Andrea Tures (Hrsg.): Das schwierige Kind?
Rezensiert von Alexandra Großer, 04.07.2025

Andrea Tures (Hrsg.): Das schwierige Kind? : Herausforderndem Verhalten professionell begegnen – in Krippe, Kita und Grundschule. Cornelsen Verlag GmbH (Berlin) 2025. 288 Seiten. ISBN 978-3-8346-5294-2. D: 34,99 EUR, A: 36,00 EUR, CH: 43,70 sFr.
Thema
Der Alltag pädagogischer Fachkräfte hält viele herausfordernde Situationen mit Kindern bereit. Schnell werden Kinder dann als aggressiv, wild, Systemsprenger*in oder schwierig etikettiert. In 17 Fachartikeln beleuchten verschiedene Autor*innen unterschiedliche Verhaltensweisen von Kindern, die pädagogische Fachkräfte als herausfordernd und schwierig erleben. Neben Hintergrundwissen bekommen die Leser*innen viele Impulse, um die eigene Sichtweise und Haltung zu überprüfen sowie Handlungskonzepte und Praxisimpulse für die pädagogische Praxis und professionelle Begleitung von Kindern an die Hand.
Herausgeber:innen
Neben der Herausgeberin Andrea Tures haben an dem Buch 16 Autor*innen mitgewirkt, die auf der letzten Umschlagsseite vorgestellt werden.
Dr. Andrea Tures ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Justus-Liebig-Universität Gießen am Institut für Kindheits- und Schulpädagogik. Sie ist Fort- und Weiterbildnerin und berät Kommunen und Träger im Kontext von frühpädagogischer Qualitätsentwicklung.
Entstehungshintergrund
Das Buch entstand aus einer Ringvorlesung heraus mit dem Titel „Das schwierige Kind“, welche die Herausgeberin an der Uni Gießen organisierte. Dazu eingeladen wurden verschiedene Expert*innen, die im Dialog mit Studierenden erläuterten, was herausgeforderte Kinder brauchen, ihnen Hintergrundwissen zu herausfordernden Verhaltensweisen gaben und wie durch die systemische Perspektive die Bedürfnisse aller Akteur*innen beachtet werden können.
Aufbau
Gegliedert ist das Buch in drei Teile mit insgesamt 17 Beiträgen unterschiedlicher Autor*innen. Der erste Teil enthält fünf Beiträge, die sich mit den Grundlagen herausfordernden Verhaltens beschäftigen. Der zweite Teil beschreibt in 10 Beiträgen verschiedene Verhaltensweisen von Kindern, die pädagogische Fachkräfte als herausfordernd erleben. Der dritte Teil enthält zwei Artikel. Davon nimmt einer die Zusammenarbeit mit den Eltern in den Fokus, der zweite Beitrag beschäftigt sich mit der Frage ab wann therapeutische Unterstützung sinnvoll ist. Jeder Beitrag ist nach einer festen Gliederung aufgebaut. Es beginnt mit Worum geht’s? den Mittelteil bilden die Punkte Wie sieht ein professioneller Umgang mit dem Konzept/Phänomen aus? Ein Beispiel aus der Praxis: (Kind X verhält sich…) und schließt mit einem Kapitel ab, das die Überschrift Welche Verantwortung haben Leitung und Träger? trägt. Innerhalb der verschiedenen Artikel finden sich Tabellen oder/und Grafiken sowie Blau hinterlegte Kästen mit Informationen, Reflexionsimpulsen, Impulsen für die Praxis und weiterführende Literatur, Podcasts oder Videos als auch Hinweisen zu Fort- und Weiterbildungen.
