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Dietrich Benner: Allgemeine Pädagogik

Rezensiert von Prof. Dr. Karl-Heinz Dammer, 25.04.2025

Cover Dietrich Benner: Allgemeine Pädagogik ISBN 978-3-7799-8758-1

Dietrich Benner: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2025. 9. Auflage. 312 Seiten. ISBN 978-3-7799-8758-1. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.
Reihe: Grundlagentexte Pädagogik.

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Thema

Die Allgemeine Pädagogik ist eine Subdisziplin der Erziehungswissenschaft, die sich mit deren systematischer und historischer Begründung befasst. In dieser Rolle galt sie früher als „Königsdisziplin“, bereits seit Längerem wird jedoch kontrovers diskutiert, ob sie angesichts der Ausdifferenzierung der Erziehungswissenschaft und der pädagogischen Berufsfelder wie auch mit Blick auf den Theoriepluralismus noch zeitgemäß und legitimierbar sei. Dies lässt sich auch an der erstmals 1987 erschienenen Allgemeinen Pädagogik von Benner ablesen. Kamen deren erste vier Auflagen noch ohne eine Rechtfertigung des Unterfangens aus, so stellt Benner ab der 5. Auflage (2005) seinem Text ein Kapitel zur „Schwierigkeit, Notwendigkeit und Möglichkeit einer Allgemeinen Pädagogik“ voran, in dem er die Debatte aufgreift. Er folgt dabei keinem bestimmten Theorieparadigma; worum es ihm geht, ist eine problemgeschichtliche und handlungstheoretische Erschließung des Gegenstands.

Der Untertitel „Einführung in die Grundstruktur“ wie auch der Reihentitel, in dem das Buch erschien, „Grundlagentexte Pädagogik“, kann zu Missverständnissen führen. Es handelt sich nicht um eine propädeutische Einführung in die Grundlagen der Pädagogik, sondern um eine philosophisch fundierte Grundlegung pädagogischen Denkens und Handelns. Adressaten sind also nicht Studienanfängerinnen oder -anfänger, sondern in pädagogischen Handlungsfeldern Tätige, die bereits theoretisches und praktisches Vorwissen mitbringen.

Autor

Dietrich Benner (*1941) bringt von seinem Werdegang her alle Voraussetzungen für ein solch ambitioniertes Vorhaben mit. Er war von 1973 bis 1991 Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Münster, danach bis zu seiner Emeritierung 2009 an der Humboldt-Universität in Berlin. Benner hat nicht nur kontinuierlich seine Allgemeine Pädagogik dem Entwicklungsstand der Disziplin folgend weiterentwickelt, sondern auch Monographien zu pädagogischen „Klassikern“ wie Herbart und Humboldt veröffentlicht, die Geschichte der Reformpädagogik aufgearbeitet und das Historische Wörterbuch der Pädagogik mit herausgegeben.

Aufbau

Bereits im Aufbau des Buches zeigt sich, dass es Benner um eine grundlegende Klärung des Zusammenhangs von pädagogischer Theorie und Praxis im Rahmen der gesellschaftlichen Gesamtpraxis geht. In diesem Sinne wendet sich Benner nach der Begründung seines Projekts (1. Kapitel) zunächst der „Stellung der pädagogischen Praxis im Rahmen der gesellschaftlichen Gesamtpraxis“ zu, indem er den Blick für die Gefährdung der Gesamtpraxis durch die Dominanz einzelner ihrer Felder schärft und den Unterschied zwischen gesellschaftlicher und beruflicher Praxis herausarbeitet (2. Kapitel). Im 3. Kapitel widmet er sich den „Prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns“, wobei er zwischen konstitutiven und regulativen Prinzipien unterscheidet. Auf dieser Grundlage werden im 4. Kapitel handlungstheoretische Überlegungen zu einer „systematischen Erziehungswissenschaft“ angestellt, die sich einerseits auf Erziehung und Bildung, andererseits auf die dafür zuständigen Institutionen beziehen. Damit wird ein Übergang zur gesellschaftlichen Praxis hergestellt, den Benner im 5. Kapitel bezogen auf die „Handlungsdimensionen pädagogischer Praxis“ spezifiziert. Hier geht es um die drei zentralen Problemfelder der Legitimation pädagogischer Gewaltausübung, der Gestaltung eines zugleich erziehenden und bildenden Unterrichts sowie der pädagogisch geleiteten Einführung in gesellschaftliche Handlungsfelder. Mit dem 6. Kapitel schließt sich der Kreis zur einleitenden Begründung der Allgemeinen Pädagogik angesichts der „Vielheit der Bereichspädagogiken.“

