Rainer Kilb (Hrsg.): Soziale Kohäsion und Vielfalt in Stadtquartieren
Rezensiert von Prof. Dr. Frank Eckardt, 27.03.2025

Rainer Kilb (Hrsg.): Soziale Kohäsion und Vielfalt in Stadtquartieren. Widersprüche - Diskussion - Umsetzungsverfahren. Springer (Berlin) 2024. 2024. Auflage. 290 Seiten. ISBN 978-3-658-45230-8. D: 32,70 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 39,00 sFr.
Thema
Das übergeordnete Thema dieses Sammelbands ist die Frage, wie sich soziale Kohäsion und Vielfalt stadtplanerisch und architektonisch umsetzen lassen. Dazu werden zunächst die theoretischen Diskurse zum Thema „soziale Mischung“ kritisch reflektiert und werden verschiedene Perspektiven zu diesem Themenfeld anschließend am Beispiel des Spinelli-Areal in Mannheim weitergeführt.
Herausgeber und Autor*innen
Rainer Kilb ist emeritierter Professor für Theorie und Praxis Soziale Arbeit an der Hochschule Mannheim, Fak. für Sozialwesen; und Mitglied in der Planungskommission für das Spinelli-Areal Mannheim.
Die weiteren zehn Autor*innen haben unterschiedliche disziplinäre Hintergründe. Hierbei sind die Landschaftsplanung, Politikwissenschaften, Stadtplanung, Architektur und Pädagogik aufzufinden. Teilweise besteht ein direktes Verhältnis zur Stadt Mannheim und dem Spinelli-Projekt.
Entstehungshintergrund
Insbesondere der Praxis-Teil des Buches reflektiert die Perspektiven der Planungskommission für das Spinelli-Quartier in Mannheim. Eine weitergehende Verschränkung des Buches mit dieser Kommission und den dortigen Akteur*innen wird durch die Affiliation von einzelnen Autor*innen im Autorenverzeichnis angegeben.
Aufbau
Das Buch beinhaltet 16 Kapiteln, die einem theoretische Teil und einem, dem Mannheimer Spinelli-Quartier gewidmeten Teil zugeordnet sind.
Inhalt
Das Buch widmet sich der übergeordneten Frage, wie in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung durch stadtplanerische und städtebauliche Projekte ein Beitrag für Vielfalt und Kohösion geleistet werden. Diese Frage wird auch auf das Mannheimer Spinelli-Areal angelegt. Dieses Quartier wird für ein ehemaliges Militärgelände geplant, das in einem städtischen Entwicklungskonzept gesehen werden muss, der von einem großen Wohnbedarf und Zuzug geprägt wird. Mit der Ausrichtung der BUGA im Jahr 2023 hat das Quartier überregionale Aufmerksamkeit gefunden und zugleich den Anspruch Mannheims veranschaulicht, um die weitere Transformation der Stadt im Rahmen der Umsetzung der Social Development Goals und einem allgemeinen Nachhaltigkeitsprinzip folgend zu gestalten. Zu dieser Nachhaltigkeitsphilosophie gehört die Adressierung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, den das Buch aus diversen Sichtweisen und mit verschiedenen disziplinären Schwerpunkten in einem Bezug zur theoretischen wie praktischen Planung eruiert.
Konsequenterweise wird im ersten Teil, vor allem durch den Herausgeber selbst, ein umfassendes aber fokussiertes Verständnis vom Zusammenhang zwischen Stadt(planung) und gesellschaftlicher Entwicklung rekonstruiert und wird insbesondere das Leitbild der „sozialen Mischung“ erörtert und eingeordnet. Dabei ist der Bezug zwischen Stadt und Gesellschaft im Kontext der bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse zu betrachten. Dieser wird nicht als einseitig integrativ verstanden, sondern kennzeichnend sich die Stadt als ein fragiles Wechselspiel zwischen Integration und Desintegration, Segregation und Kohäsion bzw. Zusammenleben. Damit schließt sich das Buch einer allgemeinen Perspektive auf die Stadt an, die sich als konfliktsoziologisch beschreiben lässt (ausführlicher im vierten Kapitel).
Dem folgend entwickelt Rainer Kilb eine eigenständige Typologie von unterschiedlichen Quartieren und Transformationen, die dann im zweiten Kapitel in einem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Perspektive auf ihre Kohäsionspotenziale gestellt werden. Zentrale Bedeutung erhält die Frage, wie sich sozialräumliche Kohärenz und Kohäsion herausbilden. Entscheidende Bedeutung hat dabei die lokale Gemeinschaft und wie diese sich das Individuum dazu verhalten (kann). Damit wird die Grundfrage formuliert, auf Quartiere wie das Spinelli-Areal letztlich eine praktische Antwort geben müssen, wenn sie die Kohäsion in der Stadt fördern sollen. Eine solche Perspektive knüpft an Diskussion über die feministische Stadt an, wie Christina Budde darstellt. Entscheidend ist, dass dieser Diskurs als ein demokratiefördernder verstanden wird, wie Ralf Vandamme argumentiert.
