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Tarek Shukrallah (Hrsg.): Nicht die Ersten

Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 29.01.2025

Cover Tarek Shukrallah (Hrsg.): Nicht die Ersten ISBN 978-3-86241-507-6

Tarek Shukrallah (Hrsg.): Nicht die Ersten. Bewegungsgeschichten von Queers of Color in Deutschland. Assoziation A (Berlin) 2024. 224 Seiten. ISBN 978-3-86241-507-6. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.
Reihe: Ver/sammeln antirassistischer Kämpfe - 1.

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Thema

Der von Tarek Shukrallah herausgegebene Sammelband „Nicht die Ersten“ versammelt im Sinne von Oral History die Stimmen zahlreicher Queers of Color, die aktivistisch und in Beratungsstrukturen Bewegung von Queers of Color in Deutschland gestaltet haben – meist in Auseinandersetzung mit rassistischen, nationalistischen, ausschließenden Strukturen der Gesellschaft und der mehrheitsdeutsch dominierten lesbischen und schwulen Communities.

Autor*in

Tarek Shukrallah ist Politik- und Sozialwissenschaftler*in, Community-Organizer*in und Autor*in. Seine*ihre Forschungsperspektiven zielen auf Queer-of-Color-Kritik, queere Bewegungsgeschichte sowie Intersektionalität mit regionalem Fokus auf Deutschland.

Für das vorliegende Buch war die Zusammenarbeit mit dem Schwulen Museum Berlin und dem dortigen Archiv wichtige Gelingensbedingung.

Aufbau

Auf einleitende Perspektiven, die die gesellschaftliche Situation von Queers of Color in Deutschland umreißen, folgen drei zentrale Kapitel: Im ersten Kapitel kommen Akteur*innen der ersten Selbstorganisationen von Queers of Color seit den beginnenden 1990er Jahren in Deutschland – fokussiert auf Berlin – zu Wort. Sie umreißen die Beweggründe und die Rahmenbedingungen der Gründung erster Initiativen. Im zweiten Kapitel schließen sich weitere Stimmen an, nun gerade auch von jüngeren Akteur*innen. Zugleich werden in theoretischen Beiträgen Perspektiven auf Archive eröffnet. Im den Band beschließenden dritten Kapitel folgen Beiträge, die das „Weiter“ skizzieren – und die die lesenden Personen und den institutionellen Betrieb zu weiterer Beschäftigung mit den Perspektiven von Queers of Color einladen. Es schließt sich ein Anhang an.

Inhalt

Bereits in den Einleitungen, die von Tarek Shukrallah bewusst im Plural benannt werden, wird der grundlegende Rahmen für den Sammelband prägnant deutlich. Die Situation von Queers of Color Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre wird im Kontext der zunehmenden rassistischen Gewalt im vereinigten Deutschland verortet: „Für die einen wurde der Mauerfall zum Gelegenheitsfenster, um die radikalen Schwulen- und FrauenLesbenbewegungen der 1970er und 1980er Jahre durch eine integrationistische schwul-lesbische Bürgerrechtsbewegung zu ersetzen und ‚Staat zu machen‘. Für die anderen gingen die 1990er Jahre als ‚Baseballschlägerjahre‘ in die Geschichte ein, als kollektive Erfahrung einer neuen Eskalationsstufe rassistischer Gewalt auf der Straße, der Stimmungsmache in den Medien und der Politik in den Parlamenten. Beides geschah im Jubel um die Nation.“ (S. 12) In dieser Bedrohungslage für Personen of Color bilden sich die ersten Gruppen von Queers of Color. Das vorliegende Buch wolle einige der Anfangsgeschichten – der „Queeren Elders of Color“ (S. 14) –, an die heute angeknüpft werden kann, bereitstellen. Einige der Wegbereiter*innen berichten.

