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Frank Herrath, Kathrin Brönstrup (Hrsg.): Sexualität unbehindert leben

Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 17.02.2025

Cover Frank Herrath, Kathrin Brönstrup (Hrsg.): Sexualität unbehindert leben ISBN 978-3-17-044808-7

Frank Herrath, Kathrin Brönstrup (Hrsg.): Sexualität unbehindert leben. Rechte, Wirklichkeiten, Forderungen. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2025. 385 Seiten. ISBN 978-3-17-044808-7. 39,00 EUR.

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Thema

Die Publikation thematisiert die Sexualität von Menschen mit Behinderung. Insbesondere der Perspektive von betroffenen Menschen wird Raum gegeben, wie dies Jana Offergeld in ihrem Vorwort hervorhebt.

Herausgebende

Frank Herrath und Kathrin Brönstrup sind freie Mitarbeitende am Institut für Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. Erstgenannter ist außerdem Fachreferent für Gewaltschutz und sexuelle Bildung in einer Komplexeinrichtung und Letztgenannte ist Sozialpädagogin, die Leitungserfahrungen in verschiedenen Institutionen der Eingliederungshilfe aufweist.

Entstehungshintergrund

2023 hat der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen weltweit die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention überprüft. Für Deutschland wird die ungenügende Umsetzung zur sexuellen Selbstbestimmung und Elternschaft von Menschen mit Behinderung genannt. Bemängelt wird, „dass Menschen mit Behinderungen empfängnisverhütende Maßnahmen ohne ihre freie und informierte Zustimmung erleben und ihr Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität und Elternschaft nicht ausüben können“ (S. 11).

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in folgende Kapitel gegliedert:

  1. Sexualität – ein gutes Recht für Menschen mit Behinderung?
  2. Vielfältige Sexualitäten und vielfältige Behinderungen. Nichts über uns ohne uns!
  3. Diskriminierungen und Gewalt
  4. Kinderwunsch und Elternschaft
  5. Information, Beratung, Bildung und Assistenz
  6. Lasst tausend Blumen blühen! Blitzlichter sexualitätsbezogener Bildungspraxis
  7. Perspektiven

Zunächst werden die juristischen Aspekte betrachtet:

Julia Zinsmeister befasst sich mit den betreuungs- und strafrechtlichen Vorgaben, z.B. das Empfangen von SexarbeiterInnen und SexualbegleiterInnen im Zimmer in einer besonderen Wohnform.

Charlotte Zach, die zur Fortbewegung einen Rollstuhl benutzt, hat die sexualisierte ableistische Diskriminierung von Menschen mit Behinderung im Blick.

Ralf Specht nimmt die sozialpolitischen Komponenten zur sexuellen Selbstbestimmung in den Blick.

Schließlich interviewt der Erstherausgeber Sigrid Arnade, u.a. zu sexualitätsbezogenen Aspekten und zur zweiten und dritten Staatenprüfung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.

So unterschiedlich die Behinderungen sind, so verschieden sind auch die Sexualitäten:

Dunja Reichert berichtet von ihren Erfahrungen, nachdem sie sich als 15-jährige durch einen Zeckenbiss mit Borreliose infizierte. Das Resultat dieser Infektion ist eine Querschnittslähmung. Das Resultat ist auch das Erfahren zahlreicher Barrieren.

Für die 25-jährige Natalie Dedreux, die mit dem Down-Syndrom lebt, bedeutet Sexualität. „dass auch Menschen mit Behinderung frisch verliebt sein können, eine Beziehung miteinander haben dürfen und auch miteinander Sex haben können und dürfen“ (S. 94). In ihren Ausführungen fordert sie mehr Sichtbarkeit der Liebe von Menschen mit Behinderung.

Jörg Nitschke diskutiert in seinem Beitrag Sexualität in Verbindung mit einer psychischen Beeinträchtigung. In diesem Kontext wurde in früheren Zeiten Sexualität ein sehr geringer Stellenwert eingeräumt. Betrachtet werden häufige psychische Erkrankungen und deren Einfluss auf die Sexualität.

Sexualität bei Autismus Spektrum Störung wird von Stephanie Meer-Walter in den Blick genommen. Die Autorin stellt fest, dass die typisch autistischen Eigenschaften nicht nur den Alltag der Betroffenen beeinflussen, sondern auch die Sexualität.

Die Sexualität von Menschen mit Behinderung ist auch durch Diskriminierungen und Gewalt gekennzeichnet. So stellt Hemma Mayrhofer fest, „dass Frauen und Männer mit Behinderungen meist deutlich häufiger von Gewalt betroffen sind als der Durchschnitt der Bevölkerung“ (S. 147) – u.a. auch sexueller Gewalt.

Martina Puschke stellt heraus, dass in Wohneinrichtungen lebende Frauen mit Lernschwierigkeiten oder Mehrfachbehinderungen häufig sexualisierte Gewalt erfahren.

Maren Seelandt stellt in ihrem Aufsatz die Entwicklung und Weiterentwicklung des Gewaltschutzkonzeptes von Leben mit Behinderung Hamburg vor. „In diesem Schutzkonzept hat das sexualpädagogische Konzept […] mit seinen Bausteinen zur sexuellen Bildung, zu Präventionsmaßnahmen, der Sensibilisierung und Qualifizierung der Mitarbeitenden, der Partizipation der Expert*innen in eigener Sache ein eigenes Kapitel erhalten. Es beinhaltet neben Leitlinien, die beschreiben, welche sexualitätsbezogenen Grundaussagen für unsere Arbeit wichtig sind, konkrete Maßnahmen, um sexuelle Bildung und Selbstbestimmung in die Praxis zu bringen“ (S. 179).

