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Wilhelm Schmid: Die Suche nach Zusammenhalt

Rezensiert von Dr. Claudia Schroth, 20.05.2025

Cover Wilhelm Schmid: Die Suche nach Zusammenhalt ISBN 978-3-518-43236-5

Wilhelm Schmid: Die Suche nach Zusammenhalt. Ich und Wir: Vom schönen und schwierigen Leben in Gesellschaft. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2025. 469 Seiten. ISBN 978-3-518-43236-5. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR, CH: 36,50 sFr.

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Thema

Schmid spricht mit seinen Büchern ein sehr breites Publikum an. Er verwendet Alltagssprache und beleuchtet allerlei Thematiken, die vielen Leserinnen und Lesern unweigerlich – bewusst oder unbewusst; freiwillig oder unfreiwillig – bereits bekannt sind: In „Die Suche nach Zusammenhalt“ thematisiert er u.a. die Ränder der Gesellschaft, Soziale Medien und Digitalisierung, die Notwendigkeit von Staatsstrukturen, die Corona-Pandemie, das Gendern, die Umweltbewegung, den Generationenkonflikt, Produktmarketing, Hospizarbeit, Austritte aus der Kirche aufgrund von Skandalen und vieles weitere. Die Thematiken und dazugehörigen Beobachtungen der positiven und negativen Einflussnahmen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt sind meist nicht neu und auch der breiten Leserschaft aus eigener Erfahrung eingängig. „Die Suche nach Zusammenhalt" umfasst jedoch all diese Themen kurz und bündig, vermittelt einen Überblick und spiegelt so die (post-)moderne, komplexe Gesellschaft selbst wider: Viele Thematiken spielen gleichzeitig eine Rolle und wirken aufeinander ein. Nur eine zu betrachten wäre zu kurzsichtig.

Autor

Wilhelm Schmid, geb. 1953, lehrte als außerplanmäßiger Professor Philosophie an der Universität Erfurt. Er war als Gastdozent an der Universität Riga (Lettland) und der Universität Tiflis (Georgien) sowie als „philosophischer Seelsorger“ in einem Krankhaus nahe Zürich (Schweiz) tätig. Er erhielt u.a. den Meckatzer-Philosophie-Preis (2012), einen Preis der Egnér Stiftung (2013) und wurde für die Shortlist des Tractatus-Essaypreises nominiert (2014).

Entstehungshintergrund

Den Schreibprozess von „Die Suche nach Zusammenhalt“ begann Schmid bereits um 2020. Es wurde jedoch aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklungen und Geschehnisse, wie u.a. die Corona-Pandemie oder die politische sowie faktische Klimaveränderung, mehrfach vor der Veröffentlichung überarbeitet.

Aufbau

„Die Suche nach Zusammenhalt“ umfasst neben dem Vorwort und den Angaben zum Autor fünf Hauptkapitel, die sich je in 11–13 Unterkapitel mit je wenigen Seiten untergliedern:

  • In Gesellschaft leben, was heißt das?
  • Wer kümmert sich um die Gesellschaft?
  • Was tun Wirtschaft und Gesellschaft füreinander?
  • Welche Gefahren drohen der Gesellschaft?
  • Was hält die Gesellschaft (halbwegs) zusammen?

Inhalt

Schmid benennt die grundlegende Stoßrichtung seines Buches selbst wie folgt: „Weniger in einer Analyse der Gesellschaft sehe ich meine Aufgabe, mehr in einer Synthese, einer Zusammenfügung ihrer Bestandteile.“ (S. 12). Es handelt sich um eine „Reise durch die Gesellschaft“ (S. 458). Wie in seinen vorherigen Werken ist Schmid dabei nah am Menschen selbst. Nur um ein paar Beispiele zu benennen: In „Gelassenheit“ (Insel Verlag, 2014) reflektierte er offen seine eigenen Vorstellungen und Wünsche des Älterwerdens und wie sich diese in seiner eigenen Wahrnehmung veränderten. „Den Tod überleben“ (Suhrkamp 2024) resultierte wiederum aus dem Tod seiner Frau und dem Umgang mit diesem Verlust. „Die Suche nach Zusammenhalt“ basiert jedoch, so zumindest der Eindruck beim Lesen, etwas mehr als die bisherigen Werke auf Gesprächen mit anderen. Er schildert zahlreiche Gespräche mit Repräsentanten unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und (Berufs-)Gruppen, beispielsweise mit einem Wohnungslosen, mit einem Busfahrer, einem Café-Besitzer, Aktien-Gesellschafter etc., über die Gesellschaft und ihrer Rolle in ihr. Und auch wenn in all diesen unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und (Berufs-)Gruppen der Zusammenhalt unterschiedlich stark ausgeprägt ist und durch unterschiedliche Werte dominiert wird, so ist wird doch deutlich, dass die Grundpfeiler des Zusammenhalts stets dieselben sind: Geselligkeit, empathischer Diskurs und Verlässlichkeit.