Inhalt
Teil I Grundlagen im Umgang mit herausforderndem Verhalten
Sytematisches Handeln bei herausforderndem Verhalten
Im ersten Beitrag stellt Klaus Fröhlich-Gildhoff das Konzept HeVeKi (Herausforderndes Verhalten in Kindertageseinrichtungen) vor. Der Autor warnt davor Kinder zu schnell als „schwierig“ (S. 16) oder „verhaltensauffällig“ (S. 14) zu etikettieren. Oft, so der Autor, wird nach „einem ‚Rezept‘ gesucht“ (S. 16), um Verhaltensweisen die Kinder zeigen und pädagogische Fachkräfte herausfordern „möglichst einfach und wirkungsvoll zu begegnen“ (ebd.). Was oft nicht bedacht wird, ist die Tatsache, dass Verhalten von Kindern „vielfältige Ursachen“ (ebd.) haben kann. Um diese in den Blick zu nehmen und das Verhalten zu verstehen stellt er den Handlungskreislauf des professionellen Handelns vor. Dieser besteht aus fünf Schritten, die der Autor im Einzelnen erläutert. Klaus Fröhlich-Gildhoff betont, dass hinter den „Bestandteilen des Kreislaufs […] weitere Elemente“ (S. 19) stehen, die die Grundlage für die Einzelelemente bilden und zu beachten sind. Mit einem Fallbeispiel verdeutlicht er die fünf Schritte in der Praxis.
Die Grundpfeiler einer bedürfnisorientierten Pädagogik
Lea Wedewardt und Kathrin Hohmann stellen in ihrem Beitrag die Grundsätze der bedürfnisorientierten Pädagogik (BoP) mit ihren Grundpfeilern Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen vor. Sie machen darauf aufmerksam, dass „die BoP […] eine pädagogische Haltung [ist], in der die Beziehung aller Beteiligten, der Kinder, Eltern und pädagogischen Fachkräfte im Fokus steht“ (S. 30). Neben der Beachtung der Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen des Gegenübers gehört dazu auch die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen zu beachten und sich selbst zu reflektieren. Die Selbstreflexion der pädagogischen Fachkräfte unterstützen sie mit Impulsen zu den Grundpfeilern. Mit der Analyse der Fallvignette verdeutlichen die Autorinnen, wie die Beachtung der Grundpfeiler und Selbstreflexion in Alltagssituationen zusammenwirken.
Ein Ethikkodex für die pädagogische Arbeit mit Kindern
Anne Piezunka geht in ihrem Artikel auf „die Qualität der Beziehungen zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern“ (S. 44) ein. In ihrem Fokus steht die seelische Gewalt in Kindertageseinrichtungen beziehungsweise das adultistische Verhalten von pädagogischen Fachkräften gegenüber Kindern. Die Autorin führt aus, dass seelische Gewalt innerhalb von Einrichtungen und pädagogischen Fachkräften unterschiedlich definiert wird. Nachdem es nicht einfach erscheint zu definieren, „ob eine Handlung eine Grenzüberschreitung darstellt“ (S. 46) führt die sie die „Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen“ (ebd.) ein, mit denen pädagogische Fachkräfte arbeiten können (vgl. ebd.). In diesem Ethikkodex sind zehn Leitlinien formuliert die beschreiben, „was ethisch begründet bzw. ethisch nicht zulässig ist“ (S. 47). Mit einem Praxisimpuls aus der eigenen Fortbildungspraxis ermutigt Anne Piezunka pädagogische Fachkräfte sich mit den „Herausforderungen in ihrem Arbeitsalltag“ (S. 51) als auch gleichzeitig mit der eigenen Verantwortung und Rolle auseinanderzusetzen, um seelische Gewalt abzubauen (vgl. ebd.).
