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Rena Onat: Queere Künstler_innen of Color

Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 27.01.2025

Cover Rena Onat: Queere Künstler_innen of Color ISBN 978-3-8376-6405-8

Rena Onat: Queere Künstler_innen of Color. Verhandlungen von Disidentifikation, Überleben und Un-Archiving im deutschen Kontext. transcript (Bielefeld) 2023. 310 Seiten. ISBN 978-3-8376-6405-8. D: 49,00 EUR, A: 49,00 EUR, CH: 59,80 sFr.
Reihe: Image - Band 215.

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Thema

Dr. Rena Onat wendet sich in der vorliegenden Arbeit anschaulich, theoretisch basiert und künstlerisch präsentiert, Perspektiven queerer Künstler*innen of Color im deutschen Kunstbetrieb zu. Aufbauend auf einer intersektionalen Analyse des Kunst- und Kulturbetriebs sowie der dort erfolgenden Wissensproduktion skizziert Onat die erfolgenden institutionellen und epistemischen Ausschlüsse von Perspektiven von Queers of Color. Als zentral arbeitet sie hierbei Rassismus heraus, der etwa an Kunsthochschulen und Institutionen des Kunst- und Kulturbetriebs ausschließend wirke, der aber auch gesellschaftlich Queers of Color marginalisiere und gefährde. Von der theoretischen Analyse ausgehend befasst sich Onat mit ausgewählten künstlerischen Werken von deutschen Künstler*innen of Color, dabei fokussiert sie auf Arbeiten von Hasan Aksaygın, Sunanda Mesquita und Aykan Safoğlu.

Autorin

Dr. Rena Onat ist Kunst- und Medienwissenschaftlerin und hauptamtliche Frauenbeauftragte an der Weißensee Kunsthochschule. Forschungsgebiete sind insbesondere Queer of Color-Kritik in Kunst und visueller Kultur. Onat positioniert sich selbst als türkisch-deutsch, als queere Femme und Cis-Frau (S. 48).

Der Band „Queere Künstler_innen of Color“ stellt die leicht abgewandelte Dissertationsschrift der Autorin an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg dar. Die Publikation wurde von dem Autonomen Feministischen Referat der Universität Oldenburg, der Hännchen-Mehrzweck-Stiftung und dem Deutschen Akademikerinnen Bund gefördert.

Aufbau

Der Band eröffnet mit der Darstellung künstlerischer Werke – und setzt so die untersuchten Arbeiten von Queers of Color als Ausgangspunkt zentral. Erst dann schließt sich das Inhaltsverzeichnis an, dem vier Kapitel folgen, mit den folgenden Titeln:

  1. Verflechtungen von künstlerischem Wissen, Erfahrungswissen und akademischem Wissen
  2. Queer of Color-Kritik und visuelle Kultur
  3. Künstlerische Strategien der Disidentifikation, des Überlebens und des Un-Archiving
  4. Re/Orientierungen und vorläufige Ankunftsorte

Kapitel 1 führt theoretisch zu Intersektionalität und zu Rassismus ein, Kapitel 2 schafft den Übergang zu den Kritiken von Queers of Color, damit Kapitel 3 auf die Werke der untersuchten Künstler*innen Hasan Aksaygın, Sunanda Mesquita und Aykan Safoğlu spezifisch eingehen kann. Kapitel 4 trifft Folgerungen für Re/Orienteirungen des Kunst- und Kulturbetriebs. Ein Literaturverzeichnis und ein Abbildungsverzeichnis beschließen den Band.

Inhalt

Bereits die Komposition des Bandes zeigt die inhaltliche Richtung an: Vorangestellt sind in Farbdruck auf über zwanzig Seiten die künstlerischen Arbeiten von Queers of Color, die in dem Buch genauere Betrachtung erfahren – Onat wolle den „Objekten folgen“ (S. 50), also den Arbeiten von Queers of Color. Abgesetzt sind die Kapitel über schwarze Doppelseiten mit weißer Schrift, die den Eindruck einer Umkehrung zu der übrigen Textgestaltung erzeugen. Auch die Angabe von Fußnoten in Randspalten, anstatt am Ende der Seiten, sind überraschend und bringen die Anmerkungen deutlicher zur Geltung. Das sonst Marginalisierte wird so zur dominanten Gestaltung.

