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Anne-Christine Schmidt: Albtraum Wissenschaft

Rezensiert von Thomas Barth, 31.12.2024

Cover Anne-Christine Schmidt: Albtraum Wissenschaft ISBN 978-3-86485-286-2

Anne-Christine Schmidt: Albtraum Wissenschaft. Ein Erfahrungsbericht. Textem Verlag 2023. 155 Seiten. ISBN 978-3-86485-286-2. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR.
Reihe: Kleiner Stimmungs-Atlas in Einzelbänden - Band 34.

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Thema

Unternehmen klagen über den Fachkräftemangel, unsere Gesellschaft, unser Bildungssystem produzieren zu wenig qualifizierten Nachwuchs. Doch straffe Hierarchien, prekäre Arbeitsbedingungen, jahrzehntelange Befristung und Machtmissbrauch im Wissenschaftsbetrieb machen die Universitäten manchmal zum Albtraum für Post-Docs. Das Beispiel einer anfangs enthusiastischen Studentin, später beinahe habilitierter Privatdozentin dokumentiert Karrierewahn, bis zu Hass und Sabotage gesteigertes Konkurrenzverhalten, Mobbing durch konspirierende Kolleg:innen, bürokratische Leitungen und selbstherrliche Professor:innen. Die Wissenschaft wird hinsichtlich ihrer menschenfeindlichen Organisation, aber auch ihrer generellen Achtlosigkeit gegen Mensch, Natur und Umwelt einer scharfen Kritik unterzogen.

Autorin und Hintergrund

Dr. rer. nat. Anne Christine Schmidt studierte Biologie, promovierte und ging als Post-Doc in die Forschung, wo sie neun Jahre lang für ihre Habilitation arbeitete, bevor sie durch ihren Beruf physisch und psychisch erkrankte und sich stattdessen der Arbeit als Gärtnerin widmete. Ihr Ausstieg erfolgte im Alter von 39 Jahren, nachdem ein ihr übel gesonnener Habil-Gutachter sein Gutachten offenbar im Einklang mit Universität und Institut jahrelang verschleppte und ihre Habilitierung mit allen Mitteln hintertrieb. Ihre als Albtraum erlebten Erfahrungen im Berufsfeld Wissenschaft beschrieb sie im vorliegenden Buch: „Ich arbeitete seit dem Beginn meiner Promotion wie eine Besessene an meinen Forschungen, veröffentlichte Publikation auf Publikation, kämpfte um Forschungsgelder und sprang von Stelle zu Stelle.”

Aufbau und Inhalt

Einem Vorwort und 22 Kapiteln folgt das Literaturverzeichnis; die Kapitelüberschriften zeichnen die akademische Karriere der Autorin nach: Biologiestudium. Naturverbundenheit stößt auf Wissenschaft: Die goldene Zeit. Vom Promovieren und Projektbeantragen; Das ungrüne Pflanzeninstitut mit dem Drogenhersteller. Labortechnik, Chaos, Rechtlosigkeit; Das Institut des Monsterprofessors. Kalbshirne und Drangsalierungen; Ein kurzes Aufflammen guter wissenschaftlicher Arbeit; Das Institut der Professorenfreundin, der Hirsch-Index, die Gutachter und das Publizieren; Das Institut, das mir einen glorreichen Beginn und ein schreckliches Ende bescherte; Geräteherrscherinnen und Gerätefieber; Von Sprühnadeln und Polaritätswechseln: Der Themenklau; Der Folgeantrag und das Intermezzo mit der Haushaltsstelle. Anspannungs- und Angstzustände, Arbeitsschutz und Großgeräte; Wie ich die Gunst meines Habil-Papas verlor. Was ist eigenständige Forschungstätigkeit, Co-Autor*innen und die Huldigung ranghöherer Wissenschaftler*innen; Ich rette mich von der Haushaltsstelle auf die nächste Projektstelle. Erpressungsversuche, Arbeitszeitregelung, Fehltage, Dienstreisen, Atembeschwerden; Explosion geballter negativer Energie. Drohbriefe, Diffamierungen, Mobbing; Einzelzimmer; Das verspätete Habil-Gutachten, Flucht aus dem System; Coda. Was übrig bleibt; Ökologische Aspekte naturwissenschaftlicher Forschungsarbeit. Hochleistungstechniken, Stromverbrauch, Gifte; Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz und die Industrie; »Wagnis Wissenschaft«; Die zwingend erforderliche Arbeitswut und der Reproduzierbarkeitswahn; Nötige Voraussetzungen für eine Karriere im Wissenschaftssystem; Die arbeitslose Wissenschaftlerin. Rückkehr zur Naturverbundenheit; Literaturverzeichnis.

Schon das erste Kapitel „Das Biologiestudium. Naturverbundenheit stößt auf Wissenschaft” zeigt grundsätzliche Kritik der Autorin an methodischer Entfremdung, am Umgang mit der Natur und ethische Bedenken hinsichtlich des Tierschutzes: Ein wichtiger Grund für ihre Spezialisierung auf Botanik. Die digital entfremdete Wissenschaft verbrauchte 2012 Jahr allein im Freistaat Sachsen 73.000 Tiere für wissenschaftliche Zwecke. Schon im zoologischen Grundpraktikum des Biologie-Grundstudiums würden Ratten und Frösche getötet und, zum Zwecke des Studiums ihrer Eingeweide, zerstückelt, oder „um an einem herausgerissenen Beinchen elektrisch ausgelöste Zuckungen zu beobachten” (S. 11).

