Michael Rölver: Spielräume des Ermessens
Rezensiert von Maria Wolf, 04.06.2025

Michael Rölver: Spielräume des Ermessens. Praxeologische Überlegungen zu Aushandlungsprozessen in Fallbesprechungen der Jugendsozialarbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2025. 396 Seiten. ISBN 978-3-7799-8543-3. D: 68,00 EUR, A: 70,00 EUR.
Thema
Entscheidungen innerhalb eines Ermessensspielraums zu treffen, ist eine zentrale Anforderung an die Fachkräfte Sozialer Arbeit. Das trifft auch auf die Jugendsozialarbeit zu, die bereits in ihrer rechtlichen Rahmung und rechtskreisübergreifenden Organisation, aber auch im Umgang mit ihren Adressat_innen von vielen Uneindeutigkeiten durchzogen ist. Es wird daher untersucht, wie Ermessensspielräume innerhalb denen es zu Entscheidungen kommen kann, in Fallbesprechungen der Jugendsozialarbeit erzeugt werden.
Autor
Michael Rölver ist Diplom Sozialarbeiter und Sozialpädagoge (FH). Seine Verbundenheit mit der Jugendsozialarbeit speist sich aus seiner eigenen Berufsbiografie in Praxis und Fachvertretung innerhalb dieses Arbeitsfeldes. Aktuell ist er an der FH Münster und der Katholischen Hochschule NRW tätig.
Entstehungshintergrund
Die Veröffentlichung wurde 2023 an der Universität Münster als Dissertation angenommen.
Aufbau und Inhalt
Die Arbeit folgt dem klassischen Aufbau einer Dissertation, daher sollen die Kapitel nicht einzeln vorgestellt werden, sondern es folgt eine inhaltsentsprechende Zusammenfassung:
Die ersten drei Kapitel bieten eine thematische Einführung in den Problembereich auf Basis des Forschungsstandes. Ermessensspielräume entstehen in Interaktionsprozessen zwischen Fachkräften. Sie werden im Rahmen der vorliegenden Veröffentlichung rekonstruiert. Die im Titel erwähnte praxeologische Perspektive richtet den Blick dabei auf die Bedeutung der Ermessensspielräume für die sozialarbeiterische Praxis.
Ermessensspielräume begründen sich zum einen in der strukturell ungenügenden Verankerung der Jugendsozialarbeit, basieren aber auch in allgemeinen Strukturkriterien Sozialer Arbeit wie dem Technologiedefizit und Kennzeichen von Professionen wie ihrer Prägung durch ein Ungleichgewicht zwischen überkomplexen Situationen und dem zur Verfügung stehenden Wissen (Stichweh). Damit besteht die fachliche Notwendigkeit, zu Entscheidungen auf unsicherem Terrain zu kommen. Die Fragestellung der Dissertation verweist somit auf die Professionalisierungsbedürftigkeit Sozialer Arbeit.
Zurückgegriffen wird auf das Konzept der street-level-bureaucracy (Lipsky), womit die besondere Bedeutung des Ermessens individueller Fachkräfte bei staatlichen Interventionen und sozialen Dienstleistungen in den Blick gerät. Hier erscheint Ermessen als Prozess im Zusammenhang mit professionellem Handeln. Den Gegenhorizont dazu bilden Entscheidungen auf Basis bürokratischen Handelns. Eine Besonderheit des Treffens von Entscheidungen in der Sozialen Arbeit und damit auch in der Jugendsozialarbeit ist, dass sie nicht allein, sondern unter dem Einfluss fachlicher Haltungen und Ausrichtungen getroffen werden, die kollektiv verankert sind.
Die Kapitel 4 und 5 erläutern Forschungsstrategie und Methodologie zur Rekonstruktion der Ermessensspielräume.
Ermessensspielräume entwickeln sich in der Black-Box der Institutionen und ihrer Regeln, gleichzeitig gehören sie zu den institutionellen Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit. Der Umgang damit führt zu beruflichen Sozialisationsprozessen, aus denen institutionsspezifische Regeln erwachsen, die innerhalb von Teaminteraktionen entwickelt werden. Fallbesprechungen fungieren dabei als ein Erfahrungsraum, in dem weniger theoretisches Wissen als Berufserfahrung abgeglichen wird und zum Fallverstehen und damit zu Entscheidungsoptionen führt. Vor dem Hintergrund institutioneller Sozialisation ist die Praxis von Ermessensentscheidungen weder zufällig noch vollständig kalkulierbar.
