Frank Nonnenmacher (Hrsg.): Die Nazis nannten sie "Asoziale" und "Berufsverbrecher"
Rezensiert von Dr. Dieter Korczak, 19.03.2025

Frank Nonnenmacher (Hrsg.): Die Nazis nannten sie "Asoziale" und "Berufsverbrecher". Geschichten der Verfolgung vor und nach 1945. Campus Verlag (Frankfurt) 2024. 372 Seiten. ISBN 978-3-593-51838-1. D: 29,00 EUR, A: 29,90 EUR.
Thema
Im Jahr 2020 beschloss der Deutsche Bundestag, dass niemand zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet wurde. Damit hat der Deutsche Bundestag erstmalig klargestellt, dass sogenannte „Asoziale“ und sogenannte „Berufsverbrecher“ auch Opfer des nationalsozialistischen Unrechts sind und waren. Dies war keine gängige Auffassung bis zu diesem Zeitpunkt. Die im KZ mit einem schwarzen („Asoziale“) oder grünen („Berufsverbrecher“) Winkel stigmatisierten Personen waren bis 2020 exkludiert und nicht als Opfer rassistischer Verfolgung anerkannt. Stattdessen sind sie ein Beispiel für praktizierte gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die Forschung hat zu diesem Thema jahrzehntelang geschwiegen. Erst ab dem Jahr 2000 erschienen zu dem Thema einige wichtige Arbeiten (vgl. Wachsmann 2016). Der hier vorgelegte Band gehört dazu.
Herausgeber
Der Herausgeber Frank Nonnenmacher ist emeritierter Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften und Politischen Bildung an der Universität Frankfurt am Main. Nach seiner Emeritierung (2008) engagierte er sich für die Anerkennung der sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ als Opfer des Nationalsozialismus. Er ist 1. Vorsitzender des 2023 gegründeten Vereins „vevon – Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus“.
Entstehungshintergrund
Das Engagement des Herausgebers rührt zu einem großen Teil daher, dass es über 70 Jahre keine Stimme gegeben hat, die sich im Namen dieser Opfergruppe oder in ihrem Interesse öffentlich geäußert hat. Und er nimmt sich davon nicht aus und fragt sich, „wieso wurde ich nicht aktiv? Warum kam ich … nicht einmal auf eine solche Idee?“ (S. 26), zumal er selbst einen Onkel hatte, der als „Asozialer“ und „Berufsverbrecher“ im KZ Flossenburg durch 'Arbeit vernichtet werden' sollte. Sein Onkel hatte nach 1945 vergeblich versucht, eine Anerkennung als Verfolgter des Naziregimes zu erhalten. Die Anerkennung für diese Opfergruppe zu erreichen, war das Ziel der Gründung des Vereins „vevon“. Das hier vorliegende Buch ist das erste Projekt des Vereins.
Aufbau
Der Band enthält ein Geleitwort von Bärbel Bas (Bundestagspräsidentin), eine Einführung von Frank Nonnenmacher (S. 13–49), einen kriminologischen Diskurs von Julia Hörath (S. 51–85) und dann 20 Fallbeispiele und Berichte von Nachfahren von Großeltern, Großtanten, Cousins und anderen Verwandten (S. 87–372).
Inhalt
Frank Nonnenmacher stellt die 70 Jahre andauernde Verleugnung des Opferstatus der sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ dar. Er befasst sich mit der Rolle der 'Kapos' (Funktionshäftlinge) und räumt mit dem Vorurteil auf, dass die Kapos mit den grünen Winkeln (häufig Klein-Kriminelle) grundsätzlich diejenigen waren, die ihre Funktion am schlimmsten ausübten. Des weiteren beschreibt er in seiner Einführung die Entstehung des Vereins „vevon“ und wie der Bundestagsbeschluss erreicht wurde.
Julia Hörath arbeitet am Geschichtsinstitut der Freien Universität Berlin und erläutert, nach welchen Kriterien die Zuschreibungen „asozial“ und „Berufsverbrecher/in“ erfolgt sind und befasst sich mit der Entwicklung der gezielten Tötungen dieser Gruppe. Ihr Fazit ist, dass die quantitativen und qualitativen Dimensionen der Verbrechen, die die Kriminalpolizei an dieser Gruppe beging, noch nicht einmal annähernd aufgearbeitet sind.
Im Folgenden werden in bewegenden Darstellungen von mehr als zwanzig Nachkommen, die die Geschichte ihres jeweiligen Vorfahren erzählen, die Biografien einzelner Verfolgter vorgestellt – es zeigt sich, wie das Trauma der verleugneten Opfer bis heute in den Familien wirkt. Exemplarisch für viele der Fallgeschichten zeigt die Schilderung von Anke Schulte, wie groß das Verschweigen, Tabuisierung und Traumatisierung und selbst die Übernahme der Zuschreibung der Täter ist: in ihrer Familie hätten nach Aussage der eigenen Mutter alle das 'Verbrechergen' von dem Großvater geerbt. Die Autorin ist jetzt stellvertretende Schulleiterin und schließt ihren Beitrag mit den Worten: „Es ist den Nazis nicht gelungen, uns zu vernichten“ (S. 101).
Alle Lebens-, Leidens- und Familiengeschichten in dem Band sind gleichermaßen lesenswert, berührend und verstörend, was die Verbrechen der Nationalsozialisten und die Reaktionen der bundesdeutschen Behörden angeht. Von Wiedergutmachung keine Spur.
Diskussion
Der Band ist sorgfältig redigiert, mit Dokumenten und Quellenverweisen gut hinterlegt. Jede Fallgeschichte in dem Band ist eine ergreifende Geschichte. Kleine Diebereien und Betrügereien, die dem Überleben in Not und Armut geschuldet sind, führen zum Tod im KZ oder zum vorzeitigen Tod in der Nachkriegszeit. Die Grausamkeit des nationalsozialistischen Regimes wird durch die plastisch geschilderten Lebensverläufe unmittelbar nachvollziehbar. Das lähmende Schweigen zur Familiengeschichte, das sich über die betroffenen Nachfahren legt, wird durch die Schilderungen intensiv spürbar.
Fazit
Das ist ein wichtiges Buch, das über einen dunklen Fleck, ja mehr noch eine Nebelwolke in der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit aufklärt. Es ist für alle Menschen, die an Zeitgeschichte interessiert sind, hoch informativ und aufklärerisch. Man wünscht dem Band eine große Verbreitung für den Geschichtsunterricht an Schulen.
Literatur
Nikolaus Wachsmann (2016): KL – Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Siedler Verlag: München
Rezension von
Dr. Dieter Korczak
Soziologe, Präsident des European Consumer Debt Network, Mitglied der Financial Services User Group der Europäischen Union
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