Eine technisierte Naturwissenschaft entferne sich von der Natur und preise sie zugleich als ihr Untersuchungsobjekt. Die von ihr zu lösenden Probleme seien auch Folge unserer industrialisierten Lebensweise: „Erst verdrecken wir die Natur und dann wühlen wir im eigenverschuldeten Dreck herum, um diesen genauestens zu charakterisieren und uns viel darauf einzubilden, wie großartig wir dazu in der Lage sind.” (S. 14) Im nächsten Kapitel folgt die „Goldene Zeit” ihrer Doktorarbeit, in der sich das -bis auf den Tierschutz- glückliche Studium fortsetzte. Die „Technomanie” strahlte zwar in „aseptischem Glanz” (S. 18), aber die Forschung an der Wirkung von Arsen auf das Pflanzenwachstum in verseuchten Böden war auch eine sinnvolle Tätigkeit. Danach als Post-Doc begann das institutionelle Elend: Die Jagd auf immer nur ein bis zwei Jahre befristete Stellen, bis man „schließlich aus dem System entsorgt” wird (S. 21) in einer oft unangenehmen Laborwelt.

Kapitel Drei „Das Institut des Monsterprofessors. Kalbshirne und Drangsalierungen“ beschreibt einen anscheinend psychopathischen Professor als Vorgesetzten, der die Autorin durch fortgesetztes Mobbing in die Krankmeldung treibt. Selber fachlich unfähig, verlangt er von seinen Untergebenen höchsten Einsatz und die Kompetenzen, die ihm selbst fehlen. Demütigende Kritik, unfaire, herabwürdigende Beurteilungen und aggressive Beschimpfungen sind sein Kommunikationsstil, der die Autorin zuerst in widerständige Opposition und dann, auch mangels solidarischer Kolleg:innen, in eine psychische Krise treibt. Zuvor hatte sie bei diversen Institutionen und Personen um Hilfe nachgesucht: Der Ombudsmann für wissenschaftliches Fehlverhalten riet zu mehr Freizeit mit den Kollegen, die sich am Mobbing jedoch teils begeistert beteiligten. Die Frauenbeauftragte, eine Chemieprofessorin, erzählte ihr zum Trost von der eigenen, gescheiterten Ehe „und wie auch sie unter den Männern leiden musste“. „Die Gleichstellungsdame der Fakultät ermahnte mich, die geschilderten Zustände bloß nicht weiterzuerzählen.“ (S. 39)

Doch es kommt noch schlimmer: Ein glücklich ergattertes Habil-Stipendium der DFG führt ins Dilemma der Mikrophysik akademischer Macht. Zunächst geht es um den kleinlichen Kampf um Zugang zu teuren Laborgeräten; eine Kollegin nennt die Autorin die „Geräteherrscherin”, weil sie den Zugang kontrolliert und willkürlich verweigert. Dann um die Jagd nach Publikationen, die den eigenen „1Hirsch-Index” hochtreiben, einen bibliometrischen Wert aus Anzahl der Artikel und Impact-Faktor der betreffenden Fachzeitschrift (S. 52). Schließlich um die Nennung ihres “Habil-Papa” genannten Professors bei ihren Fachpublikationen. Das Mobbing am Institut läuft über Gerüchteverbreitung, Beschwerdebriefe an Vorgesetzte, Verleumdungen, Beleidigungen bis hin zu einem anonymen Drohbrief, der sogar die Polizei beschäftigt. Die Forschungsarbeit leidet wie auch die Nerven der Biologin, die am Ende trotz genug Lehre und Forschung, ausgewiesen durch zahlreiche Fachartikel, sowie bester Bewertung durch zwei externe Professoren von ihrem eigenen Habil-Betreuer um die Karriere gebracht wird.

Ihr Fazit ist erschreckend: Das Wissenschaftssystem sei durch steile Hierarchien geprägt, weshalb für eine erfolgreiche Wissenschaftslaufbahn (für Naturwissenschaftler:innen) folgende Eigenschaften als förderlich zu notieren wären: schwere Computersucht; Fähigkeit zum Denken in starren Mustern und Bahnen; gedankenlose Verantwortungslosigkeit gegenüber Natur und Mitmenschen; Bereitschaft zur kritiklosen Affirmation des naturentfremdeten, naturzerstörenden wissenschaftlichen Systems; Fähigkeit zum Übersehen und Wegerklären von Forschungsergebnissen, die nicht ins derzeitige Wissenschaftsmodell hineinpassen; ausgeprägtes Konkurrenzdenken, das sich bis zum Kolleg*innenhass steigert; uneingeschränktes Untertanentum hinsichtlich des Umgangs mit Professoren und Arbeitsgruppenleitern sowie bedingungslose Unterordnung unter ihre Anweisungen; freiwilliges unwidersprochenes Übernehmen unentgeltlicher Aufgaben; widerspruchslose Akzeptanz vollkommener Recht-, Perspektiv- und Bedeutungslosigkeit der eigenen Person; Erdulden völliger Nichtigkeit der eigenen Ausbildung, Qualifikation und Arbeitsleistung (S. 148 f.).

