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Magdalena Bienek: Die Berufsfindung von Abiturientinnen und Abiturienten

Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 17.04.2025

Cover Magdalena Bienek: Die Berufsfindung von Abiturientinnen und Abiturienten ISBN 978-3-7799-8669-0

Magdalena Bienek: Die Berufsfindung von Abiturientinnen und Abiturienten nichtakademischer Herkunft. Eine qualitativ-rekonstruktive Studie mit Teilnehmenden des NRW-Talentscoutings. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2025. 215 Seiten. ISBN 978-3-7799-8669-0. D: 44,00 EUR, A: 45,30 EUR.

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Entstehungshintergrund und Thema

Berufsorientierung und Berufsfindung von Schulabgänger:innen intensiver zu begleiten, gilt als eine Option, um zukünftige Fachkräfte zu gewinnen. Unter anderem werden die hinderlichen Faktoren am Übergang von Schule in Ausbildung oder Studium adressiert. Dazu zählt die Entscheidungsfindung von Abiturient:innen nichtakademischer Herkunft, ein Studium aufzunehmen. Das Programm NRW-Talentscouting, das Bestandteil des „NRW-Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“ ist, unterstreicht die Zielsetzung. Es beinhaltet individuelle Beratungsgespräche für Schüler:innen, um ihre Potenziale zu heben. Die Publikation ist die Dissertation der Autorin aus dem Jahr 2023, die den Baustein des Talentscoutings bei der Studienorientierung untersucht hat.

Autorin

Dr. Magdalena Bienek hat die Leitung Forschung und Neue Förderkonzepte am NRW-Zentrum für Talentförderung in Gelsenkirchen-Ückendorf inne.

Aufbau und Inhalt

Das Buch folgt dem klassischen Aufbau einer Qualifikationsarbeit. Vorausgestellt ist eine Danksagung (S. 7). Das Literaturverzeichnis schließt die Arbeit ab (S. 203–215).

1 Einleitung (S. 8–13)

Die Autorin führt in die Thematik der Studienorientierung der Zielgruppe ein und beschreibt das Ziel des Programms NRW-Talentscouting. Mit der Studie untersucht sie, wie Abiturient:innen nichtakademischer Herkunft die „biografische Handlungsanforderung der Berufsfindung“ (S. 11) bearbeiten und dabei/dafür mit den Talentscouts kooperieren. Zudem skizziert sie den Aufbau der Arbeit.

2 Die Berufsfindung von Abiturient*innen als Forschungsgegenstand (S. 14–62)

Zu Beginn des Kapitels legt die Autorin offen, wie sie die Bezeichnungen Berufsorientierung, Berufsfindung (in Abgrenzung zur Berufswahl), Abiturient:innen nichtakademischer Herkunft (Eltern ohne Hochschulstudium) aus Risikolagen (bildungsbezogene, soziale und finanzielle) versteht, d.h. sie fokussiert sich auf junge Menschen, die „als erste Generation in ihrer Familie das Abitur ablegen oder in Familien mit geringen Einkommen bzw. erwerbslosen Eltern leben“ (S. 17). Danach legitimiert Bienek die Relevanz des Themas, indem sie die Berufsfindung als „Entwicklungsaufgabe der Jugendphase“ (S. 18) darstellt. Um den Übergang vom Schul- ins Berufsleben zu begleiten, hat sich das pädagogische Handlungsfeld bestehend aus Informations-, Erfahrungs- und Beratungsangeboten u.a.m. etabliert, auch mit dem Ziel, herkunftsbedingte Disparitäten zu überwinden. Die Autorin trägt Resultate zur manifestierten Selektivität beim Übergang nach dem Abitur zusammen und stellt das 2011 entwickelte und 2021 verstetigte NRW-landesweite Talentscouting Programm vor, das mit ca. 100 Scouts ungefähr 30.000 Schüler:innen von ca. 550 Schulen erreicht.