Der zeitliche Rahmen wird von Shukrallah bewusst auf „Bewegungen“ gelegt, auf erste Gruppen die entstehen, in denen sich Queers of Color zusammentun. Hintergrund ist die archivbedingte Annahme, dass in Deutschland, anders als in den USA, „die schwulen und lesbisch-feministischen Bewegungen in den 1970er Jahren in Westdeutschland nach meinem Kenntnisstand von Beginn an ausschließlich weiß und weit überwiegend akademisiert“ gewesen seien (S. 15f). Die Begrenzung auf „Bewegung“ im Sinne der Herausbildung von Gruppen prägt die weiteren Betrachtungen, ebenso die angezeigte Orientierung an Entwicklungen in Westdeutschland und insbesondere Westberlin.

Ziel des vorliegenden Bandes ist, einen weiteren Baustein für ein „queeres Archiv Schwarzer Menschen und People of Color“ zu liefern (S. 17). Geschichten sollen in den Blick gelangen, damit sie die Möglichkeit haben, in ein kollektives Gedächtnis einzugehen. Der Band bietet hierfür Perspektiven an, gleichzeitig benennt Shukrallah die Begrenzungen einerseits des Archivs: Was wird aufbewahrt? Wie und wo wird gesucht?; andererseits der Schreibenden: Wer kann berichten? Wer wird gehört? Durch das Wahrnehmen und das Verstehen der gewesenen Kämpfe (S. 26f), aber auch Orte des Rückzugs und Empowerments (S. 41f), ließen sich auch Ableitungen für heutige Aushandlungen treffen.

Kapitel 1 bringt vielstimmig die Erfahrungen der „älteren“ Queers of Color zur Geltung, die seit dem Ende der 1980er und dem Beginn der 1990er Jahre die Herausbildung der ersten Gruppen von Queers of Color gegründet und gestaltet haben. Dabei taucht immer wieder als wichtiger Bezugspunkt ADEFRA auf, die „Initiative Schwarze Deutsche Frauen“ (später „Schwarze Frauen in Deutschland“), die sich Mitte der 1980er Jahre gegründet hat. Und auch weitere Motive kehren wieder: Es ist die rassistische Pogromstimmung, die sich mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten (und Westberlin) zeigte. Es sind die rassistischen Ausschlüsse in den mehrheitsdeutschen lesbischen und schulen Communities. Es ist das Bedürfnis nach dem Austausch mit Gleichgesinnten – ohne Rassismus und Rechtfertigungsdruck –, aus dem auch gemeinsames politisches Handeln erwachsen kann.

Koray Yılmaz-Günay berichtet von dem Entstehen von GLADT („Gays und Lesbians aus der Türkei“) im Jahr 2003, hervorgegangen aus der anfänglichen Gruppe „Türkgay“ (Berlin); vorausgegangen waren schon Aktivitäten einiger Mitglieder in den Initiativen „Arbeitskreis MigrantInnen unterschiedlicher sexueller Orientierungen“ (AMUSO) und der „Schwulen Internationale Berlin“. Jasmin Eding skizziert im Anschluss daran die Entwicklungen von ADEFRA und wie sie dort ankam: „Katharina [Oguntoye] war die erste Schwarze lesbische Frau, die ich kennengelernt habe, und auch die erste Schwarze Akademikerin, die ich kennenlernen durfte. Ich bin in einem kleinen bayrisch-schwäbischen Ort aufgewachsen. Zwar gab es dort auch andere Schwarze Menschen, aber zu denen hatte ich damals keinen Kontakt. Bis ich Katharina kennenlernte, kannte ich sonst nur meine Geschwister. Eine Schwarze Person, die studiert hat, kannte ich erst recht nicht.“ (S. 80 f.) Eding zeigt von ihren biografischen Zugängen her das Entstehen und die Entwicklung von ADEFRA bis heute auf. Birol Işık skizziert noch deutlicher die Veränderungen, die sich mit dem Mauerfall ergaben und die Herausbildung der „Schwulen Internationale Berlin“, auf die Yılmaz-Günay Bezug nimmt. Işık: „Auf einmal die Erfahrung zu machen, direkt im Visier der Ausgrenzung zu sein, war sehr schmerzlich für mich. Diese Alltagserfahrung von Ausgrenzung kannten wir bis dahin nicht.“ (S. 94) „Das Westberlin der 1980er Jahre, also vor dem Mauerfall, war eine Inselstadt. Jeder, der etwas oppositionell eingestellt war oder eine Veränderung im Leben wollte, zog nach Berlin. Von Militärdienstverweigerern bis hin zu queeren Leuten, um einfach einen Sprung zu wagen. Insofern war in den 1980er Jahren eine Insel von Glückseligkeit.“ (S. 92) Die mit den 1990er Jahren aufkommenden Ausgrenzungserfahrungen führten zum Entschluss, sich aktiv antirassistisch in schwulen Kontexten und schließlich auch mit lesbischen Bezügen („Schwul-lesbische Internationale Berlin“, „SLIB“) zu engagieren. Işık berichtet über die Aktivitäten im Schöneberger Kiez und insgesamt in Berlin; abschließend über die Gründung der HIV/Aids-Beratungsstelle „AIDS Danışma Merkezi“. In die weiteren Entwicklungen in lesbischen Kontexten der 1990er und frühen 2000er Jahre – in der Lesbenberatung und darüber hinaus – geben Saideh Saadat-Lendle und İpek İpekçioğlu in ihren Beiträgen Einblicke, İpekçioğlu leitet dabei zugleich in den künstlerisch-aktivistischen Teil über. Selbst DJ beschreibt sie den stacheligen Weg, dass auch bei lesbisch-schwulen Partys türkische und arabische Titel gespielt werden konnten und die Herausbildung spezifisch interkultureller queerer Partyformate. Die künstlerischen Perspektiven vertiefen Zezé Soarez, Cihangir Gümüstürkmen und Amir Saëmian.

