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Wilfried Hosemann, Sebastian Sierra Barra (Hrsg.): Jahrbuch der Systemischen Sozialen Arbeit

Rezensiert von Prof. Dr. Hubert Jall, 11.04.2025

Cover Wilfried Hosemann, Sebastian Sierra Barra (Hrsg.): Jahrbuch der Systemischen Sozialen Arbeit ISBN 978-3-7799-8636-2

Wilfried Hosemann, Sebastian Sierra Barra (Hrsg.): Jahrbuch der Systemischen Sozialen Arbeit. Band 2. Ökologie der Sozialen Arbeit. Beiträge für co-evolutionäre Strategien. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 170 Seiten. ISBN 978-3-7799-8636-2. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR.
Reihe: Deutsche Gesellschaft für Systemische Soziale Arbeit (dgssa). Jahrbuch der Systemischen Sozialen Arbeit.

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Thema

Das Jahrbuch nimmt erforschte und reklamierte ökologische Veränderungsprozesse als Ausgangs­überlegungen, um die Transformationen in der Sozialen Arbeit zu reflektieren und Perspektiven und Erfolge veränderter Pra­xis zu präsentieren.

Die Herausgeber, Wilfried Hosemann, em. Professor an der Universität Bamberg, und Sebastian Si­erra Barra, Professor für Organisationsentwicklung an der evangelischen Hochschule Berlin, füh­ren ihre langjährigen und aktuellen Erfahrungen zusammen. Das Buch ist vor dem Hintergrund der Tagung ökologische Soziale Arbeit an der brandenburgischen technischen Universität Cottbus (2022) entstanden.

Aufbau

Das von Hosemann und Sierra Barra herausgegebene Jahrbuch zur „Ökologie der Sozialen Arbeit“ über­rascht mehrfach:

Es ist mit 167 Textseiten angenehm überschaubar und stellt übersichtlich dar:

I Kontexte für die Entwicklung ökologischer Sozialer Arbeit

II Ökologische Handlungsstrategien und

III Umwelten für ökologische Konzepte.

Der Sammelband zeigt, dass es möglich ist, in kurzen Texten Kompliziertes nachvollziehbar zu be­schreiben. Sehr hilfreich für das Verständnis der ökologischen Handlungsstrategien sind die Beiträ­ge zu praktizierter sozialarbeiterischer Ökologie. Der selbstreflexive, z.T. selbstironische Stil, z.B. bei Tobi­as Knittels „vorläufiges Ausprobieren“ zeigt Mut, sich sprachlich „nackt“ zu machen.

Darüber hinaus thematisiert das Buch die Nichtnachhaltigkeit der Sozialen Arbeit.

Inhalte

In der Einleitung begründen Sierra Barra und Hosemann, warum eine ökologische Betrachtung der theoretischen wie auch der praktischen Bezüge der Sozialen Arbeit (wohl wieder mal) erforderlich ist. Sie wollen sich der Herausforderung stel­len, „wie Soziale Arbeit ökologisch betrachtet und um­gesetzt werden kann“ (S. 7). Dies ist in der Theoriegeschichte der Sozialen Arbeit nicht neu, sondern schließt an den, z.B. durch Bronfenbren­ner, Germain & Gitterman, postulierten Paradigmenwechsel der 80er Jahre an. Bereits die damals entwi­ckelten Perspektiven begründeten den Einbezug von Systemen. Vor dem Hintergrund dieser mehr als 50jährigen Geschichte ist es notwendig, die theo­retischen Annahmen neu zu reflektieren und in Beziehung zu den gegenwärtigen Problemen, Handlungsvollzügen und deren Bedingungen zu setzen. Als „roter Faden“ durchzieht das Buch das Bemühen, Ökologie nicht nur als ent­liehenen Ausdruck der Interdependenz zu begreifen, sondern ihren Gehalt als Auftrag, die Praxis im Rahmen ökologischer Grundlagen zu verstehen. Erfreulicherweise verweist das Buch darauf, dass in der Praxis Vorgefundenes häufig gelebte Ökolo­gie darstellt, vielleicht ohne es so zu benennen.