Diskussion

Anne Christine Schmidt hat in ihrer mutigen Beschreibung aus einem Nähkästchen geplaudert, über das Wissenschaftler gewöhnlich den Mantel des Schweigens breiten. Man glaubt beinahe, es mit einer absonderlichen Sekte zu tun zu haben, die von ihren Jüngern totale Unterwerfung erwartet und ihnen eine Gehirnwäsche zuteil werden lässt. Dabei geht es um gesellschaftliche Privilegien, reiche Pfründe und großes öffentliches Ansehen, für das mit unfairen Mitteln gekämpft wird. Beispiel Publikation: Professoren, Laborleiter usw. erwarten sehr oft bei Fachartikeln als Autoren genannt zu werden, ohne echte Mitarbeit, nur für ein „Korrekturlesen”. So kommen absurd lange Publikationslisten zustande, die nicht auf wissenschaftliche Kompetenz oder Forscherfleiß verweisen, sondern auf skrupellosen Machtmissbrauch.

Bei der DFG hatten einige Begutachter dieses Problem des Machtmissbrauch zwecks wissenschaftlich-publizistischen Schmarotzertums scheinbar erkannt. Man forderte mehr „eigenständige Forschungstätigkeit” unserer Habilitandin dergestalt, dass sie ihrem Professor nicht mehr diese übliche Huldigung ranghöherer Wissenschaftler*innen zuteil werden lassen solle. Im Kapitel „Wie ich die Gunst meines Habil-Papas verlor” beschreibt sie, wie dieser darauf sauer reagierte und ihr das Leben zur Hölle machte. Der DFG-Gutachter hatte womöglich nicht bedacht, dass die Huldigungen mit nicht gerechtfertigten Autorschaften auf Machtmissbrauch beruhen und genau diese Macht sich nach seiner Intervention gegen den habilitierenden Nachwuchs richten würde. Die DFG ist selbst ein eher undurchsichtiger Verein, der jährlich milliardenschwere Staatsgelder an Antragsteller aus der Wissenschaft verteilt -sie ist rechtlich tatsächlich wie ein Kaninchenzüchterverein als e.V. organisiert. Anne Christine Schmidt wurde womöglich ein wohl gutgemeinter Versuch, für mehr Ehrlichkeit in der Wissenschaft zu sorgen, zum Verhängnis.

Sie hat hier gezeigt, wie die akademische Welt universitärer Forschung nicht nur die Freude am eigenen Fachgebiet, sondern an der Wissenschaft allgemein und zuletzt am eigenen Leben selbst abtöten kann. Ein von engstirniger Personal- und Einstellungspolitik geprägter Arbeitsmarkt tut ein Übriges, um hochqualifizierten Nachwuchs in Depressionen, Resignation und schließlich beruflichen Ausstieg zu treiben. „Zusammenfassung: Ich bin überqualifiziert und überspezialisiert und dadurch ungeeignet für die auf dem Arbeitsmarkt verfügbaren Arbeitsplätze.” (S. 153) Seelisch beruhigt hätte vielleicht eine geisteswissenschaftlich fundierte Reflexion der Problematik: Die Lektüre der Biologin und Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway hätte womöglich zu mehr Distanz und Überblick verhelfen können. Haraways Analyse des pariarchalen „modest man”, auf dem historisch der Objektivitätsanspruch moderner Naturwissenschaft basiert, hätte Schmidt zumindest die von ihr als „geisttötender Faktor” (S. 56) erlebte Verwendung des Passivs in Fachtexten vermutlich humorvoller erklärt als die Fachkolleg:innen in Zeitschriftenredaktionen (siehe Haraway-Rezension).

Fazit

Das kleine, sehr persönlich geschriebene Buch gibt einen intimen Einblick in die Abgründe der akademischen Wissenschaftspraxis, besonders der Labore. Es kritisiert Arbeitsklima, Abläufe und Haltung akademischer Biologen zur Natur, die Anwendung ihrer Ergebnisse in der Industrie und weiter unsere industrialisierte Lebensweise. Es richtet sich an Studierende der Naturwissenschaften, an Geisteswissenschaftler, die Naturwissenschaftler erforschen, aber auch allgemein an wissenschaftskritisch Interessierte.

Rezension von
Thomas Barth
Dipl.-Psych, Dipl.-Krim.
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Es gibt 21 Rezensionen von Thomas Barth.

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Zitiervorschlag
Thomas Barth. Rezension vom 31.12.2024 zu: Anne-Christine Schmidt: Albtraum Wissenschaft. Ein Erfahrungsbericht. Textem Verlag () 2023. ISBN 978-3-86485-286-2. Reihe: Kleiner Stimmungs-Atlas in Einzelbänden - Band 34. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/33058.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.


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