Konzepte für Kindeswohl und Kinderschutz
Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Aus diesem Recht ergibt sich nach Jörg Maywald „ein Schutzauftrag für alle mit Kindern tätige pädagogische Fachkräfte“ (S. 56). Stand früher das Kindeswohlgefährdende Verhalten innerhalb von Familien im Fokus, zeichnete sich hier ein Wandel ab, der das Fehlverhalten pädagogischer Fachkräfte mit in den Fokus rückte. In einer Tabelle zählt der Autor die verschiedenen Formen von Gewalt, die in Kindertageseinrichtungen vorkommen können, auf. Er betont, dass Gewalt und Fehlverhalten von pädagogischen Fachkräften gegenüber Kindern „vielfältige Folgen“ (S. 60) für die Kinder und ihre Familien haben können. Neben den seelischen Folgen für das Kind kann das gewaltvolle Handeln pädagogischer Fachkräfte auch Auswirkungen auf die anderen Kinder in der Kita haben und das Gruppenklima beeinträchtigen. Manche Kinder können sich das Fehlverhalten der pädagogischen Fachkraft auch als Vorbild nehme und „ebenfalls übergriffiges Verhalten“ (ebd.) gegenüber Kindern und/oder Erwachsenen zeigen. Jörg Maywald geht ebenfalls auf die Folgen für die Kita ein und betont, dass jegliches übergriffiges Verhalten Konsequenzen haben muss. Vom kollegialen Gespräch bis hin zur Meldung bei Träger und Aufsichtsbehörde, je nach Schweregrad des Falls. Im Praxisbeispiel verdeutlicht der Autor die Vorgehensweisen und Konsequenzen zum Schutz der Kinder durch das übergriffige Verhalten einer pädagogischen Fachkraft. Im Anschluss zeigt er auf, was in ein Schutzkonzept gehört, wie die Erarbeitung initiiert wird. Besonders wichtig ist, dass die Erarbeitung im Team stattfindet, damit Kinderschutz nicht nur auf dem Papier existiert.
Professioneller Umgang mit verletzendem Verhalten pädagogischer Fachkräfte
Regina Remsperger-Kehm definiert zunächst, was unter verletzendem Verhalten zu verstehen ist. Unter Bezugnahme einer Interviewstudie zu verletzendem Verhalten in Kindertageseinrichtungen erläutert sie des Weiteren wie sich dieses in der Kita zeigt, was verletzendes Verhalten auslöst und wie Kinder auf verletzendes Verhalten reagieren, weshalb bei verletzendem Verhalten nicht gehandelt wird und welche Emotionen bei den Beobachter*innen von verletzendem Verhalten eine Rolle spielen. Im Anschluss erklärt sie, wie pädagogische Fachkräfte mit verletzendem Verhalten professionell umgehen können. Neben der Stärkung feinfühligen Verhaltens im Alltag sowie einer bedürfnisorientierten Pädagogik braucht es auch die Etablierung einer Feedbackkultur sowie Unterstützung in der Einrichtung. Wie dies in der Praxis aussehen kann veranschaulicht sie an einem Praxisbeispiel.
Teil II Das schwierige Kind? Phänomene herausfordernden Verhaltens.
Das überdrehte Kind? Regulationsstrategien in den pädagogischen Alltag integrieren
Andrea Tures erklärt in diesem Artikel, wie das Nervensystem von Kindern und pädagogischen Fachkräften funktioniert. Anschaulich erläutert sie, was im Körper passiert, wenn das Nervensystem überlastet ist. Sind „Kinder überreizt oder unterregt, sprechen wir von Dysregulation“ (S. 86). Viele Sinneseindrücke, wie beispielsweise grelles Licht, hoher Lärmpegel, Ablenkung und unübersichtliche Abläufe, Übergänge zwischen Aktivitäten als auch Konfliktsituationen, können bei Kindern „zu einer Überreizung des Nervensystems führen“ (S. 87). Dysregulierte Kinder zeigen Verhaltensweisen, die pädagogische Fachkräfte oft als herausfordernd bezeichnen. Die Autorin hat verschiedene Verhaltensweisen als auch Erregungsniveaus in Tabellen zusammengeführt, die auf „dysregulierende Situationen und dysregulierte Kinder“ (S. 89) hinweisen. Reflexionsimpulse helfen pädagogischen Fachkräften den Alltag zu analysieren und damit Aktivitäten bzw. Zeiten zu identifizieren, die zu Überreizung bei Kindern führen als auch dysregulierte Kinder zu identifizieren. In diesem Kontext stellt die Autorin Regulationsstrategien für Kinder und Erwachsene vor. In diesem Zusammenhang gibt sie hilfreiche Hinweise zur Gestaltung des Alltags und Raumgestaltung, die einer Reizüberflutung entgegenwirken. Für Akutsituationen, in denen überreizte Kinder in einen „Gefühlssturm“ (S. 98) geraten, listet sie ein paar Notfallstrategien auf, die helfen Kinder gut durch diesen zu begleiten. Am Ende des Beitrags zeigt Andrea Tures anhand eines Praxisbeispiels auf, wie durch Beobachtung und verschiedene Regulationsimpulse sowie Veränderungen im Tagesablauf ein dysreguliertes Kind durch den Tagesablauf begleitet wird und wieder in einen regulierten Zustand findet.