Michael Gerster beginnt mit der Metapher „Das Kamel soll durchs Nadelöhr“ das Professionsver­ständnis, oder eher das fehlende, zu diskutieren. Er entwickelt dabei 6 Themenkreise:

  • Kommunikation mit, über und zu Zielgruppen,
  • Gemeinwesen
  • Kontextsensibilität
  • Mehrwert oder Unterschiede
  • Nachhaltigkeit
  • Resilienz

Ein besonderes Gewicht erhalten das Gemeinwesen und die Resilienz. Im Gemeinwesen wird die Bereitschaft zur Konfliktbearbeitung und Mediation wirksam. Im Fokus „Resilienz und eigene Wege“ wird hervorgehoben „Soziale Arbeit braucht eine Resilienz gegenüber den Bemühungen, „von außen instrumentalisiert“ zu werden“ (S. 23). Welche Beiträge sie zum ökologischen Wandel leisten will, welche verantwortlichen Positionen sie gegenüber dem eigenen Handlungsfeld und dem des Auftragshorizontes beziehen kann, muss aus der Profession heraus geklärt werden.

Für den Rahmen, in dem sich das „Gespräch über Ökologie, Soziale Arbeit und Möglichkeiten von Transformationen“ von Hosemann und Sierra Barra bewegt, wird ein Raum zwischen Empathie, Empirie und Analyse bestimmt. Dabei ist ein Bogen von der internationalen wissenschaftlichen De­batte über Ökologie zu den deutschen Diskussionen in der Sozialen Arbeit über Ökologie zu span­nen. Die Autoren arbeiten sich zunächst am Verständnis von Natur ab und sehen qualitative Verän­derungen der sozialen Perspektiven der Sozialen Arbeit. Der Begriff der Ökologie erweitert sich au­ßerhalb der Begrifflichkeiten von System, Umwelt und Milieu und wird zu einem Namen für eine Existenzweise, „die immer aus verschiedenen Organismen und deren spezifi­scher Umwelt besteht“ (S. 30). Aus den wechselseitigen Beziehungen im Gefüge von Systemen ergeben sich Strukturen für weitere Verknüpfungen – und bei den beteiligten Systemen entstehen interne Strukturveränderungen (S. 26 und S. 34). Dies begründet den Begriff der Co-Evolution im Untertitel des Buches. Beim Rü­ckgriff auf den Ausdruck „Gefüge“ wird der Unterschied zum System deutlich, da hier keine Struk­tur der Interaktion vorausgesetzt wird (S. 34). Diese „strenge“ Interpretation des Ökologiebegriffs eignet sich insbesondere für soziale Entwicklungen. Vor der inflationären Nutzung des Begriffs „Ökologie“ wird gewarnt und gefordert, diesen zu gebrauchen, „wenn damit eine analytische Per­spektive formuliert wird und nicht undifferen­ziert Austauschprozesse mit und in der Natur bezeich­net werden“ (S. 34). Ebenso eigne sich Ökologie nicht als ein „alles umfassender Versöhnungsbe­griff“. Immer wieder wird betont, Ökologie beschreibe ein Gefüge von Pro­zessgeschehen interagie­render Systeme, und lebende Systeme beständen aus System und Umwelt. Eine herausfordernde Perspektive und ein herausfordernder Text! 

Das Gespräch ist teilweise anstrengend zu lesen, lässt die LeserInnen aber teilhaben an den mögli­chen Konsequenzen der Transformation der Sozialen Arbeit in Richtung Ökologie. Daraus ergeben sich u.a. veränderte Leitungsaufgaben. Organisationsent­wicklung wird, mit besonderem Gewicht auf Berücksichtigung aller Beteiligten, zum Dreh- und Angelpunkt. Wichtig erscheinen hier die Konsequenzen von Ent­scheidungen in einem sozialen Gefüge. Entscheidungen haben nicht nur Er­möglichungscharakter, sondern auch einen Verhinderungsaspekt. Die Metapher:„Wo Bäume wach­sen, haben es andere Pflanzen schwer“ (S. 41) verdeutlicht, dass bei Entscheidungen die jeweils an­deren Seiten mit zu bedenken sind. Die Folgen von ökologischen Zielsetzungen und Strategien müssen über die beabsichtigten Ziele hinaus reflektiert werden. Damit gewinnt der programmati­sche Begriff der „Hilfe als kollaboratives Gemeingut“ strukturge­benden Charakter, der nicht auf die Beherrschung oder Kontrolle der anderen Akteure angewiesen ist, sondern ein neues Verständnis von Entwicklungs- und Entstehungszusammenhängen schafft.

