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Klaus Sarimski: Rett-Syndrom

Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 30.06.2025

Cover Klaus Sarimski: Rett-Syndrom ISBN 978-3-17-045171-1

Klaus Sarimski: Rett-Syndrom. Behandlung, pädagogische Förderung, Alltagsbewältigung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2024. 171 Seiten. ISBN 978-3-17-045171-1. 32,00 EUR.

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Der Autor

Prof. i.R. Dr. Klaus Sarimski, Diplom-Psychologe, war bis 2021 Professor für sonderpädagogische Frühförderung und Elementarpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

Thema

Das Rett-Syndrom ist eine schwere neurologische Entwicklungsstörung, die (fast) nur bei Mädchen nach zunächst weitgehend unauffälliger Entwicklung innerhalb der ersten beiden Lebensjahre eintritt. Im weiteren Verlauf des Lebens beeinträchtigt es u.a. die Kommunikation und Bewegungsabläufe der Mädchen. Häufige Kennzeichen sind ein (zumindest) partieller Verlust von bereits erlernten sprachlichen, fein- und grobmotorischen Fähigkeiten sowie exzessive stereotype Handbewegungen.

Aufbau und Inhalt

Im Vorwort erzählt Klaus Sarimski, wie er als Stationspsychologe am Kinderzentrum München 1983 zum ersten Mal einem Mädchen mit Rett-Syndrom begegnete, einem damals noch weitgehend unbekannten Syndrom, und von seiner weiteren beruflichen Beschäftigung mit dem Thema.

Im ersten Kapitel beschreibt er Diagnosekriterien und Verlaufsstadien, Prävalenz, genetische Ursachen, den Verlauf der Entwicklung in den ersten Lebensmonaten sowie atypische Formen. Im Gegensatz zu früheren Diagnoseschemata wird das Rett-Syndrom nicht mehr als Unterform des Autismus klassifiziert. Abschließend geht er ICF-orientiert auf Auswirkungen auf die Teilhabe im Alltag ein.

Im nächsten Kapitel wird die individuelle Variabilität im Entwicklungsverlauf angesprochen, sowohl im Verlauf als auch bei einzelnen Symptomen (Nahrungsaufnahme, Atemregulation, Schmerzwahrnehmung und Schlafstörungen). Sarimski geht besonders auch auf Handstereotypien, ängstliches Verhalten und Stimmungsschwankungen sowie selbstverletzendes Verhalten ein. Er stellt dar, wie Eltern die Symptome sehen und deren Belastungserleben.

Kognitive, kommunikative und adaptive Kompetenzen sind ein weiteres Thema. Nach herkömmlichen Testmethoden erzielen Mädchen mit Rett-Syndrom wegen ihrer Apraxie, Stereotypien und fehlenden sprachlichen Äußerungen Ergebnisse im Bereich schwerer intellektueller Behinderung. Eltern meinen oft, dass ihr Kind mehr verstehe. Dieses Potenzial zu erkennen, ist wichtig für die Förderung und die Aussichten für soziale Teilhabe. Es gibt also große Herausforderungen bei der Beurteilung der kognitiven Fähigkeiten; als aussichtsreich erwies sich die Eye-Tracking-Technologie, auch für die Beurteilung der Aufmerksamkeit und des Sprachverstehens. Das Blickverhalten ist überhaupt ein wichtiges Kommunikationsmittel der Mädchen mit Rett-Syndrom. Kommunikationstafeln und elektronische Kommunikationsgeräte sind wichtige Hilfsmittel. Adaptive Kompetenzen sind dagegen sehr eingeschränkt.

Im nächsten Kapitel geht es um Behandlungsansätze und ihre Wirksamkeit. Die Frage der Wirksamkeit der angewandten Methoden ist für Sarimski von zentraler Bedeutung. Er berichtet über Einzelfallanalysen, Meta-Analysen und Übersichtsarbeiten. In den Studien erfolgte häufig sehr intensive Förderung über längere Zeiträume. Es werden besprochen Physiotherapie zur Förderung grobmotorischer Fertigkeiten (sehr wichtig schon ab frühem Zeitpunkt), Hydro- oder Reittherapie, Ergotherapie (Hand- und Ellbogenschienen) bei Handstereotypien und zur Förderung des Handgebrauchs, Musiktherapie zur Förderung der sozialen Teilhabe, Programme und Therapieempfehlungen zu Essen, Schlafen und Toilettentraining. Förderung der Kommunikationsfähigkeiten bis hin zur Unterstützten Kommunikation. Kurz streift Sarimski Fragen zu Medikamenten und Gentherapie.