Einer der zentralen Merkmale des gesellschaftlichen Zusammenhalts für Schmid ist die Geselligkeit: „Aus Geselligkeit entsteht Gesellschaft. […] Geselligkeit überbrückt die Lücke zwischen Ich und Wir“ (S. 16). Als weiterer Faktor kann u.a. „Zeit und Entgegenkommen“ (S. 25), Zuhören genannt werden. Diese ist hilfreich, da es dazu beiträgt Probleme zu reflektieren und womöglich eine andere Haltung zu diesen einzunehmen (vgl. S. 21 ff.). Menschen, die einen ausgeprägten Blick für die Bedürfnisse anderer haben, verlieren allerdings womöglich den Blick für ihre eigenen Bedürfnisse. Als Gesprächspartner oder Gesprächspartnerin „muss [man daher zunächst] bereit sein und die Kraft dafür haben, Anderen zur Seite zu stehen“ (S. 9), damit die Selbsthingabe nicht irgendwann einer Selbstaufgabe gleicht. Ein Zuhören als empathischer Diskurs, der auch andere Meinungen zulässt (S. 22), stößt an seine Grenzen, wenn ganze Wertvorstellungen, wie die Rechtsstaatlichkeit oder Wahrheitsempfindungen als solche auf dem Spiel stehen und unvereinbare Vorstellungen einander gegenüberstehen. So lässt sich, nach einem eigenen Beispiel Schmids, kaum ein Gespräch zwischen zwei Personen führen, die ganz grundsätzlich unterschiedlicher Meinung seien, ob es „gesichertes Wissen darüber [gäbe], dass die Klimaveränderung menschengemacht sei“ (vgl. 454 ff.). Die Auffassungen seien bezüglich dieser Thematik einfach zu unvereinbar. Hier, metaphorisch gesprochen, wäre es äußerst mühsam einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen und auf diesem eine Brücke zwischen beiden Vorstellungen zu bauen. Ebenfalls kritisch bewertet Schmid die Übersensibilität der Woke-Bewegung. Um es deutlich zu sagen: Nicht die Bewegung als solche, wird von Schmid kritisiert: Sensibler mit der Sprache und ihren Folgen umzugehen, ist Schmid zufolge völlig richtig und notwendig. Doch eine zu versteifte Dogmatik welcher Art auch immer (vgl. 460), eine Übersensibilisierung, ein andauerndes Hinweisen auf (sprachliche) Fehler – und die Woke-Bewegung sei hier eben nur eines von vielen Beispielen –, führt unweigerlich dazu, dass das Gespräch bald ins Stocken gerät (vgl. S. 357 f.).

„Konfliktfrei kann eine Beziehung und erst recht die Gesellschaft nicht sein. Sie besteht aus Menschen mit so unterschiedlichen und gegensätzlichen Ideen und Überzeugungen, dass es wahlweise zum Staunen oder zum Verzweifeln ist“ (S. 112).

Auf der anderen Seite trägt ein empathischer Diskurs, ein konstruktiver Dissens, da wo er möglich und nicht ausschließlich kräftezerrend ist, durch Kompromissfindung zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei und ermöglicht es mit gesellschaftlichen Umbrüchen aller Art – wie u.a. politische oder sprachliche – umzugehen (vgl. S. 61). Schmid plädiert ganz im Sinne des empathischen Diskurses dafür das Gegenüber in seiner Lebensrealität, in seiner Rolle wahrzunehmen, ernst zu nehmen und in ein Gespräch zu treten: „Wesentlich für die Kommunikation ist zunächst nicht ihr Inhalt, sondern die Tatsache, dass sie stattfindet, denn sie verbindet die Ichs, begründet ein wenig Gemeinschaft“ (S. 21). Auch ein Gespräch über (vermeintliche) Banalitäten, wie über das Wetter oder über das Einkochen von Marmelade, schafft eine Verbindung (vgl. S. 325; vgl. auch Glück, S. 52 oder Liebe, S. 38): Zusammenhalt entsteht durch geschaffenen Zusammenhang und Zusammenhang schafft Sinn. Sinn wiederum stellt Schmid, wie er in mehreren Werken erläutert, über das Glück: Nicht das Glück sei entscheidend, sondern vielmehr der Sinn und erfüllende Zusammenhänge (vgl. Glück, S. 47), wie beispielsweise „verlässliche Beziehungen zu Anderen“ (S. 337).