Das unkooperative Kind? Ursachen erkennen und Konsequenzen kooperativ gestalten
Mit ihrem Beitrag erläutert die Martina Hehn-Oldiges die Entwicklung „der Kooperationsfähigkeit und des Regelverständnisses“ (S. 108). Sie verdeutlicht damit, dass Kinder, die pädagogische Fachkräfte als unkooperativ erleben und sich durch das Verhalten der Kinder herausgefordert fühlen, Kooperation und Regelverständnis erst entwickeln. Auch das Sprachverständnis entwickelt sich erst bei Kindern. Kinder können komplexe Sätze mit Wenn … dann – Konstruktionen oft noch nicht verstehen. Dies wiederum führt zu starken Emotionen seitens des Kindes als auch bei der pädagogischen Fachkraft und Situationen eskalieren. Martina Hehn-Oldiges geht auf diverse „Verhaltensfallen“ (S. 110) ein und wie diese gemeinsam mit dem Kind konstruktiv gelöst werden. Des Weiteren stehen im Fokus ihrer Ausführungen die problematische Anwendung von „Ermahnungs- oder Verstärkersystemen“ (S. 113). Im Praxisbeispiel zeigt sie auf, wie pädagogische Fachkräfte herausfordernde Situationen analysieren und konstruktive Lösungen entwickeln können.
Das beißende Kind? Mit Beißverhalten von Kleinkindern achtsam umgehen
Dorothee Gutknecht zeigt in ihrem Artikel, was pädagogische Fachkräfte tun können, wenn es zu Beißverhalten von Kindern in der Krippe kommt. Sie erläutert, welche Ursachen dieses haben kann, wie pädagogische Fachkräfte responsiv darauf reagieren können. In ihrem Artikel gibt sie viele praktische Impulse mit denen pädagogische Fachkräfte Interventionsstrategien entwickeln können. Im Praxisbeispiel vertieft sie ihre Ausführungen.
Das aggressive Kind? Konflikte unter Kindern professionell moderieren
„Aggressives Verhalten hat stets einen Grund“ (S. 138), den es zu verstehen gilt, so Christa Schäfer. Dahinter liegen unterschiedliche Gefühle sowie unerfüllte Bedürfnisse, die das Kind versucht sich zu erfüllen. Kinder brauchen Erwachsene die sie begleiten den Umgang mit ihren Gefühlen zu lernen. Dazu gehört auch Kinder in Konflikten zu begleiten (vgl. ebd.). Wie pädagogische Fachkräfte Konflikte zwischen Kindern professionell begleiten, damit diese lernen „mit Konflikten gut umzugehen“ (S. 144) führt die Autorin nachfolgend aus. Checklisten aus ihrer Mediationspraxis unterstützen ihre Ausführungen. In ihrem Praxisimpuls führt sie das Verfahren der Friedenstreppe als ein Verfahren der Konfliktlösung zwischen Kindern ein.
