Tyler Traister (Hrsg.): Pflege von LGBTQ+-Personen
Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 06.06.2025

Tyler Traister (Hrsg.): Pflege von LGBTQ+-Personen. Wie man eine diversitätssensible pflegerische Versorgung sicherstellt. Hogrefe AG (Bern) 2024. 240 Seiten. ISBN 978-3-456-86329-0. D: 40,00 EUR, A: 41,20 EUR, CH: 52,50 sFr.
Autor
Tyler Traister ist ein amerikanischer Pflegewissenschaftler. Er arbeitet an der Quinnipiac University in Connecticat, USA.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist in den USA 2022 erschienen und hat den American Journal of Nursing Book of the Year Award gewonnen. Für die deutschsprachige Ausgabe wurde es von den Andreas Pfister, Kathrin Kürsten und Roland Brühe bearbeitet, die selbst im gesundheits- und pflegewissenschaftlichen Bereich tätig sind.
Inhalt
Das Vorwort beginnt mit der Zielsetzung des Autors: „Ich habe dieses Buch geschrieben, um Pflegefachpersonen (…) das für die gesundheitliche Versorgung der LGBTQ-Population erforderliche Wissen und Verständnis zu vermitteln.“ Dem folgt im 1. Kapitel ein Lexikon mit Erläuterungen zum Begriffsumfeld der LGBTQ+. Das 2. Kapitel schlägt einen historischen Bogen und gibt einen knappen Überblick über die Diskriminierungs- und die Emanzipationsgeschichte der Betroffenen. Im 3. Kapitel erläutert Traister die Begriffe „Sexuelle Orientierung“, „Geschlechtsidentität“ sowie den lebenslangen Prozess des „Coming-out“. Die Fähigkeit, besondere Menschen in besonderen Lebenslagen zu verstehen, wird im 4. Kapitel als Teil der Persönlichkeitsentwicklung vorgestellt und auf die Pflege von LGBTQ+ übertragen. Ein Assessment der „kulturellen“ und „transkategorialen“ Kompetenz für diesen Bereich schließt dann den 1. Teil ab.
Im 2. Teil stehen Gesundheit und Gesundheitsverhalten von LGBTQ+-Personen im Mittelpunkt. Themen sind hier Stigmatisierung, Diskriminierung, Minderheitenstress und die Risikofaktoren Substanzmittelkonsum, Wohnungslosigkeit, Suizid, Trauma u.a. Ein Exkurs berichtet über die gesundheitliche Situation der Betroffenen in der Schweiz, die in mehreren Bereichen wie psychische Gesundheit, Gewalterfahrungen, sexuelle Gesundheit hinter der der Allgemeinbevölkerung zurückbleibt.
Der 3. Teil ist der pflegerischen Versorgung gewidmet. Er beginnt mit einem Kapitel über Vorurteile in der Pflege und zeigt, wie sich Vorurteilsstrukturen weit über LGBTQ+ hinaus finden lassen. Praktische Hilfe bieten die „Tipps für den Umgang mit Vorurteilen“ zum Ende des Kapitels. Vorgeschlagen werden die Übung der Selbstwahrnehmung, das achtsame Sprechen, die gegenseitige Unterstützung im Team und die allgemeine Suche nach Information sowie der Kontakt zu LGBTQ+. Wie zudem die pflegerische Arbeit durch eine affirmierende Kommunikation unterstützt werden kann, wird im folgenden Kapitel behandelt.
Konkrete pflegerische Besonderheiten werden zu folgenden Handlungsfeldern besprochen:
- Anamnese und körperlichen Untersuchung,
- Pflege von Transgender,
- Hormontherapie,
- die Arbeit mit LGBTQ+-Jugendlichen und
- mit älteren Menschen.
Der 4. Teil behandelt allgemeinere Themen und Rahmenbedingungen. Es geht um die Aufgabe einer inklusiven Umgebungsgestaltung, um Rechtsfragen, den Zugang zur Gesundheitsversorgung, den Gleichstellungsindex und seine Bedeutung für stationäre Gesundheitseinrichten und – zum Abschluss – um die Integration von LGBTQ+-Inhalten in die Aus- und Weiterbildung der Pflege und die Aufweichung von heteronormativen Curricula.