Den Abschnitt zum Forschungsstand gliedert Bienek in Befunde zur Berufsfindung von Abiturient:innen und fasst sie zu den Themen „Ausgangssituation, Herausforderungen und Informationsstand“ (S. 30), „Motive, Handlungsstrategien, Vorgehensweise“ (S. 32) und „Bedeutung von Eltern, Peers und anderen Personen“ (S. 36) zusammen. Die Ergebnisse zeigen, wie heterogen die Gruppe ist, wie viel Unsicherheit bei den Schüler:innen vorhanden ist und wie stark Eltern oder bedeutsame Andere sich als Orientierung erweisen. Zu den Angeboten der Berufsorientierung gehören schulische und institutionalisierte Angebote (Agentur für Arbeit, Praktika, Angebote von Hochschulen, Unterstützung durch Lehrkräfte) und deren Evaluationen, nachgewiesene Bedarfe und Wünsche zur Unterstützung sowie Programme zur individualisierten Begleitung an den Übergängen (z.B. NRW-Talentscouting, Mentoring- und Coachingprogramme). Für diese individualisierten Maßnahmen ist ein Mehrwert vor allem für Schüler:innen aus Familien ohne akademischen Hintergrund nachgewiesen. Die Befunde zur sozialen Heterogenität in der Berufsorientierung und -findung enthalten Hinweise, dass ökonomisch bedingte Motive bei den Schüler:innen nichtakademischer Herkunft höher gewichtet werden und die elterliche Unterstützung geringer ausfällt als in Familien mit akademisch ausgebildeten Eltern. Als Forschungsdesiderat fasst Bienek resümierend zusammen, dass es an Studien fehlt, die sich „explizit mit der Berufsfindung von Abiturient*innen nichtakademischer Herkunft befassen“ (S. 61), und die Sicht der Schüler:innen erfassen sowie das beanspruchte Talentscouting involvieren.

3 Theoretischer Kontext und heuristischer Bezugsrahmen (S. 63–81)

Im Anschluss eruiert die Autorin theoretische Ansätze, die den individuellen Berufsfindungsprozess und die beeinflussenden Umweltfaktoren sowie die Rolle von Unterstützungsfaktoren mit Blick auf die Heterogenität der Gruppe und aus subjektorientierter Perspektive zu erklären vermögen. Neben psychologischen und soziologischen Ansätzen überprüft Bienek ferner die Annahmen der Übergangsforschung und orientiert sich hauptsächlich an der sozial-kognitiven Laufbahntheorie (SCCT), weil sie am zutreffendsten Selbstwirksamkeits- und Ergebniserwartungen sowie persönliche Ziele bei der Berufswahlentscheidung zu integrieren vermag. Aus den insgesamt vier Modellen der Theorie (Interessensentwicklung, Berufswahl, berufliche Leistung, berufliche und allgemeine Zufriedenheit) konzentriert sich die Verfasserin auf die beiden erstgenannten Variablen, stellt diese dar und ergänzt sie um nähere und fernere Kontexteinflüsse, in welche die Personenvariablen eingebunden sind. Schließlich stellt sie heraus, welche Hinweise aus der SCCT gewonnen werden können, um die Interventionen (Beratung) auszugestalten und fügt Forschungsbefunde an. Weil für die Studie das soziale Nahumfeld (nichtakademische Herkunft bzw. Risikolage einerseits und Talentscouting andererseits) besonders relevant ist, ergänzt die Autorin das Kapitel um theoretische Befunde zur Bedeutung von sozialer Unterstützung (emotional, interpretativ-deutend, informativ-beratend, praktisch-instrumentell), zu den sozialen Netzwerken und zum Sozialkapital nach Bourdieu. Ausdrücklich betont Bienek, die vorgestellten Theorien und Konzepte lediglich als Heuristik verstehen zu wollen, um „spezifische Aspekte im Material zu identifizieren“ (S. 81), nicht aber dem Material überzustülpen.