Kapitel 2 ist bildhaft mit „Räume schaffen: Kämpfe, Kultur und Empowerment“ überschrieben. Hier werden in den Beiträgen von Paisley Dalton, Tsepo Bollwinkel Keele und Jin Haritaworn aktuelle Verknüpfungen zu heutigen Kämpfen gezogen. Deutlich wird, wie an die „Aufbauarbeit“ angeschlossen werden kann – auch im Hinblick auf Trans*-Aktivismus – und wie weiterhin Orte der Begegnung, nicht-diskriminierende Rückzugsorte eine wichtige Grundlage sind, die den Boden für politischen Aktivismus und kulturelles Engagement bieten. Newroz Çelik und Mina Jawad würdigen dabei in ihren Beiträgen explizit die Leistungen der „Elders“, der Altvorderen. Die weiteren Beiträge – von Jasco Viefhues, Thao Ho und Wassan Fouad Ali – reflektieren die archivalische Arbeit. Viefhues geht dabei auf die große Bedeutung und die Herausforderungen der Einrichtung von Archiven für die Geschichte Marginalisierter ein, während die anderen beiden insbesondere auf ihre Arbeit im Archiv fokussieren: Wie lässt sich suchen? Wie geht man Lücken und Leerstellen nach, für die es überhaupt adäquate „Suchroutinen“ braucht? Sarnt Utamachote reflektiert vor diesem Hintergrund die Visualisierungen und welche Bedeutung sie in (queeren) Wissensbeständen haben.

In Kapitel 3 sehen Katharina Oguntoye, Tarek Shukrallah und sookee dialogisch auf die Ausgangspunkte zurück und setzen sie mit aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen in Beziehung. Sie diskutieren die widersprüchlichen Entwicklungen, die einerseits mehr Rechte für queere Personen in der kapitalistischen Gesellschaft bereitstellen, andererseits rassistisch und ökonomisch die Möglichkeiten queerer Menschen begrenzen. Beide Entwicklungen liefen parallel – rassistische Diskriminierung und Gewalt, ökonomisch eingebunden (prekäre Lebensweisen) spitzten sich zu und machten weiteren Aktivismus erforderlich. Tarek Shukrallah gibt abschließend einen Leseauftrag: eine annotierte Leseliste zeigt ausgewählte Zugänge zu weiteren Queer of Color Perspektiven auf.