Martin Stummbaum greift in seinem Beitrag auf Erfahrungen zurück, die er mit studentischen Pro­jekten im Rahmen des Labor Nachhaltigkeit gemacht hat. Den Ausgangspunkt seiner Analyse be­stimmt die Beobachtung, welche Bedeutung Soziale Arbeit in ihren grundlegenden Vorstellungen dem gesellschaftlichen Wachstum beimisst (das eben nicht nachhaltig ist). Die Auseinandersetzung um die Nicht-Nachhaltigkeit Sozialer Arbeit „… und wie sie zukünftig bei einer Entkopplung von Wachstum und Wohlfahrt ihre Professionalität nachhaltig gestalten will“ (S. 47) findet im Bachelor­studiengang an der Hochschule Augsburg statt. Insgesamt wurden 16 Projekte realisiert, evaluiert und diskutiert; z.B. „Upcycling – mit wenig Geld nachhaltig und besser leben“ oder „Nachhaltig le­ben in Augsburg – Tipps, die (fast) nichts kosten“ (S. 48). Die Diskussion der Ergebnisse zeigt die Gefahr, mit schnellen Lösungen „…statt Nachhaltigkeit nachhaltig Nichtnachhaltigkeit zu (be)för­dern“ (S. 53). Stummbaum plädiert dafür, den schnellen Lösungen einen Zwischenschritt der kriti­schen Auseinandersetzung vorzuschalten und das vielfach blockierte Engagement der jungen Fach­kräfte für den Übergang aus der Nichtnachhaltig in die Nachhaltigkeit zu nutzen. 

In Passungen zu Teil II leiten die Herausgeber zu analytischen Berichten aus der Praxis über. Da­bei wird ein wesentlicher Schritt voll­zogen, nämlich die diskutierte Bewegung aus der (Selbst-)Kri­tik heraus hin zu konstruktiven Beiträgen zu entwickeln. So gelingt es, Begriffen wie „Nachhaltig­keit“ und „Ökologie“ die Chancen zur Verstetigung zu geben. Diese konstruktive Richtung geht von der Annahme aus, dass Organisationen Integrationsleistungen von Theorie und Praxis vollziehen. Ihre internen Strukturen bilden Voraussetzungen für die Wahrnehmung ihrer Umgebung, ihrer Ziel­setzungen und ihrer Handlungen – und lenken so die Gesamtleistung des Systems: „Die Organisati­on handelt ökologisch in der Art, wie sie mit Klienten, Kooperationspartnern und dem politischen und dem kommunalen Umfeld umgeht“ (S. 62). Der Begriff der „Passungen“ führt zu ökologischen Handlungsstrategien und einem erweiterten Erfolgsbegriff. Aus den allgemeinen Forderungen nach „passgenauen Hilfen“ werden in dieser Lesart auch die Bedingungen der Umweltverträglichkeit und der Nachhaltigkeit gesehen.

Im Beispiel von integra MENSCH von Kuno Eichner, Irmgard Neundörfer, David Ochs (Lebenshil­fe Bamberg) rücken die Menschen, die mit Handicaps leben, die soziale Offenheit und die perma­nente Suche nach neuen Kooperations­partnern, in das Zentrum der Darstellung. Der Ansatz „…pro­pagiert die Rückkehr der Bürgerverantwortung, gepaart mit dem Fachwissen professioneller Unter­stützer“ (S. 67.) Zwei Handlungsstränge leiten das Konzept: einen Arbeitsplatz des ersten Arbeits­marktes in Wohnortnähe zu finden und eine Qualifikation unabhängig vom aktuellen Arbeitsplatz. Ein Methodenmix, wie z.B. die Entwicklung einer Familienschatzkarte mit seiner öko­logischen Er­kundung des Sozialraums, Patenmodelle, die die soziale Stabilität in Betrieben absichern, bildet die Basis für sozial-ökologisches Arbeiten. Für die Fragen der Übertrag­barkeit der Erfahrungen stellen Eichner, Neundörfer, Ochs eine Liste von 9 strategischen Punkten zusammen; z.B. Kooperationen eingehen auch mit Leuten und Organisationen unterschiedlicher politischer Überzeugungen, unter­schiedliche Zeitschienen parallel einbeziehen, soziale Gefüge schaffen „…und zwar nicht instru­mentalisiert, sondern kooperativ“ (S. 75). Aus der Verbindung des Ansatzes von individueller Situa­tion, betrieblicher Perspektive und Sozialraum ergeben sich überzeugende Belege für praktizierte Ökologie und Nachhaltig­keit.

