Gilles Reckinger: Bittere Orangen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 01.07.2025

Gilles Reckinger: Bittere Orangen. Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa. Überarbeitete Neuausgabe.
Peter Hammer Verlag
(Wuppertal) 2025.
ISBN 978-3-7795-0769-7.
D: 25,00 EUR,
A: 25,70 EUR.
Reihe: Edition Trickster. .
Ökonomische Verfügbarmachung von entrechteten Menschen
Sklaverei – eine scheinbar historisch überwundene, unmenschliche und menschenunwürdige Situation? Ausbeuterische Arbeit? Sind das nicht Erscheinungsformen, die durch Aufklärung und Freiheit Vergangenheit sind? „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. So wird es in der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) zum Ausdruck gebracht.
Wenn Menschen ihre Heimat verlassen, um anderswo (besser) leben zu können, wird von Migration gesprochen. Es sind die Push- und Pull-Faktoren, die Menschen aus Afrika, Asien, Lateinamerika nach Europa treiben, in der Hoffnung, dort ein zufriedenstellendes Leben führen zu können. Die Flüchtlingskatastrophen sind es, die zu Konflikten zwischen Zugewanderten und Einheimischen führen und zum Teil unmenschliche, ausbeuterische Situationen bewirken. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 gewährt Menschen, die wegen ihres Glaubens, ihrer Rasse, Religion, ihrer politischen Überzeugung aus ihrer Heimat flüchten, Asyl. Den sogenannten „Konventionsflüchtlingen“ wird in europäischen Ländern eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt, die im Laufe der letzten Jahrzehnte immer wieder verkürzt wurde; so auch in Italien, das wegen ihrer geografischen Lage vielfach als Durchgangs- und Zielland für Flüchtlinge vorwiegend aus Afrika wurde. Es sind überwiegend die Flüchtlinge, denen kein Asyl gewährt wird, und die damit keine Chance zu einem längeren oder andauernden Aufenthalt oder Einbürgerung haben.
Entstehungshintergrund und Autor
Über Migrations- und Flüchtlingskrisen und –entwicklungen sind zahlreiche Analysen, Studien und Forschungsarbeiten verfasst worden. Sie enden sowohl mit positiven, hoffnungsvollen, wie auch negativen, fatalistischen Einschätzungen. Der Luxemburger Europäische Ethnologe und Migrationsforscher Gilles Reckinger hat in der Zeit von 2009 bis 2011 ein ethnographisches Forschungsprojekt auf der italienischen Insel Lampedusa durchgeführt. Mit der Studie „Bittere Orangen“ schaut er nach, wie sich die Situation der migrantischen Einwanderer darstellt, nachdem sie von der Insel in Sammellager auf Sizilien, Kalabrien und anderen Orten im südlichen Italien verbracht wurden, jeweils mit verkürzten und verlängerten Aufenthaltstiteln: „Was passiert(e) mit den Migrantinnen und Migranten, nachdem sie von der Insel weggebracht worden waren?“. Es sind Erzählungen darüber, unter welchen Bedingungen sie heute leben: „Vom Flüchtlingslager zu den Obstplantagen Kalabriens“. Es sind Lebensgeschichten der Saison-ArbeiterInnen während der Hauptsaison-Zeiten 2012, 2013 und 2015: „Wie soll ich leben ohne Arbeit und ohne Geld? Ich bin doch kein Dieb! Welche andere Möglichkeit gibt es denn dann, an Geld zu kommen, ohne zu betteln?“ – „Ich schäme mich so!“. Leben in Ghettos und Zeltstädten, gelegentliche Beschäftigung, Langeweile: „Das Gehalt, das man uns zahlt … Elf Stunden Arbeit für 25 Euro… Wir wohnen in Rattenlöchern…“. Abgeschoben, zurückgegangen in das Heimatland, dort misstrauisch betrachtet und abgelehnt (Senegal), wieder ohne Arbeit: Also zurück auf den gefährlichen Fluchtweg?
Aufbau und Inhalt
Die eindrücklichen Schilderungen und die zahlreichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen des Forschers aus den Jahren von 2012 bis 2024 zeigen ein neues (altes) Gesicht der Sklaverei in Europa. Die Grenzen des Kontinents werden bereits weit außerhalb Europas gezogen: „Damit wird Grenze zunehmend nicht mehr als physisch gesetzte Linie, sondern als dynamischer Raum konzipiert, der sowohl nach innen als nach außen wirkt“. Es sind die menschengemachten, kapitalistischen Zustände, die sich verfestigt haben und Sklaverei ermöglichen, Hier und Heute!
Diskussion
Der Begriff „Leibeigenschaft“ bedeutet, dass Menschen über Menschen herrschen, Menschen Menschen besitzen und über sie, wie eine Sache, verfügen. Die kapitalistische Haben-Mentalität (Erich Fromm) bewirkt, dass ein ökonomisches, pekuniäres Immer-Mehr zum Leitbegriff des individuellen und kollektiven Lebens geworden ist: Die bereits Wohlhabenden und Besitzenden werden immer reicher, die Habenichtse ärmer [1]. Sklaverei, Menschenfeindlichkeit ist kein vergangenes Übel, sondern auch heute Wirklichkeit [2].
Fazit
Der erzählende Forschungsbericht kommt ohne Quellennachweise aus. Das irritiert und vermittelt gleichzeitig den Eindruck, dass der Autor bemüht ist, die Wirklichkeit weder zu beschönigen, noch sie zu verteufeln; vielmehr stellt das Buch „Bittere Orangen“ eine Aufforderung dar, hinzuschauen, sich mit den Unmenschlichkeiten auseinanderzusetzen und das Seine dazu zu tun, dass Arbeitssklaverei lokal und global abgeschafft wird!
[1] Reiner Klingholz, Sklaven des Wachstums, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16526.php
[2] Markus Metz, u.a., Hrsg., Freiheit und Kontrolle. Die Geschichte des nicht zu Ende befreiten Sklaven, 2017
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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