Die einzelnen Kapitel behandeln zwar in sich abgeschlossene Themen, zentrale Begriffe und Denkfiguren werden aber immer wieder aufgegriffen, sodass der rote Faden nicht verlorengeht. Außerdem sorgen zahlreiche Beispiele dafür, die theoretischen Überlegungen zu konkretisieren. Grundsätzliche Kennzeichen von Benners Argumentation sind zum einen die jedem Kapitel vorangestellte problemgeschichtliche Einbettung, zum anderen seine stets dialektische Kritik an Extrempositionen. Er setzt sich damit wohltuend von erziehungswissenschaftlichen Texten ab, die sei es Altbekanntes als eine neue Entdeckung ausgeben, sei es einseitige Problemlösungen als „Heilsbotschaften“ propagieren.

Inhalt

Im Einleitungskapitel begründet Benner seine Absicht, trotz naheliegender Infragestellungen, in Anlehnung an Wilhelm Flitners Begriff einen „pädagogischen Grundgedankengang“ ausgehend von präreflexiven Grundlagen der Erziehung und der Idee einer allgemeinen Menschenbildung zu skizzieren und seine Geltung für alle theoretischen und praktischen Fragestellungen der Pädagogik zu begründen.

Im 2. Kapitel wird der Begriff der „Gesamtpraxis“ entfaltet und die Stellung der pädagogischen Praxis darin bestimmt. Mit „Gesamtpraxis“ ist das Ensemble aller kollektiven Tätigkeiten gemeint, mit dem die Menschen sich als Menschen hervorbringen und ihr Leben gestalten. Dies geschieht in einem Spannungsfeld zwischen einerseits der Allmachtsphantasie, die Geschichte, dem aufklärerischen Fortschrittsgedanken entsprechend, beliebig gestalten zu können, und andererseits dem sich resignativen Fügen in historische Notwendigkeiten. Unhintergehbare Grenzen dieses Gestaltungsprozesses sind für Benner die Geschichtlichkeit und die Leiblichkeit des Menschen als elementare Voraussetzung seiner Weltzugänge. Dabei sieht er die Entfaltung einer der Humanität verpflichteten Praxis durch zwei Tendenzen der modernen Gesellschaft gefährdet: Die Verselbstständigung und Dominanz einzelner Praxissphären gegenüber anderen, wobei er vor allem an das Zusammenspiel von Wissenschaft, Technik und Ökonomie denkt, sowie die Aufspaltung von theoretischer und praktischer Vernunft. Beide Tendenzen stünden – so Benner im Anschluss an die Dialektik der Aufklärung – im Dienste der Steigerung menschlicher Macht.

Im zweiten Teil dieses Kapitels wird der Zusammenhang zwischen der Gesamtpraxis und der spezifischen Praxis pädagogischer Berufe herausgearbeitet. Hier knüpft Benner explizit an Marx‘ anthropologisches Verständnis von Arbeit als grundsätzlichen Modus der tätigen Weltaneignung an, um zu begründen, dass eine (zumal pädagogische) Berufspraxis nicht nur aus den spezifischen Aufgaben der jeweiligen Profession heraus, sondern mit Blick auf ihre Bedeutung und Konsequenzen für die gesamtgesellschaftliche Praxis konzipiert werden muss. Unter dieser Voraussetzung kann die Professionalisierung der Pädagogik mit der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen legitimiert werden, solange sie dabei im Auge behält, dass der Mensch seine Bestimmung nicht der Erziehung verdankt, sondern sie erst in der und durch die Praxis findet.