Wichtig für die diagnostische Praxis ist es, auf die Möglichkeiten des Mädchens einzugehen, die individuell auszugestalten und den spezifischen Bedürfnissen und Barrieren anzupassen. Sarimski geht ausführlich auf die Rett Syndrome Behavior Scale (RSBQ) (Erfassung der Schweregrade der Symptome) und die Vineland Adaptive Beavior Scales (VABS, deutsche Adaptation) (adaptive Kompetenzen) ein. In diesem Kapitel wird auch die Diagnostik grobmotorischer Kompetenzen und der kognitiven und sprachlichen Verarbeitungsfähigkeiten erfasst. Besonders Bedeutung misst Sarimski der Eye-Tracking-Methode zu. Das spezielle Gerät ist wegen hoher Kosten bisher nur in Forschungsstudien vorhanden. Sarimski erwartet aber, dass es zukünftig in SPZs oder in Beratungsstellen zur Unterstützten Kommunikation genutzt werden kann.

Im Kapitel zur Förderung alternativer Kommunikationsformen orientiert sich Sarimski bei seinen Empfehlungen an den Leitlinien für die Förderung kommunikativer Kompetenzen von Townsend. Es werden die Anforderungen an die professionellen Kompetenzen (u.a. auch die Arbeit in einem multidisziplinären Team) erarbeitet, sowie die Gestaltung der Umgebung, die Auswahl eines Systems sowie Planungsschritte beim Aufbau alternativer Verständigungsformen beschrieben. Von großer Bedeutung ist die Anleitung der Bezugspersonen.

Anschließend wird die pädagogische Förderung in der Schule angesprochen. In Deutschland werden die meisten Mädchen in Förderzentren beschult. Obwohl sich die pädagogische Perspektive verändert hat und die Ressourcen der Mädchen erkannt werden, orientiert sich das Unterrichtskonzept nach wie vor oft am Konzept für Kinder mit kognitiver Behinderung. Beklagt werden auch unzureichende Rahmenbedingungen, z.B. oft häufig wechselnde, schlecht bezahlte und unzureichend ausgebildete, geschulte und supervidierte Assistenzkräfte. Überlegungen zur Anpassung der Bildungsinhalte, des pädagogischen Vorgehens, zur Verwirklichung der sozialen Teilhabe in der Klasse und zur Förderung des Schriftspracherwerbs werden angestellt.

Die Diagnose und die mit dem Syndrom verbundenen Symptome bringen große Herausforderungen und Belastungen für die Familie. Sarimski beschreibt und analysiert diese Belastungen und referiert Studien zu Erfahrungen der Eltern in der deutschen Eltern-Selbsthilfegruppe. Dringend notwendig ist eine psychologische Begleitung der Familien.

Diskussion

Klaus Sarimski berichtet in diesem Buch über vielfältige Studien, z.T. auch aus Meta-Analysen und Übersichtsarbeiten. Auch von eigenen Studien berichtet er ausführlich.

Die vielen Elternzitate zeigen, dass in diesem Buch wirklich die Bedürfnisse der Familien und natürlich der Mädchen mit Rett-Syndrom angesprochen und berücksichtigt werden.

Obwohl sich der pädagogische Blick auf die Kompetenzen und Ressourcen der Mädchen verändert hat, ist im öffentlichen Verständnis die Diagnose Rett-Syndrom synonym mit schwerer intellektueller Behinderung. Dies wirkt sich u.a. bei der Beantragung (elektronischer) Hilfsmittel negativ aus. Dabei scheinen die Anwendungen des Eye-Trackings wichtig und zukunftsweisend zu sein.

Zielgruppen

(Sonder-)Pädagog.innen, Psycholog:innen, Therapeut:innen, die sich mit den Bedürfnissen und dem Lern- und Entwicklungspotenzial von Mädchen mit Rett-Syndrom vertraut machen möchten.

Fazit

Das Buch beschreibt die Kompetenzen der betroffenen Mädchen. Konzepte der Behandlung werden bewertet. Prinzipien der pädagogischen Förderung der Kommunikation und sozialen Teilhabe in der Schule werden ausführlich vorgestellt, ebenso die Unterstützung von Eltern. Ein wichtiger Beitrag für das Verständnis des Rettt-Syndroms, Voraussetzung für bedarfsgerechte Hilfen.

Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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Es gibt 201 Rezensionen von Lothar Unzner.

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ISSN 2190-9245