Diskussion
Traister liefert Informationen zum Thema LGBTQ+, um mit einem reichhaltigen Kontextwissen auch für diese Klientel eine individualisierte Pflege zu ermöglichen. Er bietet mit Gesprächsmodellen Lösungen für schwierigere Kommunikationssituationen an und liefert mit zahlreichen Fallvignetten, die in mehreren Aspekten diskutiert werden, auch Unterrichtsmaterial, das für die fachliche und die persönliche Entwicklung der Pflegestudierenden gut eingesetzt werden kann. Das Herzstück des Buches bildet der 3. Teil, in dem die spezifischen medizinischen Themen wie die Hormontherapie mit Bezug auf Pflegeaufgaben ausführlicher dargestellt werden. Insofern erfüllt das Buch den oben genannten Anspruch des Autors, dennoch ist der Gesamteindruck nicht sehr überzeugend.
Ein erstes, vielleicht kleineres Problem ist die eher geringe Informationsdichte. Das Buch hat den Anspruch eines wissenschaftlichen Fachbuchs, dabei entspricht die Informationsdichte nur dem Mittelstufenniveau. Die Trivialitäten in vielen der völlig verzichtbaren „Fast-Facts“-Kästchen belegen das schlaglichtartig.
Ein weiterer Punkt ist der enge Bezug zum US-amerikanische Gesundheitssystem, der für die deutschsprachige Ausgabe beibehalten wurde. Die Herausgeber haben sich bewusst auf minimale Anpassungen beschränkt und das Buch mit Exkursen ergänzt, statt den Text grundlegend zu überarbeiten. So bleibt das deutlich andere und weitere Aufgabenfeld der Pflege in den USA der Bezugspunkt auch in der deutschen Ausgabe und der Text präsentiert Hinweise dafür, wie die Schulkrankenpflege mit LGBTQ+-Jugendlichen arbeiten könnte, obwohl es zumindest in Deutschland keine Schulkrankenpflege gibt. Es wird auch von der Medikamentenverschreibung durch die Pflege gesprochen oder von der Bedeutung des Gleichstellungsindex für die Akkreditierung durch die Joint Commission, deren Bedeutung in Europa eher marginal ist. Auch eine Hilfestellung für den Zugang zu einer Krankenversicherung wird als Aufgabe der Pflege dargestellt. Dabei ist dieser Zugang im DACH-Bereich kein strukturelles Problem, wohl aber in den USA. Der Affordable Care Act („Obamacare“), der mehrfach angesprochen wird, ist für Amerikanisten von Interesse, aber sonst ist dieses innenpolitische Problem der USA für die Ausbildung oder das Studium der Pflege im Bereich DACH erfreulicherweise ohne Relevanz.
Schließlich versucht Traister, die Pflege für die Emanzipation der LGBTQ+ zu vereinnahmen. Dieser Instrumentalisierung schließen sich die Herausgeber mit ihrer Forderung an, das Buch solle Pflichtlektüre für alle werden. Traisters Argumentation dazu findet sich unter anderem auf S. 213. Hier fragt der Autor rhetorisch, warum soll sich die Pflege eigentlich für die Rechte von LGBTQ+-Menschen einsetzen? Die Antwort lautet: Weil die betreffenden Personen aufgrund gesundheitlicher Ungleichheit einen Anspruch auf Gesundheitsförderung stellen können, dem sich die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen nicht verschließen darf. Dabei erläutert Traister durchaus, dass es Randgruppen und Ausgrenzung auch über LGBTQ+ hinaus gibt. Entgegen dem Partikularinteresse von Autor und Herausgebern müsste eigentlich zwischen allen Anspruchsgruppen abgewogen werden, wenn sich nicht alle Randgruppen in gleicher Weise berücksichtigen lassen. Didaktisch gewendet kann man auch sagen: Für Ausbildung und Studium müssen Entscheidungen getroffen werden, welche Inhalte wirklich unverzichtbar sind. Diese Entscheidung sollte man an der Bedeutung von Randgruppen und deren gesundheitlicher Situation orientieren. Wirklich verpflichtend erscheint dann eher die Thematisierung von Vorurteilsstrukturen und die Förderung von Verständnis gegenüber psychisch Kranken und psychisch Behinderten, die nicht nur mittelbar durch Randgruppenstress von Gesundheitsproblemen betroffen sind. Wohlgemerkt, es geht hier nicht um ein Ausspielen einer Randgruppe gegen eine andere. Es geht um die Frage, welche Inhalte so essenziell für die Pflege sind, dass man wirklich sagen kann, dafür muss sich die Pflege einsetzen. Traisters Anliegen ist sicher unterstützungswürdig, aber das Buch ist keine „Pflichtlektüre für alle“.
Fazit
Nicht ganz gelungenes Buch zur Förderung des Verständnisses für LGBTQ+-Diversität in der Pflege, das sein legitimes Anliegen zu sehr verallgemeinert und überdies zu stark auf das Gesundheitssystem in den USA bezogen ist.
Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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