Das 3. Kapitel zu den „Prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns“ wird strukturiert durch die Unterscheidung von konstitutiven und regulativen Prinzipien. Zu ersteren zählen „Bildsamkeit“ und die „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ als Voraussetzung für die regulativen Prinzipien, die das Verhältnis von Pädagogik und Gesellschaft betreffen, nämlich die „Transformation gesellschaftlicher Einflüsse in pädagogisch legitime Einflüsse“ und die „nicht-hierarchische Ordnung menschlicher Gesamtpraxis“.

Die beiden konstitutiven Prinzipien wurden erst in der Aufklärung, namentlich von Rousseau und Herbart explizit formuliert, gelten aber überzeitlich. Sie bedingen sich gegenseitig, da die jedem Individuum gegebene Fähigkeit und das Verlangen sich aus eigener Kraft zu bilden durch die Aufforderung zur Selbsttätigkeit pädagogisch angeregt und begleitet werden muss, wenn es zu einer reflektierten Wechselwirkung von Denken und Handeln kommen soll. Dabei ist von Anfang an die Freiheit des zu Erziehenden und damit auch das Ende der Erziehung mitzudenken.

Da die Bildung eines Menschen sich immer in einem gesellschaftlichen Kontext vollzieht, müssen die beiden regulativen Prinzipien hinzutreten. Regulativ sind sie als grundsätzliche Orientierungspunkte der Praxis, deren Umsetzung aber in sich verändernden historischen Konstellationen immer wieder neu reflektiert werden muss. Mit dem ersten Prinzip ist gemeint, dass die Pädagogik ihre konstitutiven Prinzipien als Forderung an die Gesellschaft heranträgt und sich nicht damit begnügt, nur gesellschaftskonforme Individuen zu erziehen. Dies setzt freilich voraus, dass die anderen Praxen (Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Ästhetik, Religion etc.) die konstitutiven Prinzipien als für sie nützlich anerkennen und ihnen institutionellen Raum zur Entfaltung geben. Vollständig gelingen kann dies nur, wenn das vierte Prinzip gilt, demzufolge die gesellschaftlichen Teilpraxen sich gegenseitig gleichberechtigte Autonomie zugestehen sollen. Benner kritisiert hier, wie auch später ausführlicher, dass diese Voraussetzung in der avancierten modernen Gesellschaft nicht gegeben sei, denn deren treibende Kraft sei das Streben nach einer möglichst umfassenden instrumentellen Beherrschung der (natürlichen wie gesellschaftlichen) Welt, weswegen Wissenschaft und Ökonomie zu dominanten Praxen geworden seien.

Nach der Klärung der Prinzipien steckt Benner im 4. Kapitel den handlungstheoretischen Rahmen der Erziehungswissenschaft ab, indem er sich zunächst gegen gängige Positionen affirmativer (also den bestehenden Verhältnissen zuarbeitender) und kritischer (diese Verhältnisse ablehnender) Erziehungswissenschaft abgrenzt, die er gleichermaßen für affirmativ hält, da sie positive Erziehungsziele als normativ verbindlich setzen und damit einer instrumentellen, aber nicht handlungstheoretischen Konzeption von Erziehung folgen. Eine solche hätte vielmehr die Aufgabe, in einem offenen intergenrationellen Dialog Fragen zu provozieren und die Jugend zum Selbstdenken und -handeln anzuregen.