Die rechtskreisübergreifende Anlage der Jugendsozialarbeit bietet sich für die Untersuchung von Ermessen besonders an, da hier Uneindeutigkeiten besonders ins Auge stechen. Dabei liegt der Fokus auf alltäglichen, habitualisierten Entscheidungen im Ermessensspielraum, weshalb Entscheidungen im Kontext von Kriseninterventionen ausgeklammert werden. Zum Sample zählen Angebote der Jugendsozialarbeit aus der östlichen, westlichen, südlichen und nördlichen geografischen Lage Deutschlands, ebenso sind der urbane und ländliche Raum sowie wirtschaftlich unterschiedlich starke Regionen berücksichtigt. Das Spektrum innerhalb des Arbeitsfeldes reicht von niedrigschwelligen bis stärker strukturierten Maßnahmen. Schlussendlich gehen die fünf Fallbesprechungen in die finale Auswertung ein, die die Kontraste in der Entwicklung von Ermessensspielräumen am besten abbilden.
Mit der dokumentarischen Methode (Bohnsack) wurde ein Zugang für die Analyse der Fallbesprechungen gewählt, der auf das Entstehen von sozialer Ordnung abzielt. Sie eignet sich besonders für die Aushandlung von Ermessensspielräumen und -entscheidungen, da sie Gruppenorientierungen rekonstruiert. Damit ist sie nah an den Vorüberlegungen zu Ermessen im institutionellen Rahmen.
In den letzten drei Kapiteln erfolgt die Darstellung der Ergebnisse und ihre Diskussion.
Teamweise werden die Ergebnisse vorgestellt und am Forschungsmaterial begründet. Exemplarisch dafür sollen Team Ahorn und Team Birke stehen: Team Ahorn versucht, über die Klärung von Zuständigkeiten Orientierung in den Fällen zu finden und konstruiert dabei einen Ermessensspielraum, der mit dem Aushalten von Ambiguitäten sowohl der lebensweltlichen Deutung der Adressat_innen als auch der Diversität des Teams gerecht zu werden versucht, woraus sich unterschiedliche Handlungsziele entwickeln können.
Team Birke hingegen leidet unter den eingrenzenden Rahmenbedingungen so sehr, dass es ihre Handlungsfähigkeit in Bezug auf die Strukturen verliert. Sie werden in der Falleinschätzung zwar als behindernd erkannt, nicht jedoch als veränderbar eingeschätzt. Mit Blick auf die Adressat_innen werden Wünsche und Potenziale als Ressourcen wahrgenommen und innerhalb des strukturellen Rahmens aktiviert. Schlussendlich findet im Ermessensspielraum eine Verstärkung sowohl von defizitären als auch ressourcenbezogenen Tendenzen entlang der Maßnahmeziele und innerhalb der Strukturen statt.
Es wird sichtbar, dass Ermessensspielräume notwendig sind, um alternative Handlungsoptionen zu ermöglichen und eine akzeptierende Position einzunehmen. Diese Spielräume entstehen aber nicht von selbst, sondern müssen durch die Entwicklung unterschiedlicher Deutungen auf Basis des Zulassens von Mehrdeutigkeit und Widersprüchen aktiv hergestellt werden. Insbesondere dort, wo Mehrdeutigkeiten ausgehalten werden, gelingt es alternative Sichtweisen zu entwickelt und nebeneinander zu stellen. Die Ermessensspielräume bieten dann Potenziale, deren Umsetzung jedoch von weiteren Faktoren abhängt, die nicht mehr Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind. Das Team spielt als Bearbeitungsinstanz eine besondere Rolle. So können beispielsweise dort, wo eine diversitätsfördernde Atmosphäre herrscht und unterschiedliche Positionen im Team zugelassen werden, der komplexen Rahmung des Handlungsfeldes sowie dem pseudokonkreten Erleben und den ambivalenten Verhalten der Adressat_innen Handlungsoptionen entgegengestellt werden.
Teamberatungen und ihre Kulturen sind der Ort der professionellen Fallbearbeitung. In ihrer habitualisierten Art und Weise des Ablaufs kommt vor allem implizites Wissen, das sowohl erfahrungs- als auch theoriebasiert ist, innerhalb des Orientierungsrahmens des Teams zum Tragen. Die Professionalisierung der Praxis mittels Ermessenspielräumen erfolgt innerhalb der Fallbesprechungen in verschiedene Richtungen:
- Hinsichtlich Fall und Auftrag, indem Erwartungen und Notwendigkeiten in der Fallarbeit deutlich gemacht werden.
- Hinsichtlich Team und Handlungsmöglichkeiten, indem sich eine implizite Teamkultur der Bearbeitung entwickelt, innerhalb der Handlungsmöglichkeiten entwickelt werden.
- Hinsichtlich Professionalisierung der Fachkräfte, indem innerhalb der Fallbesprechungen eine fachliche Sozialisation stattfindet.
- Hinsichtlich rahmengebender Normen, indem auch hier Eindeutigkeiten aufgelöst und Ermessenspielräume erkannt und in einen Fallbezug gesetzt werden können.
