Matthias Kreienbrink: Scham
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 07.04.2025

Matthias Kreienbrink: Scham. Wie ein machtvolles Gefühl unser Leben neu prägt. Kösel-Verlag (München) 2025. 224 Seiten. ISBN 978-3-466-34837-4. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 29,73 sFr.
Scham und Peinlichkeit
„Scham hat viele Gesichter“. Es kommt darauf an, unter welchen Fragestellungen und Grundannahmen man sich mit dem Phänomen auseinandersetzt: psychologisch, medizinisch, anthropologisch, philosophisch, soziologisch – individuell und kollektiv. Weil Scham und Beschämung immer mit Stress und physiologischen Herausforderungen verbunden ist, kommt es darauf an, den leiblichen und seelischen, neuronalen Prozess zu verstehen, der Scham bewirkt. Es sind die Spiegelneuronen, die unsere Einstellungen und Haltungen steuern: „Die Scham kann sich in unser Gehirn fressen“ (David Eagleman, Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/​13120.php). Die dabei entstehenden posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) führen zu Verunsicherungen und nur schwer veränderbaren körperlichen und seelischen Problemen.
Entstehungshintergrund und Autor
Über Scham wird nicht objektiv gesprochen. Scham ist Stille, oder wenn sie zum Ausdruck kommt, Beschämung. Als „soziale Emotion“ übt sie Kritik und Macht aus. Sie verletzt, degradiert und schafft Vorurteile. Es sind die Verschämtheiten und Unverschämtheiten, die im gesellschaftlichen Kollektiv auffallen. Der Berliner Gesellschafts- und Digitaljournalist Matthias Kreienbrink setzt sich mit dem Schamgefühl auseinander, indem er zum einen eigene biografische Erfahrungen und Nöte thematisiert, zum anderen den wissenschaftlichen, individuellen und gesellschaftspolitischen Ursachen auf die Spur kommt.
Aufbau und Inhalt
Mit der Aussage – „Wir alle haben eine Schambiografie“ – führt er in die Thematik ein und begründet, warum er sein Buch als allgemeine Herausforderung betrachtet. Er gliedert seine Studie in acht Kapitel. Im Ersten geht es um die Frage: „Was ist Scham?“. Er unterscheidet zwischen produktiver und destruktiver Scham und zeigt auf, wie Perspektivenwechsel möglich werden können. Im zweiten Kapitel – „Kinderstube“ verweist er auf die Bildungs- und Erziehungsprozesse und diskutiert mit verschiedenen Fallbeispielen positive und negative Entwicklungen. Mit dem dritten Kapitel – „Die Schule der Scham“ – verdeutlicht er, wie in der institutionellen Bildung und Erziehung die Grundbedürfnisse des Erwachsenwerdens erfüllt oder verhindert werden: Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit, Integrität. Mit dem Thema „Peinliche Körper“ fragt er nach den Zusammenhängen von Scham und Ekel, Traditionalismen, Ängsten und Identitäten. Mit „Beschämtes Arbeiten“ greift er in die Wirklichkeiten der modernen Arbeitswelt ein. Es sind die beruflichen Ein- und Ausschlüsse, die individuelle und gesellschaftsrelevante Tätigkeiten symbolisieren. Das sechste Kapitel befasst sich mit Lebenserfahrungen: „In der Krise und am Lebensende verstecken wir uns“. Die Gewissheit des Todes wird verdrängt. Die traditionellen, alltäglichen Schamempfindungen und –auseinandersetzungen erfahren mit den Neuen Medien eine „neue Macht der Scham“. Mit dem „ABC der Beschämung“ – von Aktivist*in, Boomer, Shitstorm bis Woke – benennt er die Aktivitäten und Einflüsse und fordert auf: Die Schamlosen dürfen nicht gewinnen“. Im achten, letzten Kapitel nennt er „Wege aus der Scham“. Es sind keine Rezepte, sondern Anregungen; etwa „die Psyche entlasten“, sich mit der eigenen Existenz und Geschichte neu auseinandersetzen, Widersprüche aushalten, Zweifeln lernen, kritikfähig sein, Nachsicht üben. Es ist nicht mehr und nicht weniger als das Bemühen, resilient zu sein.
Diskussion
Es sind die Erfahrungen, die uns zu dem machen, wer und was wir sind (Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022, www.socialnet.de/29229.php). Es sind Ratgeber und Studien, die anregen, „sich selbstbewusst zu schämen“ und den Tendenzen, dass bei individuellen und kollektiven, lokalen und globalen Entwicklungen Scham auch zur Waffe werden kann, zu widersetzen. Ein Zauberwort kann dabei „Nachsicht“ sein („Wer beschämt und hasst, verliert die eigene Orientierung, https://www.sozial.de/wer…htm). Scham ist Mittel und Zweck. „Ohne sie kann Gesellschaft nicht funktionieren“. Aber sie muss immer auch überwunden werden. Scham ist ein unangenehmes, kaum zu vermeidendes Gefühl, das zu Verunsicherung im alltäglichen wie im gesellschaftlichen Leben führt. Sie zeigt uns die Verletzlichkeit des Daseins und die Grenzen auf. Schamhaftes Verhalten ist Ausdruck von Ohnmacht und Beschämung, bedingt Anpassung und Widerstand.
Fazit
„Durch Beschämung werden keine Probleme gelöst“. Weil Scham kaum zur Einsicht führt, vielmehr zum Trotz, zur Stagnation und zum individuellen
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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