Auf dieser Grundlage skizziert Benner eine Bildungstheorie, die sich weder einseitig material (von den Inhalten ausgehend), noch formal (auf die individuellen Fähigkeiten zielend) versteht. Sie vermeidet damit die Gefahr, entweder die Subjektivität zu hoch zu taxieren oder umgekehrt gesellschaftliche Anforderungen als Bildungsziel zu verabsolutieren. Vielmehr geht sie von der ergebnisoffenen Bildsamkeit des Individuums als verbindlichem Orientierungspunkt aus, was Benner unter Rückgriff auf Rousseau, Herbart und Schleiermacher ausführlicher begründet.

Da eine Bildungstheorie handlungstheoretisch erst dann relevant ist, wenn man die Möglichkeiten ihrer gesellschaftlichen Umsetzung mit ins Auge fasst, ergänzt Benner sie durch eine Theorie pädagogischer Institutionen, um im Sinne des ersten regulativen Prinzips zu klären, „welche Merkmale und Strukturen Institutionen aufweisen müssen, um Orte eines erziehungstheoretisch und bildungstheoretisch legitimierten pädagogischen Handelns zu sein“ (S. 173). Dies gilt, stets mit der Perspektive auf die gesellschaftliche Gesamtpraxis, sowohl für die Familie als auch für die Schule und die berufliche Bildung, die jeweils nicht gegeneinander austauschbare institutionelle Aufgaben übernehmen. Im Kern geht es hier immer darum, dass jeder einzelne Mensch aus eigener Kraft einen ihm angemessenen Weg in die Gesellschaft finden kann und diese ihm die Möglichkeiten dazu bereitstellt.

Die allgemeinen handlungstheoretischen Überlegungen bekommen im 5. Kapitel, in dem es um die Handlungsdimensionen pädagogischer Praxis geht, konkrete Gestalt. Hier folgt Benner Herbart, der drei Formen pädagogischen Handelns unterschied: das sich negierende Gewaltverhältnis über Unmündige, die Gestaltung gleichermaßen erziehender und bildender Lehr-Lern-Prozesse und die Integration in nicht-pädagogische Handlungsformen, also den Übergang in die anderen gesellschaftlichen Praxen.

Die paradox erscheinende Forderung, dass das objektiv gegebene Gewaltverhältnis von Erwachsenen über Kinder gleichzeitig negiert werden soll, hat, wie Benner in seiner problemgeschichtlichen Rekonstruktion verdeutlicht, ihren Ursprung in der Aufklärung. Exemplarisch formuliert wird sie in Kants berühmter „Kardinalfrage“ der Pädagogik: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ Die Frage lässt sich, wie Benner nachweist, weder autoritär, noch antiautoritär beantworten, sondern nur, indem man auch die noch Unmündigen, dem kategorischen Imperativ nach, als zur Freiheit bestimmte Wesen behandelt, denen gegenüber Gewaltanwendung nur gerechtfertigt ist, um Gefahr durch uneinsichtiges Handeln von ihnen abzuwenden, nicht aber, um ihren Willen zu lenken.

Eingehender beschäftigt sich Benner mit der zweiten Dimension, dem erziehenden und bildenden Unterricht, was seiner intensiven Beschäftigung mit Herbart geschuldet sein dürfte, der den Begriff „erziehender Unterricht“ prägte. Gemeint ist damit ein Unterricht, der mit der Anleitung von Bildungsprozessen den Lernenden zugleich eine bestimmte Haltung sich selbst gegenüber als Welt erkennende und deutende Wesen vermittelt. Zur Begründung der dafür notwendigen Methode greift Benner weit zurück auf erkenntnis- und daraus abgeleitet lerntheoretische Überlegungen von Aristoteles sowie auf Kants Begriffe der „reinen“ und der „praktischen Vernunft“, wobei die Unterschiede zwischen der antiken und der neuzeitlichen Konzeption deutlich werden. Die entscheidende Frage erziehenden Unterrichts ist hier, wie theoretische und praktische Vernunft in den Lernprozessen so aufeinander bezogen werden können, dass, mit Herbart gesprochen, „vielseitiges Interesse“ entsteht. Nach diesen theoretischen Überlegungen illustriert Benner sehr ausführlich an jeweils einem Themenbeispiel aus der Sekundarstufe I (Licht) und der Sekundarstufe II (Darwins Evolutionstheorie), wie eine solche Verbindung von der lebensweltlichen Ebene über die Analyse und Kritik von Erkenntnismethoden und ihrer Bedingtheit bis hin zur Frage nach der praktischen Bedeutung des Analysierten hergestellt werden kann.