Diskussion
Zuallererst ist eine Dissertation eine Qualifikationsarbeit, die den Regeln dieser speziellen Literaturgattung unterliegt. In welcher Qualität damit der Nachweis wissenschaftlichen Arbeitens erbracht ist, haben Gutachter_innen und Autor hinreichend ausgehandelt. An dieser Stelle bleibt nur zu sagen: Herzlichen Glückwunsch, Dr. Michael Rölver.
Zwei Punkte sollen jedoch herausgegriffen werden, die für die Entwicklung der Jugendsozialarbeit relevant sind und für die es im Bezug auf Anschlussperspektiven wünschenswert ist, dass der hier eingeschlagene Pfad der Forschung weiterverfolgt wird.
Die Jugendsozialarbeit kann nach wie vor in ihrer Praxis als Reproduktion von Normalbiografien verstanden werden. Selbst heute noch scheint dieses Orientierungsdilemma der Jugendsozialarbeit (Galuske 1993) nicht überwunden zu sein, sondern sich vielmehr unter dem Aktivierungsparadigma noch zu verschärfen (Enggruber et al. 2021), sodass die auftragsformende Einbindung in Strukturen und Kooperationsgefüge den Stellenwert der Jugendsozialarbeit im komplexen und weiten Feld der Hilfen im Übergang von Schule und Beruf schwächt und ihre Handlungsmöglichkeiten einschränkt (Wolf 2024). Die hier rekonstruierte Konstruktion eines Ermessensspielraums als Umgang mit Komplexität, Widersprüchen und Mehrdeutigkeit scheint daher ein fachlicher Zugang zu sein, den einengenden Rahmenbedingungen einer solchen „Jugendsozialarbeit in Ketten“ zu begegnen.
Ermessensspielräume erscheinen als Form professioneller Sozialer Arbeit. Die vor diesem Hintergrund treffbaren Entscheidungen dürfen als Versuch der Positionierung innerhalb des Mandatsgefüges Sozialer Arbeit verstanden werden. Sie werden im Modus eines Teamworks getroffen und bieten dem oder der Einzelnen fachliche Rückbindung. Innerhalb der Fallbesprechungen, die vor dem Hintergrund des Orientierungsrahmens des Teams erfolgt, findet dann berufliche Sozialisation und Entwicklung der fachlichen Identität statt. Es ist zu fragen, wie und ob sich die institutionell entwickelte Verfahrenslogik in der Konstruktion eines Ermessensspielraums aufbrechen und reflektieren lässt. Denn die durchaus unbewusst innerhalb einer Black-Box ablaufenden Sozialisationsprozesse können ja ebenso – wie in der Untersuchung auch belegt – zu einer Institutionslogik führen, die die Optionen im Bereich des Ermessens wieder einschränken.
Der Autor greift Hinzkes Unterscheidung von Reflexion innerhalb eines Erfahrungsraums und Reflexivität als Hinzuzug von komplementären Wissensbeständen auf. Gerade hier kann für Fachkräfte ein Potenzial der Veröffentlichung liegen: Die vorgestellten Fallporträts können einen reflexiven Impuls für die in der eigenen Fallarbeit stattfindende Reflexion geben – Wo finde ich mich und meine eigene Fallarbeit wieder? Der hohe Stellenwert von Ambiguitätstoleranz dient dabei nicht nur einer professionellen, fachlichen und zielführenden Fallarbeit, sondern verweist ebenso darauf, dass gute Fallarbeit gleichzeitig Fürsorge für die psychische Gesundheit der Fachkräfte ist. Jugendsozialarbeit (und nicht nur diese) braucht daher Organisations- und Teamentwicklung, die auf die Förderung von Ambiguitätstoleranz abzielt.
Fazit
Michael Rölvers Dissertation ist ein Plädoyer für die Entwicklung von Ambiguitätstoleranz und die Professionalisierung Sozialer Arbeit in Teams, um einengenden Strukturen, sich widersprüchlich verhaltenden jungen Menschen und der überfordernden Komplexität der Jugendsozialarbeit zu begegnen. Als empirische Arbeit bietet sie Anschlussperspektiven für die Forschung und Reflexionswissen für die Praxis.
Literatur
Enggruber, Ruth/Neises, Frank/​Oehme, Andreas/​Palleit, Leander/Schröer, Wolfgang/​Tillmann, Frank (2021): expertise_uebergang-schule-beruf_2021. https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/​user_upload/​Publikationen/​expertise_uebergang-schule-beruf_2021.pdf [Zugriff: 03.09.2024].
Galuske, Michael (1993): Das Orientierungsdilemma. Jugendberufshilfe, sozialpädagogische Selbstvergewisserung und die modernisierte Arbeitsgesellschaft. Bielefeld.
Wolf, Maria (2024): Jugendsozialarbeit Wolf. In: socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 27.01.2025 [Zugriff am 02.06.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/609
Rezension von
Maria Wolf
MA Soziale Arbeit
Lehrkraft für besondere Aufgaben, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Mailformular
Es gibt 20 Rezensionen von Maria Wolf.