Nach diesem ersten visuellen Zugang eröffnet Rena Onat die Theorie: In Kapitel 1 werden intersektionale Analysen im Hinblick auf den Kunst- und Kulturbetrieb vorgestellt. Onat interessieren dabei die Fragen „Was sind die Ideen, die ‚uns‘ befreien? Was ist nötig, damit Stereotypisierungen von Schwarzen Menschen als ‚Mörder‘, von People of Color als ‚Terroristen‘ oder ‚Fremden‘ nicht nur hinterfragbar werden, sondern tatsächlich aufhören und ersetzt werden durch angemessene, wertschätzende Repräsentationen, Blicke und Wahrnehmungen? […] Wie würde eine Welt aussehen, in der Körper von Schwarzen, Indigenous, of Color Personen, die queer, trans* oder inter sind — von QTIBIPoCs oder Queers of Color — nicht regiert werden durch heterosexistische, transfeindliche und rassistische Bilder und Blicke?“ (S. 38) Dabei geht es der Autorin aber auch darum, welche Möglichkeiten es gibt, die „dominanzkulturelle Repräsentations- und Blickregime herausfordern, kritische Gegenöffentlichkeiten schaffen, eigene Visionen entwickeln oder sogar neue Welten vorstellbar machen“. (S. 39)

Das erste Kapitel liest sich wie eine Einführung in Intersektionalität aus der Perspektive von Akteur*innen of Color. Onat schließt bei den Darstellungen an Sara Ahmed an, belässt es aber nicht dabei, sondern skizziert kenntnisreich die Arbeiten zentraler Akteur*innen aus dem wissenschaftlichen Kontext und von Aktivist*innen. Dabei werden auch kritische Theoriebildungen, wie sie etwa von der Queer Theorie geliefert werden, auf Ausschlüsse befragt. Onat arbeitet heraus, wie die konkreten Lebensverhältnisse – Rassismus, das Klassenverhältnis und das Geschlechterverhältnis – die Positionierung der Menschen prägen und es daher bedeutsam ist, dass Menschen ihre eigene Positionierung befragen. Eingebettet in diese theoretische Begründung positioniert sich die Autorin selbst (siehe oben).

„Deutsch“ im Hinblick auf die lokale Verortung der Künstler*innen stellt auch Herausforderungen an Onat, die sie im ersten Kapitel transparent macht. Vor dem Hintergrund zunehmend geschlossener Kulturbegriffe stelle sich die Frage, wie Queers of Color „verhindern können, dass Queerness mit Narrativen von Modernität, Patriotismus und Nationalismus verbunden wird, angesichts der Tatsache, dass bestimmte Formen queerer und progressiver Organisierung an bestimmte Formen nationalistischer und imperialistischer Dominanz gebunden sind“. (S. 60) Im Buch und bei der Auswahl der künstlerischen Arbeiten gehe es entsprechend nicht um „Deutschsein“ (S. 60), sondern darum, „dass die Künstler_innen mit ihrer Arbeit oder als Person teilhaben an Artikulationen von Queer of Color-Kritik im deutschsprachigen Kontext“. (Ebd.)

Abschließend werden im ersten Kapitel die Ausschlüsse von Queers of Color aus dem Kulturbetrieb und aus dem akademischen Betrieb der Kunsthochschulen beschrieben. Dabei führt die Autorin die Debatte auf den Zusammenhang von in den Institutionen wirkendem Rassismus und der materiellen Grundlage für den Lebensunterhalt der Künstler*innen eng. Aktuell werde Personen of Color vielfach der berufliche Weg erschwert oder versperrt und haben Künstler*innen of Color, selbst solche, die Bekanntheit erlangt haben, mit Benachteiligungen und der Organisierung ihres Lebensunterhalts zu kämpfen. Auch im akademischen Betrieb der Kunsthochschulen gebe es vielfache Marginalisierungen und Ausschlüsse. Wie für die vorherigen intersektionalen Betrachtungen legt Onat auch für diese kritischen Kapitel zum institutionellen Betrieb umfassende wissenschaftliche Analysen zugrunde.

