Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie ISBN 978-3-518-58811-6

Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2024. 348 Seiten. ISBN 978-3-518-58811-6. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR, CH: 45,90 sFr.

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Thema

Viele sagen, unsere Gesellschaft sei krank. Welchen Arzt könnte man rufen? Michel Foucault erklärt uns: Den Philosophen. Seit Beginn der griechischen Philosophie laute deren Ziel „interpretieren und heilen“. Dies überrascht, gilt Foucault doch als harter Kritiker etwa der Kriminologie, Psychologie und Psychiatrie. In jungen Jahren selbst psychiatrisiert, entwickelte er eine Machttheorie, die Zugriffe der Gesellschaft auf das Subjekt kritisiert -besonders vordergründig Wohlmeinende. Seine Konzepte sind heute ein Bestandteil vieler Ansätze in Pädagogik, Sozial- und Pflegewissenschaften, Queer- Gender- und Disability Studies (Kammler/Parr 2007). Ungekürzte Fassung auf Netzhphilosophie.

Autor und Hintergrund

Michel Foucault (1926-1984) lehrte ab 1970 am renommierten College de France in Paris, war sozialpolitisch engagiert und gilt heute zunehmend als einer der wichtigsten Denker des 20.Jh. Das schon 1966 verfasste Buch wurde nie publiziert, posthume Publikationen waren testamentarisch untersagt, doch die Nachlassverwalter setzen sich seit einigen Jahren darüber hinweg. Das vorliegende Buchmanuskript fällt zwischen Foucaults bahnbrechendes Buch „Die Ordnung der Dinge“, das ihn international auch als Widersacher Sartres berühmt machte, und dessen Fortsetzung „Die Archäologie des Wissens“.

Aufbau und Inhalt

Einem Vorwort, editorischen Anmerkungen, 15 Kapiteln mit Fuß- und Endnoten folgt ein Anhang mit Notizen Foucaults und einer einordnenden „Situierung“. Die Endnoten liefern biographische, zeitgeschichtliche, theoretische Hintergründe. Die Kapitel im Detail:

1. Die Diagnose führt die Philosophie als diagnostisches Unternehmen ein, nach Nietzsche solle sie „Arzt der Cultur“ sein (S. 17), könne aber nicht heilen, sondern nur „sagen, was ist“ (ebd.).

2. Jetzt erklärt das „Heute“ des Philosophen, der in der Triade des „Ich-Hier-Jetzt“ den Alltagsdiskurs überschreitet und sich von Literatur und Wissenschaft abgrenzt. Endnote 2 ordnet Foucaults Ansatz theoretisch zwischen Philosophie und Philologie ein.

3. Der philosophische Diskurs und der wissenschaftliche Diskurs grenzt Philosophie von Wissenschaft ab, deren Erkenntnisse nicht so eng an das sprechende Subjekt gebunden seien.

4. Fiktion und Philosophie grenzt Philosophie von Literatur bzw. Fiktion ab, deren Werke zwar auch an das sprechende (zuweilen fiktive) Subjekt gebunden seien, aber nicht dazu bestimmt, wahr zu sein (S. 52); Philosophie ziele vordringlich auf Wahrheit, Vernunft und das Wesen des Subjekts (S. 60).

5. Die Philosophie und der Alltag grenzt Philosophie vom Alltagsdiskurs ab, da sie eine kritische Funktion ausübe, alles „was stumm ist“ in eine Rede übertrage, zur „Kritik allen Wissens“ werde, zum „Diskurs aller anderen Diskurse“ (S. 77).

6. Die Geburt des philosophischen Diskurses vertieft die These der Singularität des philosophischen Diskurses: Literatur, Wissenschaft und Gott selbst hätten „anders zu sprechen“ begonnen (S. 96).

7. Die allgemeine Anordnung des philosophischen Diskurses entwickelt dessen vier Grundaufgaben und Funktionen (Begründung, Interpretation, Kritik, Kommentar) und entlang dieser Hauptlinien das „gesamte Netz des philosophischen Diskurses“ (S. 105).