Das systemsprengende Kind? Mit traumapädagogischen Ansätzen Kinder unterstützen
Barbara Lehner macht zunächst darauf aufmerksam, dass Kinder, die als Systemsprenger*innen bezeichnet werden, „immer wieder mit Beziehungsabbrüchen konfrontiert werden“ (S. 154), die sie oft schon sehr früh erlebt haben und weiter erleben, wenn sie der „Institution verwiesen werden“ (ebd.). Bereits als Säuglinge machten die Kinder die Erfahrung mit ihren Bedürfnissen und Gefühlen allein gelassen zu werden. Da es seine Gefühle und ungestillten Bedürfnisse noch nicht einordnen kann, versucht es diese „überschwemmende[n] Irritationen körperlich abzureagieren, indem es strampelt oder schreit“ (S. 155). Erfahren die Kinder von ihren Bezugspersonen wenig Halt und Sicherheit sowie Unterstützung ihre Bedürfnisse und Gefühle einzuordnen, reagieren Kinder, „auch wenn sie älter sind […] [mit] schlagen und schreien“ (ebd.) oder Rückzug, wenn ihre Gefühle sie überschwemmen. Diese Beziehungsmuster, die sie erleben, übertragen sie unbewusst auf pädagogische Beziehungen. Erkennen Pädagog*innen diese „traumatisierenden Beziehungserfahrungen“ (S. 156) nicht, wiederholt sich „unbewusst die Zurückweisung des Kindes“ (ebd.). Barbara Lehner erläutert im Zusammenhang mit der Traumapädagogik die „Haltung des guten Grunds“ (S. 157) und erklärt, wie pädagogische Fachkräfte Kindern mit traumatisierenden Beziehungserfahrungen neue wertschätzende und Sicherheit gebende Beziehungserfahrungen ermöglichen. Mit der Analyse des Fallbeispiels erhalten pädagogische Fachkräfte wertvolle Impulse zur Begleitung eines Kindes mit traumatisierender Beziehungserfahrung.
Das theatralische Kind? Sensible Handlungskonzepte für gefühlsstarke Kinder etablieren
Zu Beginn ihres Fachbeitrags führt Nora Imlau in den von ihr kreierten Begriff der „gefühlsstarken Kinder“ (S. 171) ein sowie in die Bezeichnungen „regulationsstarke Kinder“ (ebd.) und „bindungsstarke Kinder“ (ebd.), die als beschreibende und wertschätzende Begriffe für Kinder zu verstehen sind. In einer Tabelle werden die verschiedenen Temperamente erläutert. Ziel ist es den Blick auf die Ressourcen und Stärken der Kinder zu lenken, die als „wilder und impulsiver, dickköpfiger und kompromissloser, […], verletzlicher und sensibler“ (S. 170) wahrgenommen werden. Die Autorin weist daraufhin, dass jeder Mensch mit einem anderen Temperament auf die Welt kommt. Sie erläutert wie „gefühlsstarke Kinder temperamentsgerecht begleitet werden“ (S. 176). Gefühlsstarke Kinder sind oft schneller gestresst als andere Kinder und brauchen pädagogische Fachkräfte, die sie durch Co-Regulation in ihrer Stressregulation unterstützen. Nora Imlau geht auf verschiedene Aspekte ein, die die Reizüberflutung gefühlsstarker Kinder im pädagogischen Alltag reduzieren können. Im Praxisbeispiel wird die Begleitung eines gefühlsstarken Kindes reflektiert.
