Felix Krämer: Leben auf Kredit
Rezensiert von Dr. Dieter Korczak, 30.05.2025

Felix Krämer: Leben auf Kredit. Menschen, Macht und Schulden in den USA vom Ende der Sklaverei bis in die Gegenwart.
Campus Verlag
(Frankfurt) 2024.
323 Seiten.
ISBN 978-3-593-51768-1.
D: 40,00 EUR,
A: 41,20 EUR.
Reihe: Strukturwandel des Eigentums - Band 3.
Thema
Schulden prägen in problematischer Weise das Leben vieler Menschen – in Deutschland, in Europa, in den USA. Rund jeder vierte Privathaushalt in Deutschland nimmt jährlich einen neuen Ratenkredit auf. Die Summe der an Privatpersonen vergebenen Kredite ist astronomisch. Sie beläuft sich 2024 auf rund 1.591,7 Milliarden Euro. Viele Menschen führt eine Kreditaufnahme in die Überschuldung. Die Überschuldungsquote in Deutschland liegt im Jahr 2024 bei 8,09 Prozent, das heißt fast 5,6 Millionen Bundesbürger/innen über 18 Jahre sind überschuldet und weisen nachhaltige Zahlungsstörungen auf. Der Autor Felix Krämer hat sich in seiner Analyse des Lebens mit Schulden auf die USA konzentriert. Er liefert eindringliche Belege dafür, dass seit dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs in den USA insbesondere Schwarze, Frauen, die Arbeiterklasse und Migrant/innen höheren Kreditrisiken oder untragbaren Kreditkonditionen ausgesetzt waren und sind. Mit seinem Fokus auf Prekarisierung durch Verschuldung füllt das Buch ein Kapitel in der neuen Kapitalismusgeschichte.
Autor
Der Autor ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Neuere und Nordamerikanische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Erfurt. Im Sonderforschungsbereich „Strukturwandel des Eigentums“ ist er Projektleiter des Teilprojektes „Eigentum am eigenen und am anderen Körper in den USA vom 18. bis zum 20. Jahrhundert“. Er studierte Geschichtswissenschaften, Politische Wissenschaft und Gender Studies an der Universität Hamburg.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist aus seiner Habilitationsschrift entstanden. Seit 2009 publiziert Krämer zu Körpergeschichten, seit 2016 zu dem Thema Finanzen und Schuldendifferenz. In seiner Sammelrezension von Finel-Honigman, Graeber und Vogl weist er darauf hin, dass diese drei Arbeiten als Anregung für künftige historiografische Untersuchungen mit einer konkreten subjektivierungstheoretischen Perspektive dienen können. „So versprechen Fragen danach, wie Menschen in Geld- und Finanzsystemen auf unterschiedliche Weise Anerkennung als Subjekte erhalten haben oder wie sich die moralische Wertung von Verschuldung entlang verschiedener Stratifizierungsachsen darstellte, produktive Ergebnisse“. (Krämer 2016). Offensichtlich hat er diesen Ansatz für seine Habilitationsarbeit gewählt.
Aufbau
Nach einer ausführlichen Einleitung und Hinführung zu dem Thema folgen sechs thematische Kapitel. Im ersten Kapitel befasst sich der Autor mit Sharecropping nach 1865. Dabei handelt es sich um die Abgabe eines Teils der Ernte an die Verpächter und wie diese Regelung die Pächter dauerhaft in Schuldverhältnisse bringt. Kapitel zwei behandelt sogenannte Kredithaie („Loan sharks“), die Arbeiter/innen ihre Monatslöhne abpressen. Das dritte Kapitel widmet sich dem Zusammenhang von Hypothekenkrediten, Hauseigentum und toxischen Finanzierungsformen. Auf das fatale Geflecht von Studienkrediten und dauerhafter Überschuldung geht das vierte Kapitel ein. Im fünften Kapitel wird geschildert, wie das Angebot und die Nutzung von Kreditkarten in Dauerschuldverhältnisse führen. Das sechste Kapitel schärft den Blick auf die Genese von Unterhaltsschulden. Das kurze Schlusskapitel ist eine Zusammenfassung der unterschiedlichen Bedeutung von Schulden für die Individualschicksale, vom Leben auf Kredit und somit im Schatten von Schulden.