8. Die zwei Modelle des Diskurses zeigt zwei philosophische Serien von Wahlmöglichkeiten anhand der vier Diskursfunktionen auf: Modell Eins steht im Ergebnis für Philosophie, die sich auf dem Weg linearen Fortschritts zu universalen Wahrheiten und aufgeklärten Werten glaubt; Modell Zwei eröffnet in den „Beziehungen des Subjekts und der Geschichte ein unendliches Labyrinth“ und eine „unaufhörliche Unruhe“ (S. 141 f.).

9. Philosophie, Metaphysik, Ontologie erörtert die beiden Modelle in ihren Beziehungen zu Ontologie und Metaphysik; 1. die vorkantische Philosophie der Enthüllung als Metaphysik der Repräsentation und Ontologie innerhalb des Diskurses; 2. die nachkantische Philosophie der Manifestation als Anthropologie und Ontologie; damit stehe Kants Werk „genau im Zentrum, im Gleichgewichtspunkt der gesamten abendländischen Philosophie“ (S. 165).

10. Beschreibung der Philosophie zeigt vier Haupttypen der Philosophiegeschichte als funktionale Elemente des philosophischen Diskurses und grenzt Foucaults eigenen Ansatz davon ab, der die Philosophiegeschichte in seiner funktionalen Beschreibung der Philosophie als Teil derselben einbezieht.

11. Der neue Wandel fragt nach der Legitimation des Ansatz von Foucault selbst; mit Nietzsche könne die Philosophie sich an der Poesie orientieren, eine „Zersplitterung des philosophierenden Subjekts“ (S. 216) lege nahe, „den Philosophen als reale Figur zu entlassen und aus seiner inhaltsleeren Identität eine Vielheit von Masken oder Gesichtern hervorgehen zu lassen“ (S. 213).

12. Denken nach Nietzsche erörtert die postnietzscheanische Neuordnung der Diskurse.

13. Das Archiv stellt die Frage nach der Sprache und postuliert die Konstituierung eines integralen Archivs als kultureller Form der Auswahl und Zirkulation der Diskurse; Kultur sei ein Netz von Beziehungen, das Sprechakte, Formen des Diskurses, Objekte, Materialien, Institutionen zu einem Diskurs-Archiv verbinde; es bilde ein System der Zwänge von Sprache und Geschichte, seine Gesetze untersucht die Disziplin der Archäologie (S. 262).

14. Die Geschichte des Diskurs-Archivs verdeutlicht die Unmöglichkeit für jede Kultur, aus dem System ihres Diskurs-Archivs auszubrechen; die Archäologie als „Analyse des Diskurs-Archivs fungiert als eine Art immanente Ethnologie“ unserer Kultur (S. 267).

15 Der heutige Wandel führt den Begriff des „integralen Archivs“ ein, das die heutige Kultur auszeichne; sie habe sich die Aufgabe gestellt, „im Grunde alles vom Diskurs aufzubewahren“ (282); die Diskursivität, durch die sich nunmehr die Erfahrung definiere, komme „immer nur dem Diskurs selbst zu“ (S. 290); Fußnote a enthält eine offenbar verworfene Variante des letzten Kapitels, die verstärkt auf den Systembegriff setzt und sich abschließend auf Wittgenstein beruft (S. 292).

Der Anhang enthält einige Notizen Foucaults, darunter recht instruktive Tabellen seines funktionalen Diskursmodells, und die „Situierung“ von Orazio Irrera und Daniele Lorenzini (S. 305–345). Die beiden Editoren bescheinigen Foucault eine „entschieden originelle Antwort“ auf die seinerzeit heiß diskutierte Frage: „Was ist Philosophie?“ Foucault stelle im vorliegenden Buch die Philosophie als spezifische Art von Diskurs in seiner eigenen Aktualität dar; der Mythos einer Geschichte, die „von einem geheimen Ursprung zur Klarheit eines Horizonts verläuft“ könne verworfen werden (S. 324); es ginge Foucault „sein ganzes Leben lang“ darum, so ihr Schlusssatz, „seine eigene Kultur -und uns- in eine Falle zu locken, um die Möglichkeit zu eröffnen, anders zu denken und zu leben.“