Im „Praxisteil“ wird zunächst anschaulich beschrieben, wie die Ideenentwicklungen, von Planungen und Umsetzungsaktivitäten im Spinelli-Quartier konkret erfolgte, wobei gewonnene Erfahrungen eines soziokulturellen Projektes zur Förderung lebendiger Quartiersentwicklung referiert, die die Chancen und Schwierigkeiten aus der Kooperation mit Bewohnerinnen, Organisationen und Institutionen anschaulich werden. Es tauchen die Planbarkeitsgrenzen auf, die sich zwangsläufig einstellen. Bereichert wird der Band folgend dann durch die Erörterung des Planungs- und Umsetzungsmanagement der stadtnahen Projektentwicklungsgesellschaft, die architektonische, stadtökologische und landschaftsplanerische Perspektive auf die Planungs- und Umsetzungsprozedere und auf das Quartiersmanagement. Heike Bülter ergänzt dies durch ihre Erfahrungen sud dem Rhein-Main-Gebiet rekonstruiert. Abschließend wird die Übertragbarkeit des Mannheimer Beispiels.
Diskussion
Die Lektüre dieses Buches ermöglicht es, das komplexe Thema von Stadtplanung in einer fragmentierten Gesellschaft zu diskutieren. Diskussionsleitend sind dabei die intellektuellen Rahmen, mit denen das Verhältnis von Stadt und Gesellschaft grundlegend konzipiert werden. Hierbei treffen sich durchaus zwei unterschiedliche Welten. Der sozialwissenschaftliche Blick, wie er vor allem durch die Beiträge von Rainer Kilb repräsentiert wird, kann dieses Verhältnis historisch einordnen und für eine Reflektion über die Möglichkeiten und Grenzen von Stadtplanung im Kontext einer gespaltenen Stadt aufzeigen. Im Grundsatz bietet diese Rekonstruktion der Stadtgesellschaft und ihrer Planung durchaus eine, wenn auch fragile Perspektive für das Handeln lokaler Akteure an. Im Grundzug bedeutet dies, dass ein Festhalten am Leitbild der sozialen Mischung für den Preis der konflikthaften Aushandlung von Raum möglich ist. Hierbei spielen Aneignungs- und Identitätsprozesse eine wichtige Rolle. Letztlich sind hierfür sozialarbeiterische und Quartiersmanagement-Ansätze erforderlich, sodass sogenannte dritte Orte und langfristig eine offene Stadt entstehen kann. Auf diese Weise werden gesellschaftliche Unterschiede nicht eingeebnet, aber quasi im Nah-Bereich des Einzelnen zumindest handhabbar.
In der Welt der Lokalpolitik und Stadtplanung – und Mannheim ist in dieser Hinsicht sehr positioniert – schließt man sich an den politischen Konsens über Nachhaltigkeit an. Über die Schwächen, Widersprüche und (Un-)Möglichkeiten dieser Sichtweise ist schon viel gesagt worden. Aber das Mannheimer Beispiel zeigt, dass er handlungsleitend sein kann und eine weitergefasste Interpretation, die das von Kilb ausgearbeitete Kohäsionsverständnis, eine feministische und demokratietheoretische Perspektive einschließt, ermöglicht und produktiv ins Werk zu setzen vermag. Man könnte so also schlussfolgern, dass mit dem Nachhaltigkeitskonzept viele Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden. Doch ist es verdienstvoll, dass das Buch die Grenzen der Stadtplanung mit Bezug auf gesellschaftspolitische Zielstellung auch aufzeigt. Wünschenswert wäre aber auch eine Diskussion darüber, ob in Anbetracht dieser Schwächen – das SDG 1 (Bekämpfung der Armut) wird beispielsweise nicht explizit adressiert – die Prioritätensetzung zugunsten einer vor allem planerischen, städtebaulichen und architektonischen Ausrichtung auf Stadtplanung so richtig ist.
Fazit
Das Buch liefert einen sehr spannenden Einblick in die Stadtplanung von Mannheim und deren ambitiöses Ziel der Orientierung an gesellschaftlichen Zielstellungen. Die Beiträge in diesem Sammelband ermöglichen einerseits einen reflektierten Einblick in unterschiedliche Planungsthemen, andererseits erlauben sie die Einordung in das übergeordnete Planungsverständnis und die Entwicklung einer Perspektive für soziale Kohäsion in der Stadtentwicklung.
Rezension von
Prof. Dr. Frank Eckardt
Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar
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