4 Methodologie und forschungsmethodisches Vorgehen (S. 82–104)

Als Gegenstand formuliert Bienek „die Betrachtung von Berufsfindung aus Perspektive von Abiturient*innen nicht akademischer Herkunft, die am Programm NRW-Talentscouting teilnehmen“ (S. 82) und entwickelt die Forschungsfragen zur Berufsfindung als Entwicklungsaufgabe, zu den Motiven und Bedarfen der Schüler:innen, zur Bedeutung von signifikanten Anderen (Eltern, Lehrkräften o.a.) und zu den individualisierten Beratungsangeboten der Scouts. Ihre explorativ angelegte Studie framet sie praxeologisch-wissenssoziologisch mit der Begründung, implizites handlungspraktisches Wissen eruieren zu wollen, das die Abiturient:innen leite, ihnen aber nicht nur reflexiv zugänglich (theoretisch), sondern habitualisiert (atheoretisch) inkorporiert sei. Folglich verortet sie ihre Arbeit in der dokumentarischen Forschung und bezeichnet ihr Vorgehen als dokumentarische Methode, mit der sie Sinngehalte erschließen will. Richtschnur für das Sampling bildete der Einschluss der Schultypen, an denen (Fach-)Abitur erworben werden kann, Dimensionen von Heterogenität (Geschlecht, Migrationsstatus) abgebildet werden, der Ballungsraum Ruhrgebiet und mindestens eine einjährige Betreuung durch einen Talentscout. Über letztere verlief auch der Feldzugang. Erhoben wurden die Daten mittels narrativer Interviews entlang eines Leitfadens mit 14 Abiturient:innen (plus drei Probeinterviews), wobei drei Interviews begründet nicht ausgewertet wurden. Die Befragten erfüllten das Kriterium der nichtakademischen Herkunft oder einer Risikolage (z.B. Sozialleistungsbezug), waren 18 bis 21 Jahre alt (6 männliche und 5 weibliche Personen) und Scouts berieten mindestens 2 Personen. Die Auswertung der Interviews orientierte sich an der Schrittfolge der dokumentarischen Interpretation (formulierende, reflektierende Interpretation und anschließende Typenbildung).

5 Ergebnisse: Eine mehrdimensionale Typologie (S. 105–180)

Die nach dem System TiQ (Talk in qualitative research) transkribierten Interviews wurden der dokumentarischen Interpretation folgend ausgewertet.

Es ließen sich zwei sinngenetische Typiken bilden: A) Bearbeitung der Berufsfindung und B) Kooperation mit dem Talentscouting. Im Vorgehen werden jeweils zunächst das gemeinsame Orientierungsproblem und im Anschluss die Vergleichsdimensionen erläutert.

In Typik A) Selbstverortung werden die Vergleichsdimensionen Selbstbezug in der Berufsfindung, Bezugnahme auf das soziale Umfeld sowie auf formale Anforderungen und Rahmenbedingungen eruiert. Es ergaben sich die vier Typen A1 selbstbezogener Modus mit Orientierung an Selbstverwirklichung, A2 beziehungsorientierter Modus mit Orientierung an Selbstbestimmung unter Berücksichtigung der Vorstellungen signifikanter Anderer, A3 anforderungsorientierter Modus mit Orientierung an der Umsetzung von familiär geprägten Berufswünschen und A4 reaktiv-affirmativer Modus mit Orientierung an gesellschaftlichen Normen und Erwartungen. Bei Typik B) Zusammenarbeit im Talentscouting wurden die Kriterien Sicht auf das Talentscouting, Inhalt und Gegenstand der Zusammenarbeit und die Interaktionsgestaltung zugrunde gelegt. Daraus ergaben sich die drei Typen B1 Modus der Kooperation mit dem Talentscout als stetiger berufswahlbezogener Partner, B2 Modus der (Lebens-)Begleitung durch den Scout in engmaschiger Anbindung und B3 Modus der Unterstützung (anlassbezogen und punktuell). In einem weiteren Schritt kombiniert die Autorin die beiden Handlungsdimensionen und stellt soziogenetische und relationale Überlegungen an, die eine Gesamttypologie aus der Verbindung des familiären Bildungsmilieus und der Nutzung des Talentscoutings ergibt.