Inhalt
Die unterschiedliche Bedeutung, die Schulden für verschiedene Menschen haben können, diese synchrone Dimension erfasst der Autor mit dem Begriff Schuldendifferenz. „Schuldendifferenz ist der sozialhistorische Begriff, der im Zuge der geschichtlichen Darstellungen für ungleiche Risikoverteilung in der Schuldenökonomie geprägt und verwendet wird“ (Seite 278).
Mit dem diachronen Begriff Schuldenschuld benennt der Autor die geschichtliche Verschiebung von Schuldverhältnissen.
Basierend auf diesen beiden analytischen Begriffe wird in dem Buch geschichtswissenschaftlich nachgezeichnet, „welche Handlungsräume, moralische oder politische Rationalitäten, [ ] die Kapitalisierung von Kredit und Schuld in den USA […]immer wieder hervorbrachte“ (Seite 14). Der Autor zeichnet die Geschichte der Verschuldung von Menschen als eine Geschichte verschiedener Möglichkeiten und Erfahrungen nach und sucht nach der Macht, die Geld, Risiken und Kredit im Leben der Menschen verklammert.
Kapitel 1 (Seite 55 ff)
1865 endete in den USA der Bürgerkrieg zur Befreiung versklavter Menschen und zur Durchsetzung einer liberalen anstelle einer feudalen Wirtschaftsordnung. Das Ende des Krieges brachte zwar vielen versklavten African Americans rechtliche Freiheit, um sie dann über den Mechanismus des sharecroppings in diesmal finanzielle Abhängigkeitsverhältnisse einzugliedern. Die Körper der Menschen konnten als Eigentumsobjekt verpfändet werden. Kremer beschreibt anschaulich an vielen Fallbeispielen die Entwicklung vom 'slave capitalism' in den 'racial capitalism'. Er zitiert unter anderem den befreiten Sklaven Cal Woods: „Slavery was pretty bad itself but the bad time came after the war“ (Seite 74) Die jüngere Geschichtsschreibung zeigt, wie die ökonomische Entwicklung in den USA von der Benachteiligung von African Americans profitiert hat.
Kapitel 2 (Seite 85 ff)
Die Russel Sage Stiftung bemühte sich 1916 ein Gesetz durchzusetzen, das die Bedingungen für Kleinkredite regeln sollte. Die Wucherpraxis von Kredithaien war der ausschlaggebende Anlass. Zur Bewältigung der Lebenshaltungskosten mussten häufig Kleinkredite aufgenommen werden, die in der Regel zu größeren Schuldbeträgen führten. Kremer zeigt, wie sich die Wucherpraxis mit Schuldzuschreibungen hinsichtlich des angeblich amoralischen Charakters vor allem von Schuldnerinnen verknüpft und wie die Eintreibung von Krediten zu einer gewinnträchtigen Risikobewirtschaftung wird.
Kapitel 3 (Seite 135 ff)
Es wird die langjährige, über Jahrzehnte anhaltende Diskriminierung von Nicht-Weißen im Immobilienkreditmarkt geschildert. Auch die staatlichen Finanzierungseinheiten, die Hypothekenrisiken versichern, 'Ginnie Mae', 'Fannie Mae' und 'Freddie Mac', haben die Schuldendifferenz nicht abgeschafft. Prekäre Interessenten bekamen in der Regel die schlechteren Risiken (Häuser) angeboten. „Über die Zuschreibung des Risikos Schwarzer Nachbarschaften materialisierte sich die unsichtbare Ressource als scheinbar objektive zu legitimierend Schuldendifferenz und wurde im Wohnungsmarkt sozialräumlich verankert.“ (Seite 173) Im Lauf der Immobilienblase 2008 wurden 'Fannie Mae' und 'Frederic Mac' aufgrund von faktischer Zahlungsunfähigkeit mit einem Rettungskredit von 187 Milliarden Dollar gestützt. Die Subprime lenders erhielten nichts und wurden zwangsgeräumt.