Diskussion

Foucault habe wenig über Philosophie geschrieben, begann 1991 der Foucault-Kritiker Rudi Visker seine Abrechnung mit den Widersprüchen, in die sich Foucault verwickelt habe. Das „Foucault-Lexikon“ kennt nur das Stichwort „Philosophie (praktizierte)“, für das es ganze vier Absätze übrig hat und Foucault so zitiert: „vielleicht ist Philosophie die allgemeinste kulturelle Form, in der wir darüber nachdenken können, was der Westen ist.“ (S. 165) Das größte Hindernis für die deutsche Foucault-Rezeption war die Polemik, die Jürgen Habermas 1985 mit „Der philosophische Diskurs der Moderne“ vorlegte -eine Abrechnung mit der französischen Postmoderne, als deren technokratische Ausgeburt er die Systemtheorie Niklas Luhmanns sah. Insbesondere mit Foucaults Machttheorie ging Habermas hart ins Gericht, suchte Foucault in die Nähe des in Deutschland mehr als in Frankreich als Nazi-Philosophen gesehenen Heideggers zu rücken. Habermas‘ Nachfolger, Axel Honneth, schien 2003Abbitte dafür leisten zu wollen, grenzte Foucault pointiert von Heidegger ab, stellt ihn in die Tradition des späten Wittgenstein. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, so Honneth, hätte bei unvoreingenommener Auseinandersetzung viel früher von den Einsichten Foucaults lernen können. 1988 hatte sich Honneth selbst noch polemisch an Foucault gerieben, dessen Machttheorie habe „am Ende zu einer systemtheoretisch reduzierten Version der Dialektik der Aufklärung verkümmern“ müssen (S. 142).

Die von Suhrkamp als „kleine Sensation“ gefeierte Publikation des Diskurses der Philosophie zeigt das ungebrochene Interesse einer immer noch wachsenden Leserschaft an einem Denker, der gegenwärtige Machtregime mit seiner Kritik ins Mark traf und viele Menschen zum Widerstand motivierte. Das Buch, das der „Philosoph mit der Maske“ seinen zeitgenössischen Lesern offenbar vorenthalten wollte, ist unter anderem eine tiefgreifende Begründung seiner Ablehnung jeglicher „Großtheorien“, mit denen „Großdenker“ wie Habermas auf die universale Geltung westlicher Werte und ihrer globalen Normativität pochen. Foucault verweist demgegenüber auf die Verstrickung des erkennenden Subjekts in das Labyrinth seiner eigenen und der Geschichte der Philosophie, der allgemeinsten kulturellen Form, „in der wir darüber nachdenken können, was der Westen ist“. Die vermeintlich ewigen Werte westlicher Aufklärung, ihrer liberalen Demokratien -die er keineswegs ablehnt, sondern nur deren Unwilligkeit zu Analyse und Selbstkritik eigener Machtstrukturen-, verblassen für Foucault hinter „dem Ereignis“, das man vielleicht heute mit den Namen Guantanamo oder Belmarsh (wo man Julian Assange gefangen hielt) bezeichnen könnte.

Fazit

Das nicht einfache, aber elegant formulierte Buch stellt Foucaults Diskursanalyse der Philosophie in die Traditionen Kants und Nietzsches. Mit seiner auf eine Gegenwartsdiagnostik zielenden Argumentation richtet sich das Buch an Studierende der Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften, aber auch an Interessierte anderer Fachrichtungen.

Literatur

Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, Suhrkamp Verlag

Honneth, Axel: Foucault und Adorno: Zwei Formen einer Kritik der Moderne, in: Peter Kemper (Hg.): „Postmoderne“ oder der Kampf um die Zukunft. Die Kontroverse in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988, Fischer Verlag, S. 127–144

Honneth, Axel u. Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt/M. 2003, Suhrkamp Verlag

Kammler, Clemens und Rolf Parr: Foucault in den Kulturwissenschaften: Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007, Synchron Verlag

Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1974, Suhrkamp Verlag

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, Suhrkamp Verlag

Foucault, Michel: Der Diskurs der Philosophie, Berlin 2024, Suhrkamp Verlag

Visker, Rudi: „Foucault“: Genealogie als Kritik, München 1991, UTB W.Fink Verlag

Rezension von
Thomas Barth
Dipl.-Psych, Dipl.-Krim.
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Es gibt 21 Rezensionen von Thomas Barth.

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Zitiervorschlag
Thomas Barth. Rezension vom 30.12.2024 zu: Michel Foucault: Der Diskurs der Philosophie. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2024. ISBN 978-3-518-58811-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/33045.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.


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