Kapitel 2 führt die intersektionalen Betrachtungen auf künstlerische Praxen der „visuellen Kultur“ eng. Rassistische Stereotypisierungen der Dominanzgesellschaft werden fokussiert auf das Zusammenspiel von rassistischen Zuschreibungen und Sexualität benannt, die Strategie der „Disidentifikation“ beleuchtet. Sich bewusst und wahrnehmbar nicht mit rassistischen und heterosexistischen Vorstellungen der Dominanzkultur zu identifizieren, sondern sich bewusst zu „disidentifizieren“, könne Handlungsmöglichkeiten für Marginalisierte entfalten.

Kapitel 3 macht knapp die Hälfte des Buches aus und bringt die Künstler*innen Hasan Aksaygın, Sunanda Mesquita und Aykan Safoğlu und eine Auswahl aus ihren Arbeiten zur Geltung.

Für eine Rezension ergibt sich die Herausforderung, dass eine sehr kurze Darstellung zu Missverständnissen führt. Entsprechend soll hier resümierend auf das Kapitel gesehen werden – umfassend und differenziert geschieht die Betrachtung im Buch.

Onat arbeitet entlang der künstlerischen Arbeiten heraus, wie in der deutschen Dominanzkultur Bilder „des Anderen“ konstruiert werden. Muslimische Männlichkeit*en würden nicht in ihrer Differenziertheit gesehen, sondern homogenisiert und abgewertet (entlang der Arbeiten von Hasan Aksaygın dargestellt). Bei der Marginalisierung „der Anderen“ – von Queers of Color – spiele auch die Wissenschaft eine bedeutende Rolle (entlang der Arbeiten von Sunanda Mesquita dargestellt), wobei es auch gelingen könne, „sich nicht zum Schweigen bringen zu lassen“ (S. 210). Mit Bezug zu Aykan Safoğlu skizziert Onat Auswirkungen verschiedener Einflüsse auf die Identitätsbildung. Hier deutet sich die „Disidentifikation“ als subversive Praxis an, die dabei schon die „Identifikation“ mit sich führt (wenn auch in kritischer Auseinandersetzung).

Im abschließenden Kapitel 4 trifft Rena Onat Ableitungen. Sie sind pragmatisch und praxisnah am Kunst- und Kulturbetrieb und den akademischen Institutionen ausgerichtet und zeigen „alternative Modi des Wissens“ (S. 276), aber auch stärkende, empowernde bzw. „reparative[] Praxen“ (S. 285) von queeren Künstler*innen of Color auf.

Diskussion

Das vorliegende Buch „Queere Künstler_innen of Color: Verhandlungen von Disidentifikation, Überleben und Un-Archiving im deutschen Kontext“ bietet für den Wissenschaftsbetrieb und für die künstlerische und soziale Praxis einiges. Es werden teils international ausgezeichnete, aber hierzulande nahezu unbekannte Werke von queeren Künstler*innen of Color vorgestellt – und die Wirkung der Arbeiten für die Akademie sowie die künstlerische und soziale Praxis expliziert.

Lesende werden geradezu zu einer Selbstreflexion animiert. Bereits über den Aufbau des Bandes gibt Rena Onat eine Anleitung, wie eine Selbstreflexion beginnen könnte. Personen der Dominanzkultur werden so bestärkt, Privilegien wahrzunehmen und Rassismus im Kunst- und Wissenschaftsbetrieb betrieb als solchen zu erkennen; Personen of Color werden motiviert, Barrieren nicht als individuell anzusehen, sondern als strukturell organisiert; sie werden zu sich selbst schützenden und reparativen Praxen sowie zur Disidentifikation mit diskriminierender, ausschließender Wissensproduktion ermuntert.

Die Ausführungen von Rena Onat zeigen eine exzellente Kenntnis der internationalen theoretischen intersektionalen Literatur, wobei die Autorin den derzeitigen Sachstand anschaulich aufbereitet und Lesende mitnimmt.

Fazit

Es handelt sich um eine neue Art eines wissenschaftlichen Buches. Ästhetik und Inhalt spielen zusammen und führen Lesende – praxisnah (!) – zu neuen Erkenntnissen und Handlungsmöglichkeiten. Wer Intersektionalität verstehen will, wer Kunst- und Kulturbetrieb intersektional betrachten möchte, wer Auswege aus eigenen eingefahrenen Sichtweisen sucht, kommt an diesem Band nicht vorbei.

Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Es gibt 64 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.

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ISSN 2190-9245