Diskussion

Der Band ist wichtig. Er bringt Bewegungsgeschichten von Queers of Color insbesondere seit den 1990er Jahren in den Blick. Deutlich wird die Mehrstimmigkeit: Es sind verschiedene Gruppierungen entstanden, die jeweils Raum für Empowerment und Fürsorge eröffneten, darüber hinaus die Grundlage für politischen Aktivismus bereitet haben. Dass diese für queere Bewegungsgeschichte in Deutschland so zentralen Gruppen und Ereignisse erst nach und nach in der dominierenden – mehrheitsdeutschen – queeren Geschichtsschreibung ankommen, ist ein Skandal! Der Wert des Bandes ist hier nicht zu unterschätzen.

Aber dem Band „fehlen“ die vorangehenden Kapitel – zu den 1970er und 1980er Jahren sowie der Zeit davor –, bzw. es wären hier Folgearbeiten erforderlich. Nur weil Quellen für diese Zeiträume gerade aufgrund der ungewohnten „Suchroutinen“ nicht so einfach zugänglich sind, da Menschen sich nicht zwingend in die normativen Identitäten „lesbisch“, „schwul“, „trans*“ integrieren ließen, bedeutet es nicht, dass es nicht queere Geschichte und Kämpfe von Personen of Color gegeben hätte. Zugleich ist in Rechnung zu stellen, dass das westdeutsche und westberliner Ausländerrecht gerade im Kontext des familiären Zusammenlebens normativ sanktionierte – es brauchte erst Kämpfe vor den Kämpfen, bevor Menschen sagen konnte, „Ich bin schwul/​lesbisch/​trans*/(queer).“ – und dafür nicht für psychisch krank erklärt und abgeschoben worden wären. Auch wenn etwa Ali Uçar in seinen wegweisenden Arbeiten zur Lebenssituation der westberliner und westdeutschen Gastarbeiter*innen nur randständig und eher institutionalisiert auf Homosexualität eingeht [1], so werden die Sanktionierungen und die massive psychische und physische Gewalt schon in dieser Zeit deutlich. Ein knapper Auszug: „Anläßlich des 17. Juni 1983 protestierten rechte und ultrarechte Kräfte unter dem Namen ‚Konservative Aktion‘ in West-Berlin, im Bezirk Kreuzberg, wo die meisten türkischen Arbeiterfamilien wohnen, gegen die Ausländer. Im Zusammenhang mit dem Fußballspiel BRD-Türkei kündigten die Neofaschisten ebenfalls Aktionen gegen die Ausländer an. Trotz eines anerkannten Rechtes auf Asyl wurde der 23jährige Türke Cemal Altun 13 Monate lang in Auslieferungshaft gehalten. Er wurde psychisch kaputt gemacht, bis er am 30.8.1983 im West-Berliner Verwaltungsgericht Selbstmord beging. Am Silvesterabend 1983 starben sechs Ausländer in West-Berliner Abschiebehaft durch einen Brand in ihrer Zelle. In Frankfurt wurde ein neunjähriges türkisches Kind, Enver Gümüsoluk, von deutschen Jugendlichen so mißhandelt, daß es trotz ärztlicher Behandlung starb. Kinder, wie Kiray Inci, Melek Aydogan, werden festgenommen und in Abschiebehaft gesteckt…“ ([2] S. 55) „Die 25 Jahre alte Türkin Semra E. hatte sich aus Protest gegen die Ausländerfeindlichkeit auf der Straße in Hamburg mit Benzin übergossen und angezündet. Sie starb im Krankenhaus. Am Vorabend sagte sie: ‚Wenigstens sollten wir hier nicht wie Hunde behandelt werden von den Deutschen. Ich möchte wie ein richtiger Mensch behandelt werden.‘“ ([2] S. 61.)