Neben Geselligkeit und einem Zuhören, einem aufeinander Eingehen im empathischen Diskurs als wichtige Merkmale des Zusammenhalts, benennt Schmid als Kernelement Verlässlichkeit, die ihrerseits für Vertrauen sorgt (S. 369 f.).

Diskussion

Eine zentrale Haltung von Schmid ist, dass auch Menschen, die beispielsweise konträre politische Haltungen einnehmen, einen – zumindest rudimentären, aber dennoch freundlichen, mitmenschlichen – Zusammenhalt schaffen können, in dem sie Gemeinsamkeiten herausfinden, sich gegenseitig Zuhören. Fasst man dies bündig zusammen, so ließe sich festhalten: Dort wo es möglich ist Brücken zu bauen, sollte man diese auch bauen, um thematische Gräben an anderen Stellen zu umgehen und eine Verbindung zu schaffen. Dies scheint lobenswert, da es die Distanz der Gesellschaftsgruppen zumindest teilweise vermindert. Doch sollte es eben nicht bei diesen unverfänglichen Gesprächen, wie beispielsweise das Einkochen von Marmelade (vgl. S. 325), bleiben, denn durch den hierdurch entstandenen Zusammenhalt bestärke ich mein Gegenüber womöglich auch in anderen, von mir völlig abweichenden Haltungen. Allein vielleicht bereits schon dadurch, dass man sich öffentlich mit Querdenkern, Klimaleugnern, verfassungsfeindlichen Personen oder ähnlichen zeigt. Auch – und wie es scheint gerade – im persönlichen Umfeld sollten ernsthafte gesellschaftliche Thematiken diskutiert und nicht zugunsten des möglichen Miteinanders umschifft werden.

Zusammenfassend lassen sich mehrere grundlegende Thesen des Buches festhalten:

  1. Die Suche nach Zusammenhalt kann manchmal äußerst kräftezerrend sein und es ist nicht immer möglich einen noch so kleinen gemeinsamen Nenner zu finden.
  2. Man sollte nicht stets Konflikten aus dem Weg zu gehen, nur um einen kleinsten gemeinsamen Nenner aufrechtzuerhalten. Schmid selbst benennt die Notwendigkeit der Konflikte: „Die Klärung, wohin die Gesellschaft sich entwickelt [beispielsweise in Aspekten der Identitätspolitik oder gendersensibler Sprache], geschieht […] über Konflikte.“ (S. 51 f.).
  3. Der Umgang und die Auseinandersetzung mit dem Anderen sollte davon gekennzeichnet sein, dass sich jeder und jede um ein gutes Miteinander, um gesellschaftlichen Zusammenhalt bemüht, was eben auch einen mitmenschlichen Umgang mit Personen einschließt, die eine andere Haltung vertreten oder einer anderen Gesellschaftsschicht oder (Berufs-)Gruppe angehören.
  4. Um die Grundpfeiler des gesellschaftlichen Zusammenhalts – Geselligkeit, empathischer Diskurs mittels Zuhören, Sehen und Verstehen des Anderen und Verlässlichkeit – zu ermöglichen, müssen wir uns selbst als Individuen etwas zurücknehmen. Dieses Zurücknehmen – oder zumindest nicht die Überhöhung – des eigenen Ichs ist besonders in der modernen Zeit, etwa durch das Autonomie-Denken, ein kritischer Punkt (vgl. S. 71). Der gesellschaftliche Zusammenhalt lässt sich eben nicht als „Selbstverwirklichung“, sondern als „Beziehungsverwirklichung“ verstehen (vgl. Klappentext).

Fazit

Schmid zufolge ist die Gesellschaft womöglich gar nicht so zerrissen, wie stets der Eindruck vermittelt wird. Denn gesellschaftlicher Zusammenhalt entstehe und bestehe vor allem auch im Kleinen. Die Gesellschaft lebt von Bürgerinnen und Bürgern, die füreinander Sorge tragen, sich füreinander interessieren und in den Diskurs miteinander treten. 

Rezension von
Dr. Claudia Schroth
Koordinatorin der Exzellenzcluster-Initiative „Imaginamics“ sowie Koordinatorin des Graduiertenkollegs „Explorations in Practices and Dynamics of Social Imagining“, Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Es gibt 2 Rezensionen von Claudia Schroth.

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ISSN 2190-9245