Das wilde Kind? Lebhafte Kinder pädagogisch betrachten
Inka Hummel beleuchtet in ihrem Fachbeitrag die „laut[en], energiegeladen[en], oft impulsiv[en] und stürmisch[en]“ (S. 188) Kinder, deren Verhaltensweisen pädagogische Fachkräfte „als aggressiv und respektlos“ (ebd.) empfinden. Sie betont, dass es in diesem Artikel um die angeborene Wildheit geht. Um wilde Kinder professionell zu begleiten, müssen pädagogische Fachkräfte die guten Gründe für die Verhaltensweisen der Kinder herausfinden. Dazu gehört der systemische Blick auf das Kind. Inke Hummel führt mit Reflexionsfragen in die professionelle Begleitung von Kindern ein und erläutert, was lebhafte Kinder brauchen. Im Praxisbeispiel zeigt sie die unterschiedlichen Perspektiven der pädagogischen Fachkräfte auf die lebhaften Verhaltensweisen des Kindes und die für das Kind entwickelten Handlungsstrategien auf.
Das heikle Kind? Essenssituationen achtsam begleiten
In ihrem Artikel nimmt Kariane Höhn das „wählerische Essverhalten“ (S. 201) von Kindern in den Blick. Es ist Aufgabe pädagogischer Fachkräfte Mahlzeiten in der Kita pädagogisch zu begleiten. Sie gibt zu bedenken, dass die Gestaltung von Mahlzeiten von vielen Einflussfaktoren abhängt. Bei der Gestaltung von Mahlzeiten weist die Autorin auch auf die besondere Rolle der pädagogischen Fachkräfte hin. Pädagogische Fachkräfte haben insbesondere hier die Aufgabe sich mit ihrer eigenen Essbiografie auseinanderzusetzen und eine professionelle Haltung zu entwickeln (vgl. S. 206). Besonders da es gerade bei den Mahlzeiten zu grenzüberschreitenden Handlungen kommt und Erfahrungen die Kinder bei der Gestaltung von Mahlzeiten und mit Essen machen lebenslang wirken. Nachfolgend stellt Kariane Höhn „sieben Handlungsoptionen [im] Umgang mit dem Phänomen ‚heikel Essen‘“ (S. 208) vor. Mit dem Praxisimpuls nimmt sie verschiedene Aspekte der Einflussfaktoren und Handlungsoptionen auf, die sie zur Analyse und Entwicklung einer unterstützenden Begleitung eines Kindes mit heiklen Essverhalten nutzt. Abschließend plädiert sie für ein Verpflegungskonzept, welches die Gestaltung von Mahlzeiten beinhaltet.
Das unsympathische Kind? Antipathien professionell begegnen
Für Antipathien gegenüber einem Kind oder/und seiner Familie gibt es unterschiedliche Ursachen, wie beispielsweise Neid, das Verhalten des Kindes oder seiner Eltern, die Projektion eigener abgelehnter Eigenschaften oder Verhaltensweisen und Vorurteile (vgl. S. 222). Štĕpánka Busuleanu gibt pädagogischen Fachkräften einige Methoden und Impulse an die Hand, sich mit der eigenen Antipathie gegenüber Kindern und/oder Familien auseinanderzusetzen, ihre Perspektive zu wechseln und die eigene Haltung zu verändern. Im Praxisbeispiel setzt sie diese Impulse und Methoden praktisch um.
Das sprachlose Kind? Auf Kinder mit anderen Familiensprachen pädagogisch eingehen
Im letzten Fachbeitrag des zweiten Teils erläutert Andrea Tures, welche Herausforderungen Kinder zu bewältigen haben, „die mit fehlenden Kenntnissen der Umgebungssprache Deutsch“ (S. 236) in die Kita kommen und was pädagogische Fachkräfte tun können, um Kinder dabei zu begleiten die neue Sprache zu erwerben und sich in der Kita wohlzufühlen. Im Praxisbeispiel zeigt sie auf, wie ein Kind auf diese herausfordernde Situation mit herausfordernden Verhalten reagiert und wie das Kind systematisch sprachfördernd begleitet und in die Gemeinschaft integriert wird.