Auch die Kraft queerer Menschen of Color wird in die Auseinandersetzung mit solcher staatlicher und nicht-staatlicher Gewalt geflossen sein, aktivistisch oder auch zur eigenen Gesunderhaltung. Zugleich war nicht-normative Lebensweise für sie bedrohlicher als für zahlreiche mehrheitsdeutsche Lesben und Schwule. Führen wir uns dazu vor Augen, dass noch bis in die 1990er Jahre Regelungen des § 175 gegen mann-männlichen Sex in den alten Bundesländern wirkten und lesbischen Frauen noch bis in die 2000er hinein aufgrund „ihres Lebenswandels“ von deutschen Behörden die Kinder weggenommen wurden – auch mehrheitsdeutschen; und hier ist bereits einiges über die existenziellen, die psychischen Auswirkungen geschrieben worden. Nicht-normative Lebensweisen von Menschen in Gastarbeiter*innen-Familien waren noch zusätzlich von der rassistischen Politik und Gewalt betroffen, in den 1970er Jahren, den 1980er Jahren, auch den 1990er Jahren – und sich weiter zuspitzend heute.

Es gilt entsprechend genauer hinzuschauen. Neuere feministische Biografieforschung hat zuweilen darauf verwiesen, dass in der Geschichtsschreibung oft die Fragen nach der Sexualität und „dem Lebenswandel“ aufhörten, wenn Menschen geheiratet hatten (damals noch rein hetero). Heute ist man dazu übergegangen hier gerade genauer hinzusehen und die Frage nach Sexualität zu stellen, auch nachdem eine Ehe eingegangen wurde. Gerade gleichgeschlechtlicher Sex, zudem interkulturell, entzieht sich den erst neueren westlichen Modellen der klaren und eindeutigen Identifizierung. Das bedeutet hingegen nicht, dass hier nicht dennoch biografisch Kämpfe und Aushandlungen liegen, – sie sind nur verborgener und nicht auf den ersten Blick erkennbar. Gerade solch kleine Hinweise wie bei dem Psychologen und Psychotherapeuten Fatih Güç (1984) laden entsprechend zu einem genaueren Hingucken ein: „Fast alle türkischen Arbeitskräfte kommen aus ökonomischen Gründen bzw. zur Zukunftssicherung, zur Sicherung der familiären Existenz, nach Deutschland. Aus meiner Arbeit sind mir einige Ausnahmen bekannt, wo die Menschen aus anderen, besonders persönlichen Gründen auswanderten, z.B. zur Erlangung eigener Selbstständigkeit, wegen Konflikten mit der Umwelt, zur Befreiung von dem Druck der Umgebung – dies besonders bei vielen allein ausgewanderten und auch allein hier lebenden Frauen –, aus Abenteuerlust, um aus unangenehmen Lebenssituationen zu fliehen usw.“ ([3] S. 87) Einerseits lohnt ein Blick auf die Sexualität bei all diesen Arbeitskräften, andererseits sind es vielleicht gerade die angeführten „Ausnahmen“, von denen einige queere Bewegungsgeschichte repräsentieren könnten. Das gilt im Übrigen auch für die Stricher und Sexarbeiter*innen in Berlin, die nach Einschätzung von „subway – Hilfe für Jungs“ gerade „früher“ mehrheitlich türkeistämmig gewesen seien: „War damals der Kiez (Stricherszene in Schöneberg) voll mit türkischen Jungs, sind sie heute eher die Ausnahme.“ ([4] S. 52 f.)

Aber selbst wenn man durch bisherige Aufzeichnungen lesbisch-schwuler Bewegungsgeschichte in Deutschland geht, zeigen sich Repräsentationen von Queers of Color. Schon auf den Fotos der ersten Demonstrationen in Westberlin sind sichtbar – nach äußerer Zuschreibung – Personen of Color dabei. Im Film „Stadt der verlorenen Seelen“ aus dem Jahr 1983 (Regie Rosa von Praunheim) sind Personen of Color präsent, wie auch in anderen der „frühen“ Filme. Eine fokussierte Durchsicht des exzellenten Nachschlagewerks „Out im Kino: Das lesbisch-schwule Filmlexikon“ (2003, hg. von Axel Schock und Manuela Kay) könnte hier Zugänge zu verschütteten Anteilen von Queers of Color bringen. Ebenso eine Betrachtung der großen migrantischen Proteste, wie dem Ford-Arbeiterstreik und den Demonstrationen gegen den westberliner „Lummer-Ausländererlass“. Etwa zur Demonstration am 28.11.1981 unterzeichneten mehr als 50 oft migrantische Organisationen den Aufruf, der in deutscher und türkischer Sprache verteilt wurde. [5] Hier wäre ein Blick auf queere Engagierte interessant – ebenso ist relevant, warum der Aufruf nicht von den lesbischen und schwulen Organisationen der deutschen Mehrheitsgesellschaft unterschrieben ist. Wo waren die mehrheitsdeutschen Queers im Hinblick auf die rassistische Politik und die Gewalt? Auch das ist lesbisch-schwule Bewegungsgeschichte.