Einen sehr interessanten Beitrag stellt das vorgestellte Modell einer klimagerechten Kinder- und Ju­gendhilfe von Willibald Neumeyer aus Nürnberg dar. Hier wird am Beispiel einer Transformation einer sozialen Einrichtung zur Klimaneutralität aufgezeigt, wie eine ökologisch orientierte Pädago­gik/Soziale Arbeit die Zukunftsfähigkeit der Kinder- und Jugendhilfe organisieren kann. Aus den in­zwischen satt­sam bekannten Daten der Klimaentwicklung lässt sich die Vulnerabilität der Kinder aus sozial be­nachteiligten Milieus antizipieren. Die in den unterschiedlichen Systemen Eingebunde­nen sind nicht nur „Opfer“ oder „beklagenswerte Benachteiligte“, sondern Beteiligte und Wirkende in ökologisch verstandenen Systemen. Die knappe Forderung: „Klimaschutz ist Kinderschutz“ wird zu einem Wesensmerkmal ökologisch orientierter So­zialer Arbeit.

Auch wenn die Feststellung, dass die Klimakrise Kindeswohlgefährdung sei (S. 81), sehr verkürzt klingt, hat der von Fegert et al. hergestellte Kontext, dass durch staatliche Politik der Unterlassung und der ökologischen Gewalt kollektive Kindeswohlgefährdung entstehen kann, hohe Relevanz. Was aber nicht jede Ad hoc-Lösung aussichtsreich macht: er weist Vorstellungen zurück, die Heran­wachsenden in der Jugendhilfe unabhängig von ihrem Lebenskontext zu „klimagerechtem Verhal­ten“ erziehen zu wollen (S. 88).

Neumeyer führt in den Umsetzungsproblemen des Transformationsprozesses der Kinder- und Ju­gendhilfe an, dass die ökonomischen Konzepte von Finanzierung und Betrieb häufig in der Refinan­zierungssystematik der betriebswirtschaftlichen Anreize zur Investition im Be­reich des Klimaschut­zes fehlen. Neumeyer gelingt es, die hochkomplexen Themen der Ökolo­gie mit den sehr praktischen Auswirkungen und den Aufgaben in der Kinder- und Jugendhilfe zu verknüpfen. Seine Spannbreite geht z.B. von der Lebenswelt/​-situation und den Ängsten der Jugendlichen, den Anforderungen der Gebäudeisolation bis hin zu mehr allgemeinen Forderungen an die politische und fachliche Kom­munikation.

Die Alltäglichkeit und daher die extreme Relevanz der Lebensmittelproduktion und schlicht des Es­sens ist Inhalt des Beitrags von Bartels und Bartels. Noch vor dem Wohnen gehört die tägliche Er­nährung zu den primären Grundbedürfnissen. Es ist unbestreitbar, dass die Ernährungsweise zu den Hauptursachen von Krankheiten und ökologischen Katastrophen gehört. Dass dieser Bereich durch­gehend zu allen Tätigkeitsfeldern der Sozialen Arbeit gehört, ist, wenn auch lange Zeit vernachläs­sigt, dringend sowohl in der akademischen Lehre wie auch im praktischen Vollzug zu berücksichti­gen. Die Autorinnen stellen Ernährungsräte, die bereits eine hohe internationale Anerkennung erfah­ren, als eine Form der politisch aktivierenden Beteiligung vor. Eine „ganzheitliche strukturierte Er­nährungswende“ sei mit einer praktizierten „Ernährungsdemokratie“ (S. 99) erreichbar. Am Bei­spiel des Ernährungsrates Freiburg wird ein Organisationsentwicklungsprozess dargestellt, der die Bil­dungs- und sozialen Einrichtungen umfassend begleitet und Konzepte einer ökologischen lokalen Versorgung entwickelt.