Teil III Weiterführende Perspektiven im Umgang mit herausforderndem Verhalten
Schwierige Eltern? Zusammenarbeit mit Familien im Kontext herausfordernden Verhaltens
Andrea Tures und Lea Barnikol räumen in ihrem Artikel zunächst mit einigen Vorurteilen auf, indem sie erklären, dass zum einem die Zusammenarbeit mit pädagogischen Fachkräften für Eltern, mit Ausnahmen, „freiwillig und nicht verpflichtend“ (S. 256) ist. Und zum anderen Eltern Expert*innen für ihre Kinder sind, wenn es um „relevante Informationen über die Bedürfnisse, Vorlieben und Verhaltensweisen des Kindes“ (S. 257) geht. Nichtsdestotrotz ist die Zusammenarbeit mit den Eltern eine wichtige Aufgabe. Sie ist „einer der zentralsten Bausteine für die Förderung der kindlichen Entwicklung“ (ebd.). Kind, Eltern und pädagogische Fachkraft befinden sich in einem Beziehungsdreieck. Die Beziehung zwischen pädagogischer Fachkraft und Eltern und hat zwangsläufig Auswirkungen auf die Beziehung zwischen Kind und pädagogischer Fachkraft. Anhand eines Reflexionsbeispiels zeigen die Autorinnen, dass es verschiedene Gründe für Eltern geben kann, ihrem Kind einen Donut in die Brotdose zu legen. Die Autorinnen betonen, dass es zunächst herauszufinden gilt, was der gute Grund für die „herausfordernden Verhaltensweisen von Eltern“ (S. 260) ist. Beispielsweise, wenn Eltern ihrem Kind raten „andere Kinder zu schubsen“ (ebd). Es geht zunächst darum, „die Ursachen zu verstehen“ (ebd.), damit pädagogische Fachkräfte in der Zusammenarbeit mit den Eltern passend reagieren können (vgl. S. 260). Nachfolgend geben Andrea Tures und Lea Barnikol Impulse für die professionelle Gestaltung von Elterngesprächen, die sie im Praxisbeispiel exemplarisch vorstellen.
Therapie nötig? Eine psychotherapeutische Perspektive auf herausforderndes Verhalten
Hilal Virit stellt im letzten Beitrag fest, dass der Begriff „herausforderndes Verhalten“ (S. 270) inzwischen „inflationär verwendet [wird], um ein Spektrum an Verhaltensweisen zu beschreiben“. Zunächst definiert die Autorin den Unterschied zwischen Verhaltens- und Entwicklungsstörung und erläutert dann, was unter ADHS zu verstehen ist. Sie betont, dass nicht jedes „ungewöhnliche Verhalten als pathologisch oder störungsbedingt zu bewerten ist“ (S. 272). Sie weist explizit daraufhin, dass die vorangegangenen beschriebenen herausfordernden Verhaltensweisen bei Kindern durch pädagogische Interventionen verbessert oder aufgelöst werden (vgl. ebd.). Pädagogische Fachkräfte haben eine „Schlüsselrolle“ (S. 273) da sie „oft die ersten Anzeichen ‚auffälligen Verhaltens‘ bemerken […] und bei Bedarf zeitnah psychotherapeutische Expertise hinzuziehen können“ (ebd.). Dies setzt voraus, dass pädagogische Fachkräfte die Hintergründe herausfordernder Verhaltensweisen verstehen und ihre Beobachtungen dokumentieren. Zeigen die pädagogischen Interventionen keine Veränderungen ist es sinnvoll weitere Maßnahmen zu ergreifen. Im anschließenden Praxisbeispiel stellt Hilal Virit exemplarisch die Vorgehensweise nach der vorgestellten Checkliste vor.