Wissenschaftlich interessant ist, dass vor dem Hintergrund der stattfindenden Gewaltakte – über die zahlreiche zeitgenössische Publikationen für die 1970er und 1980er Jahre Auskunft geben – sowie der besonderen Bedeutung des westberliner „Lummer-Erlasses“ für die rassistische politische Entwicklung in der gesamten Bundesrepublik, die Zeitzeug*innen von einer weitgehend ruhigen Situation in Westberlin berichten. Wurde diese Gewalt nicht wahrgenommen, möglicherweise durch die „Bubble“ queerer Subkultur – oder ist ihre Relevanz vor dem Hintergrund der Pogromstimmung zu Beginn der 1990er Jahre verblasst? Wie lässt sich bei einer verblassenden Wahrnehmung wieder Sensibilität erlangen – für die stattgefundene Gewalt; und für die Umstände, in denen queere Menschen (of Color) damals lebten und bereits aufgrund ihrer Abweichung von der Norm pathologisiert und psychiatrisiert worden (- auch wenn danach vielleicht noch massivere Gewalt folgte)?

Fazit

Der vorliegende Band „Nicht die Ersten: Bewegungsgeschichten von Queers of Color in Deutschland“ regt zum Nachdenken und zu weiteren Reflexionen ein. Das ist das Beste, was einem Buch gelingen kann. Das Buch sollte den Auftakt für weitere Forschungen zu queerer Bewegungsgeschichte leisten – und bisherige dominante Narrative herausfordern. Es gilt jenseits der festen Identitäten zu suchen und zunächst abseitig erscheinende Wege zu beschreiten, um den Hinweisen auf queere Bezüge in Biografien nachzugehen.


Literatur

[1] Uçar, A. (1975). Die soziale Situation der türkischen Arbeitnehmer in Westberlin. Westberlin: Arbeitskreis Ausländerbeschäftigung; Uçar, A. (1982). Die soziale Lage der türkischen Migrantenfamilien. Berlin: Express Edition; Uçar, A. (ca. 1996). Kulturbedingte Verhaltensauffälligkeiten bei türkisch-muslimischen Schülern – der Versuch einer kasuistischen Darstellung und der sich daraus ergebenen Schlussfolgerungen. Berlin: Technische Universität.

[2] Uçar, A. (1984): Ausländerfeindlichkeit macht krank. In: Kentenich, H., Reeg, P., Wehkamp, K.-H. (Hg.): Zwischen zwei Kulturen: Was macht Ausländer krank? Berlin: Verlagsgesellschaft Gesundheit mbH. S. 55–63.

[3]  Güç, F. (1984): Die geteilte Familie: Auswirkungen des Wanderungsprozesses auf die Familiendynamik. In: Kentenich, H., Reeg, P., Wehkamp, K.-H. (Hg.): Zwischen zwei Kulturen: Was macht Ausländer krank? Berlin: Verlagsgesellschaft Gesundheit mbH. S. 86–95.

[4]  Sub/Way Berlin (2001): Auch schwule Migranten gehen anschaffen. In: Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport, Fachbereich für gleichgeschlechtliche Lebensweisen (Hg.): Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten in Berlin. Dokumente lesbisch-schwuler Emanzipation des Fachbereichs für gleichgeschlechtliche Lebensweisen Nr. 19. Berlin. S. 51–53.

[5]  Sammlung Jürgen Henschel im Museum Friedrichshain Kreuzberg. https://www.fhxb-museum.de.

Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Es gibt 64 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.

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