Kapitel 4 (Seite 175 ff)
In den USA ist es aufgrund der Finanzierung von Colleges und Universitäten bereits für Familien mit mittlerem Einkommen nur möglich, über Studienkredite zu studieren. Die Gebühren an einer privaten Universität liegen pro Semester zwischen 12.000 und 22.000 Dollar, bei öffentlichen Hochschulen liegen sie zwischen 8.000 und 18.000 Dollar. An der Harvard University betragen die Studiengebühren rund 50.000 Dollar. Die zusätzlichen Kosten für ein Zimmer auf dem Campus betragen 78.000 Dollar pro Jahr. Das Gesamtvolumen der Studienschulden in den USA liegt zu Beginn der 2020er Jahre bei 1,7 Billionen Dollar. Das System der Finanzialisierung ist somit in die Bildungsbiografien vorgedrungen, wenn auch mit ungleichen Risikoverteilungen. „African Americans, Hispanics und Frauen bekamen weniger für ihre über Kreditaufnahme vorfinanzierte Investition in zukünftige Kapazitäten auf dem Arbeitsmarkt, hatten länger und höhere Schulden zu bedienen oder gerieten schneller und in heftigere Strudel von Überlastung und Überschuldung.“ (Seite 195)
Kremer erforscht an der Geschichte der Studienkredite die Genealogie des verschuldeten Selbst, auch den Zusammenhang von Krankheit und Schulden, sowie die Verpfändung der eigenen Zukunft.
Kapitel 5 (Seite 211 ff)
Das Kreditkartengeschäft boomt. Die Kreditkarte ist ein Kennzeichen für Kreditwürdigkeit. Menschen in den USA erhalten unaufgefordert Kreditkarten zugeschickt. Die Verteilung von Kreditkarten an Jugendliche und junge Erwachsene ist ein Einfallstor für lebenslange Verschuldung. Die durchschnittlichen Kreditkartenschulden betragen aktuell rund 6.000 Dollar in den USA. Im ersten Quartal 2023 erreichten die Kreditkartenschulden in den Vereinigten Staaten mit 1,03 Billionen Dollar ein rekordverdächtiges Niveau. Der durchschnittliche effektive Jahreszins für Kreditkarten mit Zinsbelastung liegt bei 20,92 Prozent.(Zum Vergleich: Aktuell haben Überziehungskredite in Deutschland einen Zinssatz von 10,3 Prozent.) Kremer weist darauf hin, dass bei einer wachsenden Anzahl von Personen, dass Einkommen unter der Armutsgrenze liegt und Kreditkarten zunehmend genutzt werden, um den Lebensunterhalt zu gewähren. Nach seiner Ansicht hat die Bedeutung der Kreditkarte für die Alltagsgeschichte des neoliberalen Kapitalismus in den USA einen sehr hohen Stellenwert.
Kapitel 6 (Seite 249 ff)
Der Autor analysiert den Körper als Archiv der Schuldenökonomie. Die prekäre Weiblichkeit und Männlichkeit wird körpergeschichtlich in den Blick genommen. Macht realisiert sich nicht nur in Polizeigewalt und Gerichtsentscheidungen. Das Körperskript, über das Schwarze Körper verschuldet werden, stammt aus der Sklaverei und übersetzt sich als Schuldenschuld bereits in die Geschlechterverhältnisse der Postsklavereigesellschaft. Schwarze Körper gelten als defizitär und kriminalisiert, die Schwarze Familie wird als dysfunktional diskriminiert. Der Tod von George Floyd (I can't breathe) wird beispielhaft erwähnt, um die Schuldendifferenz zwischen ihm und Donald Trump deutlich zu machen. Im Diskurs um die Sozialfigur der 'Welfare Queen' verdeutlicht der Autor die Verklammerung von strukturellem Rassismus und Schuldenpolitik.
Schlussbetrachtung (Seite 277 ff)
Im Schlusskapitel resümiert der Autor das Thema und die Ergebnisse der Arbeit. Es geht ihm „um eine historische Machtanalyse, die Risiken als unsichtbare Ressource markiert und die Wirkungsweisen und Dimensionen von Schuldendifferenzen im Leben von vielen Menschen ausbuchstabiert und nachzeichnet.“ (Seite 277) Laut Kremer ist die Finanzkrise 2007/2008 der Ansatzpunkt für eine neue Kapitalismusgeschichte. Die Finanzkrise ist in einem gesellschaftspolitischen Klima in den USA entstanden, das von Schuldenökonomie und Verschuldungsgeschichte durchdrungen war. Dazu gehören die Verarmung und Strafverfolgung von prekären Gruppen, die Zunahme von Kleinkrediten und payday loans, der Verlust von subprime finanzierten Häusern, das Anschwellen der Studienverschuldung, die Aufblähung des Gefängniswesens. Die neue Kapitalismusgeschichte besteht auch darin, die Erfahrungen und Handlungen von Menschen einzubeziehen, das Leben im Schatten von Schulden zu beschreiben.