Lena Cornelissen ist weiß, Anfang 20, hat Bildungsprivilegien ist neurodivergent, psychisch krank und infolge eines Unfalls körperlich beeinträchtigt. Sie befasst sich mit Behinderung und Queer-Sein.

Im Zusammenhang mit dem Thema Kinderwunsch und Elternschaft befasst sich Julia Zinsmeister u.a. mit „Fragen zum Eherecht und den reproduktiven Rechten behinderter Menschen auf der Grundlage der deutschen Rechtsordnung“ (S. 201). Die Basis ist Artikel 23 der UN-Behindertenrechtskonvention, in dem es um die Achtung der Wohnung und der Familie geht.

Als einen Meilenstein betrachten Ulla Riesberg und Kadidja Rohmann die Umsetzung des Artikel 23 UN-Behindertenrechtskonvention „für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Elternschaft für Menschen mit Behinderungen“ (S. 220). In ihrem Beitrag befassen sich die Autorinnen „mit der Elternschaft von Menschen, die im leistungsrechtlichen Sinne als geistig behindert gelten“ (S. 221).

Welche Rolle spielen die Angehörigen bei der sexualitätsbezogenen Begleitung von Menschen mit Behinderung? Diesen Aspekt betrachten Ulrike Mattke und Antje Torlage sowohl aus der pädagogischen als auch aus der juristischen Sicht.

Für die sexuelle Bildung erkennt Kathrin Brönstrup gerade in der diesbezüglichen Bildung für Menschen mit Behinderung eine Krise. Hier wird die gesellschaftliche Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung dadurch erkennbar, „dass es eine Konkretisierung der allgemeinen Menschenrechte bezogen auf die Situation von Menschen mit Behinderung in Form der UN-Behindertenrechtskonvention überhaupt nicht gibt“ (S. 231). Hinsichtlich der sexuellen Bildung sind Menschen mit Behinderung benachteiligt.

Annika Wolters und der Erstherausgeber befassen sich in ihren Ausführungen mit folgenden Fragen: „Ist Schule ein geeigneter Ort für sexuelles Lernen? Unter welchen Bedingungen? Welche Kompetenzen und welches Material brauchen die Vermittelnden? Und welche besonderen Antworten sind nötig, wenn es sich beim Vermittlungsort um eine Förderschule handelt“ (S. 260). Die Autorin und der Autor führen zehn Bemerkungen zur Sexualerziehung in Förderschulen auf.

Nicola Döring nimmt u.a. die Online-Sexualität in den Blick. Die Autorin fragt danach, inwiefern Menschen mit Behinderung selbstbestimmt an digital angebotenen sexuellen Aktivitäten partizipieren können.

Mit der Frage was bei einer professionellen Sexualitätsbegleitung zu tun und zu lassen ist befasst sich Gudrun Jeschonnek. Die Autorin erkennt ein verhaltenes Schweigen in der Diskussion zu Sexualassistenz. Zu diesem Thema wird die Sexarbeiterin Tanja Hoyer von der Zweitherausgeberin interviewt.

Petra Winkler nimmt die Sexualberatung von Menschen mit körperlichen, kognitiven und Sinneseinschränkungen in den Blick. Ein derartiges Angebot „befördert die Autonomie ohne defizitären Blick (und – CR) stellt Ressourcen und Stärken des Menschen in den Mittelpunkt“ (S. 324). Es ist somit ein Angebot zur gesellschaftlichen Teilhabe.

Diskussion

Im Vorfeld der Bundestagswahl vom 23.02.2025 hat der Rezensent die Kandidatinnen und Kandidaten der CDU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Wahlkreises, in dem er wohnt, an seinen Küchentisch eingeladen, wie Robert Habeck es sich Ende 2024 im Internet gewünscht hat. Da der Rezensent selbst mit einer Behinderung lebt, wurden behindertenpolitische Themen diskutiert. Allein Anna Neumann, Bundestagskandidatin der FDP, fragte den Rezensenten, wie er zu dem Thema Sexualität und Behinderung steht. Es mag an Neumanns jungem Alter – von 30 Jahren – liegen, welches bei ihr das Interesse an diesem existentiell wichtigen Thema weckt. Auf jeden Fall ist es erfreulich, dass das Thema Sexualität und bzw. mit Behinderung nicht mehr in die Schmuddelecke gerückt wird, sondern öffentlich und politisch in den Blick gerät.

Fazit

Für alle, die sich mit der Sexualität und dem Sexualleben von Menschen mit Behinderung befassen oder die das Thema interessiert ist diese Publikation wärmstens zu empfehlen, weil nicht nur über die Sexualität von Menschen mit Behinderung gesprochen oder geschrieben wird, sondern die Betroffenen selber zu Wort kommen. Für die betroffenenkontrollierte Forschung, für die Disability Studies, ist das von hohem Wert.

Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
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Es gibt 186 Rezensionen von Carsten Rensinghoff.

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ISSN 2190-9245