Arne Burchartz, Hans Hopf et al. (Hrsg.): Psychodynamische Therapien
Rezensiert von Sebastian Kron, 27.02.2025

Arne Burchartz, Hans Hopf, Christiane Lutz (Hrsg.): Psychodynamische Therapien mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Geschichte, Theorie, Praxis.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2025.
2., erweiterte und überarbeitete Auflage.
254 Seiten.
ISBN 978-3-17-045420-0.
38,00 EUR.
Reihe: Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Perspektiven für Theorie, Praxis und Anwendungen im 21. Jahrhundert.
Thema
Tiefenpsychologische Diskurse thematisieren das Erleben als zentrales Element das Wirken und Handeln der Menschen erklärbar zu machen. Diese psychologische Denkschule hat sich seit der Ära Freuds in einer stetigen Entwicklung befunden, die sich bis heute fortsetzt. Trotz des größeren „Aufschwungs“ der kognitiven Verhaltenstherapie und trotz der anfänglichen Konflikte der beiden Denkschulen profitieren sie mittlerweile voneinander. Integrative Interventionsmaßnahmen sind die Folge dieses Prozesses.
Die tiefenpsychologische Denkschule ging aus drei Kernparadigmen hervor. Ausgehend von der Psychoanalyse Freuds entwickelten deren Schüler Jung und Adler zum einen die Analytische zum anderen die Individualpsychologie. Die Distanz Jungs zu Freuds Denken machte sich insofern bemerkbar, dass er fernab vom Unbewussten, welches nach Freud vorwiegend sexuelle, libidinöse Inhalte hat, auch ein kollektives Unbewusstes erkannte, welches seinen Ursprung vorwiegend in archetype, menschengeschichtliche Inhalte sah. Hier machte Jung erstmals auf einen zentralen Kontrast aufmerksam und brachte die Libidotheorie Freuds ins Wanken. Ausgehend von seinen Untersuchungen zur Organminderwertigkeit entwickelte Adler das Konzept des Minderwertigkeitskomplexes und zog Rückschlüsse aus seinen früheren Geschwisterbeziehungen.
Autor:in oder Herausgeber:in
Arne Burchatz ist Diplom-Pädagoge und Theologe, Psychodramaleiter, ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut mit eigener Praxis sowie Dozent und Supervisor an den Psychoanalytischen Instituten Stuttgart und Würzburg, KBV Gutachter für die Verfahren analytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie.
Dr. rer. biol. hum. Hans Hopf ist analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Dozent, Supervisor und Ehrenmitglied an den Psychoanalytischen Instituten Stuttgart, Freiburg und Würzburg. Er ist Ehrenmitglied in der Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten in Deutschland e.V. (VAKJP). Von 1996 bis 2003 war er Therapeutischer Leiter des Therapiezentrums Osterhof, Baiersbronn. 2013 erhielt er den Diotima-/​Ehrenpreis und 2017 die Staufer-Medaille des Landes Baden-Württemberg.
Christine Lutz ist als Kinder- und Jugendlichentherapeutin sowie als Paar- und Familientherapeutin in eigener Praxis in Stuttgart tätig. Sie ist am C. G. Jung-Institut in Stuttgart.
Entstehungshintergrund
Das Werk entsteht in einer Zeit, in der die kognitive Verhaltenstherapie sehr viel Zuspruch erhält. Scheinbar entwickeln sich nach und nach Synergien zwischen zwei anfangs verfeindeten Denkschulen. Es wird die Zukunft der Psychotherapie sein, tiefenpsychologisch-psychodynamische Erkenntnisse mit Erkenntnissen der kognitiven Verhaltenstherapie geschickt zu verbinden. Das vorliegende Werk zeigt in einer beeindruckenden Form, dass die Psychodynamik noch immer ihre Berechtigung hat und weiterhin auch haben sollte. Es zeigt Erkenntnisse auf, die für die therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in einer schnellledigen, unruhigen und oft zerrüttenden Zeit von besonderer Bedeutung sind. Gerade Elemente der Objektbeziehungstheorie sind in einer vielschichtig-belasteten Gesellschaft, in der Menschen aktiv im Prozess des „Funktionierens“ und eher passiv in Prozessen der Beziehungsgestaltung agieren, fundamental. Sie zeigen die besondere Bedeutung von zwischenmenschlichen Beziehungen in einem digitalen Zeitalter und beschreiben den Umgang mit Liebe und Hass als einen innerpsychisch-belastenden Prozess der Findung eines passablen Umgangs mit sich Selbst und der dynamischen Beziehungsgestaltung zu einem „Anderen“.