Erfreulich ist, dass die entschiedene Beteiligung der Sozialen Arbeit bei der Ernäh­rung historisch begründet wird. Der erwähnten Lina Morgenstern („Suppenlina“) sei der Amerikaner Ben­jamin Thompson hinzugefügt, der als Graf Rumford in Bayern 1792 eine Armenspeise eingeführt hat, die als Rumfordsuppe bis heute zumindest in München bekannt ist. Weiter erfreulich ist, dass die Auto­rinnen die Aufgaben der Ernährung mit der seit 2014 gültigen internationalen Definition der Sozia­len Arbeit begründen. Der Betonung, dass die Kooperation mit den Ernährungsräten einen struktu­rellen Perspektivenwechsel darstellt, ist zuzustimmen. Leider werden weder in der kommunalen So­zialpolitik noch in den verschiedenen Stu­diengängen der Ernährungswissenschaften und der Sozia­len Arbeit Ernährung ökologisch, gesund und regional und Soziales „zusammengedacht“ (S. 106).

Die von Peter Stepanek aufgegriffenen „Themen der ökologischen Nachhaltigkeit in der Sozialwirt­schaft und der Sozialen Arbeit“ (S. 113) präsentieren auf der Basis von Beispielen von „Best-Practi­ce“ die Verknüpfung Sozialer Arbeit und ökologischer Perspektiven. Stepanek geht davon aus, dass Soziale Arbeit ein wichtiger „Baustein der gesamtgesell­schaftlichen sozialökologischen Transfor­mation hin zu einer solidarischeren, inklusiveren Lebens­weise“ ist (S. 119f). Belege dafür finden sich u.a. in den von der Europäischen Kommission vorgelegten Zahlen der „Social Economy“ die in manchen Mitgliedsländern bis zu 10 Prozent aller Berufstätigen beschäftigt und für rund 8 Prozent des Europäischen Bruttoinlandproduktes verantwortlich ist (S. 120). Die dargestellten Tabellen in­formieren über die österreichischen und deutschen Organisationsformen ökologisch orientierter Projekte und Themen.

In den Passungen III werden zunächst kurz die unterschiedlichen ökologischen Ebenen der darge­stellten Arbeitszusammenhänge auf den Punkt gebracht und anschließend Stellungnahmen aus der Praxis und die Einbettung der Sozialen Arbeit in die Sozialpolitik präsentiert.

Die „Post aus der Praxis“ weist auf Umsetzungsmöglichkeiten und -probleme hin. Erfreulich dabei ist, dass dies nicht aus der Perspektive „in der Theorie ist es ja wohl ganz gut gemeint, aber in der Praxis ist alles anders“ geschieht, son­dern der Nachhaltigkeitsgedanke als evolutionäre Handlungs­anforderung bestätigt wird. Es wird nachvollziehbar, dass der ökologische Umbau der Gesellschaft Teil präventiver Sozialpolitik ist. Die einzig­artige Rolle der Freien Wohlfahrtsverbände innerhalb des deutschen Sozialstaates eröffnet die Chance, sektorenübergreifende Kooperationen zu fördern und verschiedene Interessensgruppen zusammenzubringen. Sie könnten damit als „Katalysatoren für eine sozialverträgliche ökologische Transformation wirken (S. 135)“. Das Beispiel aus dem Pari­tätischen Wohlfahrtsver­band Berlin ermutigt, sich auf eine führende Rolle bei der Umsetzung nach­haltiger Lösungen zu be­sinnen. Allerdings wird kritisch angemerkt, dass den einzelnen Organisatio­nen es oft an Res­sourcen, Kapazität oder Know-how fehle, die Reduzierung von CO2 Emissionen etc. nachhaltig auszurichten. Hier müssen Lücken strukturell geschlossen werden.

Der sehr persönliche Beitrag „Vorläufiges Ausprobieren“ von Tobias Knittel zeigt in prägnanter Form die persönliche Betroffenheit zur ökologischen Bestandsaufnahme und der geforderten Trans­formation. Er erfrischt in mehrfacher Hinsicht:

  • er greift die uns allen seit vielen Jahren bekannte provokante Frage auf, wie wir es denn so halten mit den Forderungen nach Umweltverträglichkeit und dem dann doch wieder auftau­chendem schlechten Gewissen (wieder billi­ge Produkte im Supermarkt gekauft),
  • er bekennt sich zu seinem unguten Gefühl des immer wieder Fragmentarischen, das auf­taucht, trotz allem Bemühen,
  • die Frage „wie sind wir denn?“ öffnet die Sicht auf die Normalität im beruflichen wie im persönlichen Alltag.