Auch bei der Darstellung der dritten Aufgabe der Pädagogik, der „Organisation des Übergangs ins Leben“, greift Benner auf Herbart zurück, der betonte, dass das für die beiden vorherigen Phasen kennzeichnende hierarchische Gefälle aufgehoben und durch Verständigung unter prinzipiell Gleichgestellten abgelöst werden soll, wozu er ein vierstufiges Schema entwickelte (S. 292). Wesentliches Ziel der pädagogischen Einwirkung ist hier, den Motivationshorizont der Lernenden möglichst breit zu gestalten, um die Fokussierung auf nur einen Praxisbereich zu verhindern. Es geht hier also nicht nur um berufliche Bildung, sondern umfassender darum, dass künftige Bürgerinnen und Bürger sich vielseitig und produktiv in die Gesellschaft einbringen.

Das sechste und letzte Kapitel beginnt mit dem einschränkenden Hinweis, dass der vorgelegte Entwurf nur eine von mehreren denkbaren Möglichkeiten sei, einen pädagogischen Grundgedankengang zu entwickeln, dass er aber aus der historischen Entwicklung des Erziehungsdiskurses heraus legitimiert sei. Eine so konzipierte Allgemeine Pädagogik formuliere die fundamentalen Problemstellungen, mit denen jede spezielle Pädagogik unvermeidbar konfrontiert sei und die sie aus ihrer Perspektive reflektieren und bearbeiten müsse. Darüber hinaus erfülle sie in doppelter Hinsicht eine kritische Funktion, zum einen hinsichtlich der sachlichen Angemessenheit und Geltungsansprüche verschiedener Theorieansätze, zum anderen als prüfende Instanz für normative Ansprüche an die und der Pädagogik.

Diskussion

Benners Buch wird der Komplexität des ambitionierten Unterfangens in jeglicher Hinsicht gerecht, stellt damit aber auch relativ hohe Ansprüche an seine Leserschaft, die, wie eingangs bereits erwähnt, Vorwissen mitbringen sollte, um von der Lektüre profitieren zu können. Es handelt sich nicht um ein Kompendium, in dem man kapitelweise blättern kann, sondern um eine systematische Abhandlung, deren differenziertem Argumentationsgang man von Anfang an folgen muss, aber dank seiner Stringenz auch folgen kann. Die sprachliche Darstellung ist zwar der Komplexität des Gegenstandes angemessen und auf dessen präzise theoretische Erfassung bedacht, verzichtet aber wohltuend auf eitlen Theoriejargon. Auch greift Benner zentrale Begriffe und Argumentationsfiguren über die Kapitel hinweg immer wieder auf, sodass der rote Faden präsent bleibt. Die Konkretisierungen durch Beispiele schließlich tun ein Übriges dafür, dass der Bezug zur Praxis immer präsent bleibt. Unter diesen Voraussetzungen ist es kein Manko, dass das Buch weder ein Stichwort- und Namensregister, noch ein Literaturverzeichnis enthält; man findet alle Referenzen in den zum Teil sehr ausführlichen Fußnoten.

Die Mühe der Lektüre lohnt sich indes, denn wer, sei es in der Theorie oder in der Praxis, mit Pädagogik befasst ist, erkennt mit Benners Ausführungen nicht nur, inwieweit die beiden Bereiche aufeinander verwiesen sind, sondern findet hier auch die treffenden Argumente für eine fundierte Begründung des eigenen Denkens und Handelns. Darüber hinaus lernt man, in pädagogischen Zusammenhängen dialektisch zu denken, also Gegensätze in ihrer wechselseitigen Bedingtheit zu erfassen und einseitigen Problemlösungsansätzen gegenüber skeptisch zu werden.