Aufbau
Das vorliegende Werk diskutiert entlanghangelnd an der Geschichte der Psychoanalyse ausgewählte Theorien der Kinder- und Jugendpsychotherapie. Es verbindet den Theorie-Praxis-Diskurs und offenbart in der zweiten Auflage eine Erweiterung in der Arbeit mit Träumen und Traumgeschehen. Ferner thematisiert diese Auflage die Rationale Psychoanalyse und Intersubjektivität sowie die Videotherapie und die Spaziergangbehandlung nach Hans Zulliger.
Inhalt
Das Buch stellt klar, dass die Psychodynamische Therapie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Ära Freuds beginnt. Freud veröffentlichte in den 1920-er Jahren ein Werk, welches erstmals die Phobie eines Kindes, den „kleinen Hans“, aus der Psychoanalyse heraus, diskutierte. Er betonte anhand seiner Libidotheorie die Bedeutung sexueller Triebwünsche bei der Angstentstehung. Ferner leitet das vorliegende Buch Kernelemente psychodynamischen Handelns her, die sich seit Freud nicht wesentlich verändert haben (z.B. Therapeutische Beziehung, Übertragungs- und Gegenübertragungsmechanismen).
Im Kapitel „Theoretische Grundlagen“ werden die Bedeutungen allgemeiner psychodynamischer Begrifflichkeiten diskutiert. Zentral hierfür sind Triebe, die das unbewusste Seelenleben der Menschen aus psychodynamischer Sicht maßgeblich steuern. Thematisiert werden hier Kernelemente der infantilen Sexualität, des Lust- und Realitätsprinzips im Rahmen des topologischen Modells, die Phasen der psychosexuellen Entwicklung, der ödipale Komplex und die Grundelemente der Behandlungslehre, wie Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand.
In einem weiteren Kapitel „Das Ich und seine Aktivität“ werden Herausforderungen ich-schwacher Persönlichkeitsdynamiken beschrieben und Bezug auf die Erkenntnisse Anna Freuds genommen. Fortführend wird die Bedeutung Heinz Hartmanns für den Diskurs um ich-starke Persönlichkeitsdynamiken diskutiert. Ferner betonen die Autor:innen in diesem Diskurs die Rolle der Abwehrmechanismen und stellen den Bezug zur Entwicklungs- und Säuglingsforschung her.
Das Kapitel „Die Bedeutung der Objekte“ stellt das Wirken Ferenczis, Balints, Kleins, Bions und Winnicotts dar. Die Objektbeziehungstheorien gehen in ihren Grundannahmen, wenn auch in unterschiedlicher Herangehensweise/​Weiterentwicklung, davon aus, dass äußere und innere Objekte das Seelenleben beeinflussen. Sie stellen den Bezug zur Bindungstheorie her und beschäftigen sich mit Persönlichkeitsdynamiken, die das „Individuelle“ und das „Andere“ thematisieren.
Eine weitere Strömung der Tiefenpsychologie, die sich herausgebildet hat, ist die Selbstpsychologie, bei der das Selbst eine „bipolare Struktur aus Ambitionen und Idealen, verbunden mit Fähigkeiten und Talenten“ (S. 127) darstellt. Damit ist das Selbst keine klassische Instanz, sondern eine Struktur, die sich in einer Wechselwirkung zu den individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten verhält.
Die Rationale Psychoanalyse fokussiert „die wechselseitige Beziehung zwischen zwei Subjekten in der analytischen Umgebung“ (S. 143). Anders als bei der Objektbeziehungstheorie organisieren Parameter „wie Raum, Zeit und die funktionale Anordnung“ (S. 143) den wechselseitigen Diskurs und thematisieren nicht konkret die Subjekt-Objekt- sondern die Subjekt-Subjekt-Beziehung.