Damit ist wohl auch nach der Gelassenheit uns selbst gegenüber gefragt, Überforderungen im Be­mühen zu begegnen. Denn es kann nicht ökologisch sein, wenn das Ergebnis von bewusstem ökolo­gischen Verhalten die Überforderung des Alltags ist. Wir können uns der von Knittel vorgeschlagen­en „Figur des Fragmentarischen“ zuwenden und aus dem Status des Unfertigen die Chance ergrei­fen, wieder von Neuem den Alltag zu bewältigen. Gern mag man dem Wunsch von Knittel zustim­men, die Kraft und die Hoffnung zu behalten, um unser gemeinsames Entscheiden und Handeln als Improvisation gestalten zu können.

Betriebliche Ökologie ist nicht nur eine Frage der materiellen Ressourcen. Die Themen der Mitar­beiterbindung, des Commitments, der Achtsamkeit gegenüber sozialer Gerechtigkeit und Formen der Partizipation in den Organisationen reichen tief in die Organisations- und Personalent­wicklung hinein.

Die Diskussion zur Ökologie als Haltung von Andrea Lenhart und zur Inklusion von Silke Ulrich berühren die Praxisfelder der Familienhilfe, der Jugendsozialarbeit an Schulen und der Behinderten­arbeit. Sie erkunden in ihren Projekten Positionen zur ökologischen und ökonomischen Verantwor­tung und zum Handlungsrahmen in der Netzwerkarbeit. Die Frage nach dem Sinn im ökologi­schen Verständnis berührt den Selbsterhalt der dargestellten Projekte, deren Grenzen und Legitima­tion. Die Sinnfrage berührt dabei zum einen die Nützlichkeit für Klienten jedoch ebenso für die dort Tä­tigen. So geraten Projekte häufig in die Legitimationskrise, wenn die Fragen der Nützlichkeit für die Klienten in Zweifel gerät. Für Andrea Lenhart ist daher die professionelle Haltung entscheidend, um den ökologischen Sinn zu begrün­den. Für Silke Ulrich erhebt sich in der Inklusionsvermittlung die Exklusionsvermeidung zum ökologi­schen Sinn der beteiligten Systeme.

Im Beitrag von Jens Wurtzbacher lässt schon der Titel „Auch das noch?! – Ökologie, Klima­wandel und Soziale Arbeit“ eine kritische Replik auf den Anspruch erahnen, Soziale Arbeit könnte einen entschiedenen Beitrag zu den Anforderungen einer sozialökologischen Transformation leisten. Nach einer allgemeinen Einführung und Übersicht der theoretischen Diskussionen beschreibt er fakten­reich und ungeschminkt aus kapitalismuskritischer Sicht die z.T. fatale Situation, in die Soziale Ar­beit in der ökologischen Debatte gerät. Bereits die his­torischen Auseinandersetzungen, z.B. bei E. Salomon 1909, J. Adams und M. Richmond in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts hätten gezeigt, dass die Wechselbeziehung zwischen Lebewesen und seiner Um­welt ohne die Gerechtigkeitsfrage keinen Sinn macht. Die Fragen, welche Stellung der ökonomisch-soziale Kontext in der Aufgaben­beschreibung des So­zialen Berufes hat, ob dieser nun eher Bedingung oder Inhalt zur Veränderung sei, beschäftigt das Professionsverständnis nun seit mehr als 100 Jahren. Wurtzbacher stellt das Di­lemma von Sozialpolitik und sozialen Diensten deutlich heraus. Es ist bei den politischen Auseinan­dersetzungen deutlich erkennbar, dass der Finanzbedarf der Klimapolitik zwangsläufig die Konflik­te um öffentliche Mittel für Sozialpolitik erheblich verschärfen wird, zumal die Debatte um Vertei­digungsausgaben eine neue Qualität erreicht hat. Diese Konflikte gehen einher mit den grundsätzli­chen Herausforderungen an die demokratischen Systeme von partnerschaftlich organisierten Betei­ligungssystemen vs. autokratischen Formen.