Jenseits dieses individuellen Nutzens der Lektüre ist es vielleicht das größte Verdienst der Studie, dass sie genuin pädagogischer Argumentation wieder Geltung zu schaffen versucht, weswegen auch die 9. Auflage des vor knapp 40 Jahren erstmals erschienen Buchs sehr zu begrüßen ist. War in den 1970er-Jahren von einer die Eigenständigkeit der Disziplin gefährdenden „Versozialwissenschaftlichung“ die Rede, so droht der Pädagogik als Wissenschaft heute aus mehreren Richtungen eine Marginalisierung. Als Beispiele seien hier genannt:

  • Der Positivismus empirischer Bildungswissenschaften, dessen bekanntestes Beispiel die PISA-Studie ist und der zwar mit seiner Datenproduktion politische Steuerungsbedürfnisse bedienen, aber keine pädagogischen Fragen klären kann.
  • Die Versuche, gerade „angesagte“ Konzepte aus anderen Disziplinen zu adaptieren (z.B. Kompetenz, Resilienz, Achtsamkeit), ohne hinlänglich die pädagogischen Bedingungen und gesellschaftlichen Grenzen solcher Übernahmen zu berücksichtigen.
  • Die Unterordnung pädagogischer Reflexion unter politische Programmatiken, wie beispielsweise die „Individualisierung“ im reduzierten neoliberalen Sinne eines „homo oeconomicus“.

Gegen solche Tendenzen „feindlicher Übernahme“ oder pädagogischer Selbstentfremdung ist Benners Studie eine willkommene Erinnerung an die Besonderheit der Pädagogik und ihre Stärke, die nicht zuletzt, seit Rousseau, darin besteht, ein kritisches Korrektiv gegen die Vereinnahmung des Individuums durch die Gesellschaft zu sein.

Dies gilt auch noch dort, wo Benners Studie an ihre Grenze stößt. Sie besteht darin, dass das zweite regulative Prinzip, das nicht-hierarchische Verhältnis der Teilpraxen, nicht der gesellschaftlichen Realität entspricht und folglich die Pädagogik unter dieser Bedingung ihren gesellschaftlichen Auftrag nicht vollkommen erfüllen kann, da sich aus der Dominanz bestimmter Teilpraxen einschränkende Erwartungen an die Individuen ergeben. Dies allerdings ist eine objektive Grenze, die Benner klar herausstellt und damit nicht nur den kritischen Auftrag der Pädagogik unterstreicht, sondern diese auch vor Illusionen über ihre Einflussmöglichkeiten bewahrt.

Fazit

Benner gelingt es, ebenso philosophisch und historisch fundiert, wie auch mit Blick auf die Herausforderungen und Grenzen, mit denen die Pädagogik in der Praxis konfrontiert ist, ein solides theoretisches Fundament für erzieherisches Denken und Handeln zu legen. Dies bleibt auch in der 9. Auflage ein notwendiges Unterfangen angesichts der zu beobachtenden Marginalisierung der Pädagogik nicht nur im öffentlichen, sondern auch im Fachdiskurs. Dass dies in mehr (richtige) Fragen als in (vorschnelle) Antworten mündet, ist keine Schwäche, sondern eine Stärke des Buches.

Rezension von
Prof. Dr. Karl-Heinz Dammer
Professor für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
Arbeitsschwerpunkte: Erziehungs- und Bildungsphilosophie, Geschichte der Schule, Bildung und Erziehung im gesellschaftlichen Kontext, Bildungsreformen.
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Es gibt 2 Rezensionen von Karl-Heinz Dammer.

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ISSN 2190-9245