Diskussion
Entsprechend seinem geschichtswissenschaftlichen Ansatz beschreibt Kremer die Schuldenproblematik anhand von zahlreichen menschlichen Schicksalen. Die Lebensgeschichten belegen eindringlich, wie der amerikanische Bürgerkrieg das Versprechen auf Freiheit nicht einlöste, sondern im Gegenteil eine dauerhafte ökonomische Abhängigkeit, eine Schuldenschuld, produzierte. Es wird auch deutlich, dass die Machtausübung gegenüber finanziell prekär lebenden Menschen über die Fortschreibung von Schulden und über die unterschiedliche Beurteilung von Menschen als Risiko erfolgt. Die Begriffe Schuldenschuld und Schuldendifferenz für die Beschreibung und Analyse dieser Entwicklungen und Zustände sind sinnvolle explanatorische Kategorien. Auch die Betrachtung von Risiken als unsichtbare Ressource der Machtausübung ist für die gegenwärtige Diskussion des Themas Schulden, Verschuldung und Überschuldung sehr wertvoll. Für den deutschen Sprachraum sind die Beobachtungen zur Finanzierung von Studiengebühren und die Ausweitung des Kreditkartengeschäftes von besonderem Interesse, zumal US-amerikanische Entwicklungen mit einer zeitlichen Verzögerung regelmäßig nach Europa herüberschwappen. Überraschend ist, dass Kremer in seiner Publikation den Klassiker David Caplowitz weder genannt noch berücksichtigt hat. Caplowitz hat in seinem Buch „The poor pay more“, 1963 erschienen, die Mechanismen beschrieben, aufgrund derer arme Menschen mehr bezahlen und auch höhere Opportunitätskosten haben. Dieses Werk sollte bei einer Beschreibung der Schuldengeschichte berücksichtigt werden. Der vorliegende Band reiht sich ein in die in den letzten Jahren erneut intensiv diskutierte Bedeutung des Kolonialismus und der Sklaverei. Die Einbeziehung der von Sklaven geleisteten Arbeit auf den Plantagen ist für die Geschichte des Kapitalismus wesentlich, aber auch die Tatsache, dass die Plantagenbesitzer regelmäßig bei Sklavenhändlern verschuldet waren. Angesichts der Risiken der Schiffspassagen der letzteren machten Versicherungsprämien nicht selten 15 % vom Gesamtumsatz aus (Inikori 2002). Es wäre interessant gewesen, wenn Kremer die Weitergabe dieser Schulden an die befreiten Sklaven thematisiert hätte. Bei dem ausführlichen Quellen- und Literaturapparat ist es ein Manko der Veröffentlichung, dass sie kein Sach- und Personenregister enthält.
Fazit
Ein spannendes Buch mit vielen Einblicken in die amerikanische Geschichte seit 1985 und der gezielt angestrebten Abhängigkeit von Menschen durch Schulden. Die von Kremer analytisch verwendeten Begriffe der Schuldenschuld und der Schuldendifferenz erweitern das Verständnis für die Wirkmacht von Studienschulden, Kreditkartenschulden, Unterhaltsschulden, Pacht- und Eigentumsschulden enorm. Diese Aspekte müssen in der Geschichtsschreibung zum Kapitalismus zwingend berücksichtigt werden.
Quellen
David Caplovitz (1963)The poor pay more, New York: Free Press.
Joseph E. Inikori (2002) Africans and the Industrial Revolution in England. A Study in International Tade and Economic Development, Cambridge/New York etc. 2002,
Felix Krämer, Rezension zu: Vogl, Joseph: Der Souveränitätseffekt. Zürich 2015, ISBN 978-3-03734-250-3 [Rezension bei socialnet]/Finel-Honigman, Irene: A Cultural History of Finance. London 2009, ISBN 978-0-415-77102-3/Graeber, David: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Stuttgart 2012, ISBN 978-3-608-94767-0 [Rezension bei socialnet], in: H-Soz-Kult, 08.02.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-22874.
Rezension von
Dr. Dieter Korczak
Soziologe, Präsident des European Consumer Debt Network, Mitglied der Financial Services User Group der Europäischen Union
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