6 Zusammenfassung, Einordnung und Diskussion der Erkenntnisse (S. 181–202)

Zusammenfassend kann als pauschalierte Antwort auf die Forschungsfragen festgestellt werden, dass das Talentscouting in Abhängigkeit von herkunftsrelevanten Faktoren und der Unterstützung von relevanten Anderen sowie der Bearbeitungsweise der Berufsfindung genutzt wird. Die Studienergebnisse bestätigen punktuell vorhandenes Wissen und erweitern es auch, wie z.B. hinsichtlich der Bedeutung des Umfelds für die Abiturient:innen ohne akademischem Familienhintergrund. Zudem ergeben sich Hinweise auf weitere Forschungsthemen und auch Implikationen für die Praxis des Talentscoutings lassen sich ableiten. Ferner erwähnt die Autorin Limitationen der Erhebung und Auswertung des Datenmaterials.

Diskussion

Die intendierte Erforschung des Einflusses von Talentscouting auf die Studienorientierung von Absolvent:innen mit allgemeiner Hochschulreife der Schultypen Berufskolleg und Gesamtschule, die als Bildungsaufsteiger:innen gelten, weil sie aus familiären Konstellationen in Risikolagen kommen und/oder deren Eltern keine akademische Bildung vorweisen können, offenbarte selbst bei der kleinen Fallzahl multifaktorielle Zusammenhänge. Die Autorin reagierte sehr sorgfältig und hat die Handlungsdimensionen Berufsorientierung und Kooperation mit den Talentscouts unabhängig voneinander ausgewertet und erst nach der Typenbildung in Relation gesetzt und aus der Kombination von vier mal drei Typen gewisse gesicherte Verbindungen abgeleitet. Angesichts der Gegebenheiten beim Sampling, kann von der Selektion interessierter Schüler:innen ausgegangen werden, die nicht die Gruppe nichtakademischer Herkunft repräsentiert; ebenso wenig wurden Abiturient:innen aus Gymnasien und aus ländlichen Regionen einbezogen. Trotz dieser bedingten Reichweite der Ergebnisse – was im Übrigen von der Autorin als Limitation gesehen wird – und des Geflechts an Faktoren, die beim Scouting und bei der Studienorientierung mitwirken, hat sich der „wissenschaftliche Aufwand“ der Studie gelohnt.

Für bildungspolitische Programme verantwortliche Personen, die Potenziale von sog. „first generation“ Studierenden eruieren und heben wollen, lässt sich ableiten, dass die Beratungsangebote, wie sie von den Agenturen für Arbeit angeboten werden, aus verschiedenen Gründen nicht genügen. Im Unterschied dazu können Scouts, um nur ein paar Faktoren zu nennen, die Erwartungshaltungen des familiären Umfeldes bearbeiten, ihre Verfügbarkeit ist viel niedrigschwelliger, sie werden als neutral und ergebnisoffen eintaxiert, sie lassen sich stärker auf den Orientierungsprozess inklusive von studienbezogenen Habits und Ängsten ein. Insofern motivieren die Resultate der Studie, Programme wie die Talentscouts zur Potenzialgewinnung nach zu justieren und weiter zu verfolgen.

Fazit

Das Buch ist in Gliederung und Argumentation sehr gut strukturiert, im Vorgehen nachvollziehbar und stets an der Fragestellung ausgerichtet. Eilige Leser:innen können sich auf die Zusammenfassungen konzentrieren. Vom Ergebnis her betrachtet eine Publikation, die optimistisch stimmt, weil sich das Talentscouting als Programm eignet, herkunftsbedingte Ungleichheit abzuschwächen.

Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 82 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.

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ISSN 2190-9245