Diskussion
Die Autor*innen haben sich mit ihren Beiträgen Kindern gewidmet, deren Verhaltensweisen von pädagogischen Fachkräften als herausfordernd erlebt wird. Ein Ziel der Autor*innen ist es, Kindern, die tagtäglich in Not geraten und diese Not durch Verhaltensweisen zeigen, die als ‚auffällig‘ oder ‚schwierig‘ bezeichnet werden eine Stimme zu geben. Denn diese Kinder in Not brauchen Erwachsene, die ihre Bedürfnisse sehen, ihre Gefühle in Worte fassen, die ihnen helfen sich zu regulieren, die sie annehmen wie sie sind. Ein weiteres Ziel ist es pädagogischen Fachkräfte Hintergrundwissen und Handwerkszeug an die Hand zu geben, wie sie Kinder, deren Verhalten sie als herausfordernd wahrnehmen professionell und bedürfnisorientiert begleiten können.
Der zweite Teil des Buchs, indem die einzelnen Verhaltensweisen beschrieben werden kann, wie eine Art „Medizinschrank“ (S. 11) oder Werkzeugkoffer verwendet werden. Es ist ein Handbuch, welches Antworten auf die Frage gibt, was tue ich, wenn ein Kind beißt, wild ist, Essen verweigert, sich anderen gegenüber aggressiv verhält oder sprachlos ist. Was das Buch nicht ist, ein Rezeptbuch. Es gibt keine Antworten indem Sinn, wenn ein Kind beißt, machen Sie dies oder das.
Die Autor*innen gehen einen anderen Weg, sie nehmen sämtliche Akteuer*innen in den Blick. Die pädagogischen Fachkräfte, die Kinder, die Eltern, die Kolleg*innen mit all ihren Bedürfnissen und Gefühlen. Die Perspektive wird auf das gesamte System gelegt. Daraus ergibt sich die Mitverantwortung die Leitung und Träger tragen und die sie dazu aufruft, handelnd tätig zu werden, indem sie das Team, die pädagogischen Fachkräfte und Eltern unterstützen.
Die verschiedenen Expert*innen vermitteln neben Hintergrundwissen zu den unterschiedlichen Verhaltensweisen, die Kinder zeigen, Handlungsoptionen. Mit den Praxisbeispielen zeigen die Expert*innen, wie die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten individuell auf das einzelne Kind abgestimmt werden. Gleichzeitig vermitteln die Autor*innen pädagogischen Fachkräften in der Begleitung von herausgeforderten Kindern gut für sich selbst zu sorgen, sich zu reflektieren und sich Unterstützung bei den Kolleg*innen sowie Leitung und Träger zu holen. Damit sie herausgeforderten Kindern auf Augenhöhe begegnen und sie professionell begleiten können.
Das Buch verhilft pädagogischen Fachkräften Verständnis für herausgeforderte Kinder zu entwickeln und für jedes Kind individuelle Lösungen zu finden. Die Expert*innen fordern dazu auf die Perspektive zu wechseln. Das Kind nicht mehr mit defizitorientiertem Blick zu betrachten, sondern sich den eigenem herausgefordert sein zu stellen, den eigenen starken Gefühlen, die damit einhergehen, diese zu reflektieren und dadurch die eigene Wahrnehmung zu verändern und neue Handlungsmöglichkeiten zu entdecken.
Mit dem Buch wird Kinderschutz lebendig. Aufgrund der vielen Praxis-, Reflexions- und Handlungsimpulse, die es pädagogischen Fachkräften ermöglichen ihre eignen Bedürfnisse und Gefühle wahrzunehmen, dem guten Grund des Kindes nachzugehen und herausfordernde Situationen zu analysieren, trägt es dazu bei grenzverletzendes Verhalten zu reduzieren und eine Feedbackkultur in der Kita zu etablieren.
Fazit
Dieses Handbuch sollte in keiner Einrichtung fehlen und als Pflichtlektüre in Aus-, Fort- und Weiterbildungen eingeführt werden.
Rezension von
Alexandra Großer
Fortbildnerin, päd. Prozessbegleiterin, systemische Beraterin
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