Auch die in Deutschland entfachte Diskussion um Veränderungen hin zum Abbau von verbrieften Rechten von Würde und Gleich­berechtigung lässt erahnen, dass eisige Gegenwinde auf die Soziale Arbeit zukommen werden. Wurtzbacher stellt fest, dass die Legitimation Sozialer Arbeit mit dem Vertrauensschwund in die Problemlösungsfähigkeiten der Wohlfahrtsdemokratien einhergeht und sieht die Gefahr, dass die Soziale Arbeit in einen Strudel des re­gressiven sozialen Wandels hineinge­zogen wird (S. 159). Er sieht hier deutlich die Verwaltungen ganz allgemein in der Pflicht, sich ge­gen die Aushöhlungstendenzen zu stemmen.

Diskussion

Das Buch von Hosemann und Sierra Barra überrascht in mehrfacher Hinsicht:

Es zeigt eine „entspannende Nichtpädadagogik“, d.h. die vielfach dominierende Kultur der Beleh­rung, dass die Welt, oder zumindest die Soziale Arbeit besser würde, wenn nur die Ratschläge ei­ner (wie auch immer definierten) ökologisch orientierten Sozialen Arbeit befolgt würden, fehlt und wirkt erholsam. Natürlich wird in den verschiedenen Beiträgen auf den gegenwärtigen und auch be­fürchteten Zustand unseres Planeten verwiesen, doch gerade in den vorgestellten Projekten wird deutlich, dass es Handlungsvollzüge gibt, beach­tenswerte ökologische Ressourcen zu aktivieren und zu erweitern. Das Buch verzichtet fast gänz­lich auf moralisierende Belehrungen und Forderungen, die letztlich auf Verzicht und Ein­schränkungen hinauslaufen, sondern bietet Aktionsebenen an, die realisierbar sind.

Der zentrale ökologische Gedanke des Buches wird im Untertitel als Co-Evolution deutlich, näm­lich bei den unterschiedlichen Projekten der Sozialen Arbeit die möglichen Effekte in Bezug auf an­dere einzubeziehen, sowie von Offenheit auszugehen, die durch die Mitwirkung der anderen ent­steht. Das erfordert das Mitdenken der Positionen des/der Gegenüber und der Mitakteure. Transfor­mation wird damit wesentlich zum Zuhörprozess und tappt weniger in die Falle des sofortigen Agie­rens.

Die theoretischen Ausführungen, z.B. im Fachgespräch Hosemann/​Sierra Bar­ra, bei Stummbaum wie auch im abschließenden Kapitel von Wurtzbacher unterstützen die Diskussion über notwendige Veränderungen, bleiben aber auf der Ebe­ne, was gemacht worden ist, bzw. gemacht werden kann. Sie zeigen Leserinnen und Lesern, sich auch in abgegrenzten Arbeitsbereichen professionell und kompetent am notwendigen Transformationsprozess beteiligen zu können. Das Buch kommt aus der normativen Ecke („man sollte“) heraus und motiviert zur offe­nen Beteiligung („man kann“). In die­sem Sinne ist das Buch ermutigend und lässt hoffen, dass viele es als Zu­spruch empfinden, mit Freude und Elan bei der Stange des op­timistischen Mutes zu bleiben.

Fazit

Ich darf das Buch besonders den Lehrenden an den Hochschulen empfehlen, da sie es sind, die die zukünftigen KollegInnen mit Mut und auch Entschlossenheit für ein transformatives Engagement ausstatten (sollten). Manche Praktiker und deren KollegInnen in leitenden Positionen mögen bei der Lektüre des Buches ein erstauntes „Ja, da schau her“ von sich geben, zeigt es doch, wie es ge­hen kann, aktiv verändernd zu wirken. Den Studierenden zeigt es machbare Perspektiven auch un­ter schwierigen Bedingungen und konkurrenzfähige Argumente.

Rezension von
Prof. Dr. Hubert Jall
Arbeits- und Forschungsschwerpunkte:
Geschichte und Theorien der Sozialen Arbeit
Entwicklung von professionellen Handlungsstrategien und Vermittlung von Methoden der Sozialen Arbeit
Familienhilfe und Familientherapie
Schulsozialarbeit und Jugendsozialarbeit an Schulen
Internationale Soziale Arbeit, insbesondere im Bereich der Entwicklungshilfe
Lehre im Bereich Theorieentwicklung in der Sozialen Arbeit im Masterbereich.
Website
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Es gibt 1 Rezension von Hubert Jall.

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ISSN 2190-9245