In einem weiteren, großen Themenkomplex wird auf Jungs Theorien Bezug genommen. Er ging mit Freuds Annahme in Bezug auf ein persönliches Unbewusstes insofern überein, dass er Persönlichkeitsanteile vermutete, die sich in stetiger Konfrontation mit dem bewussten Erleben befinden, schloss aber mythennahe, zum Teil archetype Inhalte nicht aus. Seine Theorien gingen davon aus, dass das Traumerleben eines Menschen sowohl aus mythen-, märchennahen als auch aus archetypen Inhalten besteht. Die Autor:innen thematisieren hier das Märchen als wesentlichen Begleiter eines heranwachsenden Menschen und die mythennahen Strukturen, die sich aus der Menschheitsgeschichte ergeben, jedoch nie wirklich aus dem Gedächtnis jedes:jeder Einzelnen verschwinden. Bei Persönlichkeitsmerkmalen unterscheidet die vorliegende Literatur vorwiegend introvertiert und extravertiert in Erscheinung tretende Muster. Jung geht davon aus, dass introvertierte Menschen subjektbezogen, extravertierte Menschen dahingehend eher objektbezogen agieren. Er schreibt innerpsychischen Funktionen bei dieser Erörterung eine wesentliche Bedeutung zu, die bewusst-rational oder bewusst-gefühlsnah agieren. Symboliken, die Einfluss auf unsere Entwicklung, parallel auch weitläufig Bezug zum „Menschwerden“ haben, beeinflussen dabei die Inhalte des kollektiven Unbewussten. Diese Inhalte haben, im Gegensatz zu Freud, einen eher mystischen, doch aber auch real-menschheitsbezogenen Hintergrund.
Den Abschluss der Fachliteratur bildet die Spaziergangtherapie nach Zulliger, der in der Interaktion in Wechselwirkung mit der Bewegung im Freien eine erhebliche salutogenetische Wirkung sah. Stoll griff dieses Konzept auf und entwickelte es mit Blick auf depressive, unter erheblichen Bewegungsdrang „leidende“ Kinder- und Jugendliche weiter. Abschluss der hochinteressanten Literatur bildete die Videotherapie und die Frage, wie Beziehung- und Beziehungsgestaltung in diesem Kontext gelingen kann. Sowohl die Spaziergang- als auch die Videotherapie haben sich insbesondere in den „Corona-Jahren“ als wirksam erwiesen.
Diskussion
In den kommenden Jahren wird ein konsequentes Unterscheiden der beiden Interventionen Verhaltenstherapie und tiefenpsychologisch-psychoanalytische Therapie kaum noch in der Form, wie sie noch vor Jahren praktiziert wurde, möglich sein. Sicher wird jede der beiden Therapieformen eigene Akzente setzen, im Wesentlichen wird es aber darauf hinauslaufen, dass beide Formen voneinander profitieren. Auch wenn eine Zusammenführung, und der Versuch wurde bereits in einigen Werken unternommen (zum Beispiel: Tiefenpsychologisch fundierte Verhaltenstherapie: Psychodynamisch denken – verhaltenstherapeutisch handeln“), bis heute schwer denkbar ist, wird sich diese Entwicklung weg von einem „Schubladendenken“ hin zu einem integrativen Denken fortsetzen. Daher wird es perspektivisch von enormer Bedeutung sein, die Inhalte beider Denkschulen, auch oder insbesondere in der Sozialen Arbeit, gleichermaßen zu vermitteln, sodass auch Sozialarbeitende Überlegungen entwickeln, die es erlauben, mehrdimensionale Akzente im individuellen Denken und Handeln zu vereinen. Die Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen wird eine Entwicklung durchlaufen, die es Sozialarbeitende zulässt, über das notwendige „Knowhow“ der kassenärztlich anerkannten Therapieformen zu verfügen, um das eigene Wissensrepertoire nachhaltig zu transformieren.
Fazit
Ein sehr beeindruckendes Werk vermittelt einen Überblick über das psychodynamische Denken und Handeln. Es vermittelt als Überblickswerk wesentliche Kernkompetenzen im Umgang mit dieser Therapieform. Der Vollständigkeit wäre es dem positiven Gesamteindruck zuteil, wenn Kernelemente des Denkens Alfred Adlers in die Überlegungen berücksichtigt worden wären.
Rezension von
Sebastian Kron
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