Dagmar Lehmhaus, Bertke Reiffen-Züger (Hrsg.): Spiel und Spielen
Rezensiert von Sebastian Kron, 06.05.2025

Dagmar Lehmhaus, Bertke Reiffen-Züger (Hrsg.): Spiel und Spielen in der psychodynamischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2025.
2., aktualisierte Auflage.
227 Seiten.
ISBN 978-3-17-045417-0.
38,00 EUR.
Reihe: Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Perspektiven für Theorie, Praxis und Anwendungen im 21. Jahrhundert.
Thema
Das Spiel ist bereits seit vielen Jahren in der Kinder- und Jugendlichentherapie und der Sozialen Arbeit gleichermaßen vertreten. Insbesondere die psychotherapeutischen Richtungen der Tiefenpsychologie profitieren von spielerischen Betätigungen und spieltherapeutischen Angeboten. Diese setzen in der Diagnostik im Rahmen projektiver Verfahren an und finden in der Therapie an sich ihren Fortlauf. Das vorliegende Buch bezieht sich auf die psychodynamische Therapie, damit ist nicht auszuschließen, dass die Verhaltenstherapie derweil auch mit derartigen Möglichkeiten agiert.
Autor:in oder Herausgeber:in
Frau Dipl.-Soz. Dagmar Lehmhaus (KJP): ist Dozentin und Supervisorin am Institut für Psychoanalyse in Düsseldorf, der Ärztlichen Akademie e.V. München und weiteren anerkannten Ausbildungsinstituten.
Frau Dipl. Päd. Bertke Reiffen-Züger (KJP) ist Dozentin und Supervisorin für die Fortbildung in tiefenpsychologischer Psychotherapie für Kinderärzte und Kinder- und Jugendpsychiater:innen an der Ärztlichen Akademie e.V. München und weiteren Ausbildungsinstitutionen.
Entstehungshintergrund
Spielen und Spieltherapien haben Einfluss auf das psychosoziale Wohlbefinden. Kinder durchlaufen im Rahmen ihrer Sozialisation verschiedene Phasen, in denen sie stetig in einer spielerischen Auseinandersetzung mit ihren Konflikten, ihrem Erleben und ihrem dynamischen Umgang mit Beziehung und Beziehungsgestaltung agieren. Auch das Märchen zeigt ein Fundament, welches in tiefenpsychologischen Überlegungen eine besondere Bewandtnis hat. Charakter(-starke) und auch (-schwache) Gestalten zeigen auf spielerischer, phantasiebehafteter und schillernder Ebene eine Welt, die einfach zu sein scheint, die aber das junge Wesen nachhaltig prägt.
Aufbau
Das Werk lässt sich in drei Kernbereiche untergliedern:
- a.) Tiefen- und entwicklungspsychologische Grundlagen von Spiel und spielerischer Auseinandersetzung,
- b.) Spielen im psychotherapeutischen Rahmen und
- c.) das Spiel der Aktualität.
Gelegentlich gehen Kapitel ineinander über und funktionieren auf einer Ebene, die das Buch mit einer Vielzahl von Informationen bestückt.
Inhalt
Das Buch beflügelt eine psychodynamische Betrachtungsweise einer spielerischen Auseinandersetzung in der Therapie und in therapienahen Angeboten. Es offenbart damit eine Definition spielerischer Betätigung, die im Kontext einer reellen Bewältigungsstrategie innerpsychischer Konflikte und konflikthafter, erlebensbasierter Gefühlslagen sowie phantasiebehafteter, belebender Symboliken eines dynamischen, (vielleicht auch archetypen, mystischen) Anderen agiert. Das Spiel wird damit nicht nur als ein freudeverheißener, lustbetonter Zustand eines Kindes gesehen, sondern auch als ein wesentliches Element therapeutischer Arbeit.
Der erste Teil des Buches zeigt tatsächlich die Intention des Werkes insbesondere vor dem Hintergrund des bereits beschriebenen auf. Er sieht spielerische Betätigungen als eine Kommunikationsstrategie, die eine dynamische Kommunikation zwischen dem:der Therapeut:in und dem:der Patient:in herstellt.
Im zweiten Teil wird das Spiel und die spielerische Auseinandersetzung aus psychologischer Sicht betrachtet. Es kombiniert nach Aussage des Buches eine projektive Auseinandersetzung mit innerpsychischen Erfahrungen und kindlichen Formen wie Neugier, Kreativität, Phantasie, traumnaher, unbewusster, zum Teil auch infantiler Triebregungen. Dabei kann das Spiel bei Kindern und jungen Menschen eine emotionale Annäherung an den Alltag der Erwachsenen bedeuten. Im Rahmen spielerischer Betätigungen nehmen junge Menschen Kontakt zu anderen auf, erleben alltägliche Hürden erstmalig auf spielerischer Ebene. Damit projizieren heranwachsende Menschen die kognitiven, geistigen und seelischen Herausforderungen im Rahmen ihrer körperlichen Entwicklung unter Berücksichtigung einer adäquaten Alltagsbewältigung auf einen spielerischen Prozess. Resultierend ist der spielerische Austausch nicht nur eine Möglichkeit kommunikativ aktiv zu sein, sondern vermittelt auch alltägliches Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Unbewusste, entwicklungsspezifische Herausforderungen zeigen sich in einem spielerischen Rahmen authentisch und ebnen hier einen Weg für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Damit zeigt das Kapitel den Zusammenhang zwischen einen alltagsnahen, reflexiven Rahmen der Entwicklung und der Umsetzung von Spiel und spielerischer Betätigung. Es verweist ebenso auf die psychotherapeutische Praxis in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.
Ein weiterer Teil geht auf die Gestaltung räumlicher und umgebungsbasierter Parameter ein. Er beschreibt die Bedeutung der „richtigen“ Spielauswahl und der adäquaten Gestaltung des Therapieraums, in dem spielnahe Aktivitäten vorgesehen sind. Das Kapitel zeigt das Spiel als einen hochkomplexen Prozess, der eng an das Spielzeug, den Spielraum und die therapeutische Fachkraft gebunden ist. Spielen ist daher kein einfaches Instrument, um Kommunikation zu gewährleisten, sondern verbindet in der Psychotherapie verschiedene Parameter einer gelungenen, vertrauensvollen Auseinandersetzung mit Emotionen, Affekten und einem sensiblen Umgang mit einem „jungen Wesen“ in einer Phase des Reifens, der Sinnfindung und der Auseinandersetzung mit individuellen Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart.
Ein weiteres Kapitel bespricht spielerische Auseinandersetzungen mit Blick auf die kindliche Entwicklungspsychologie und thematisiert das Spiel als ein wesentliches Element motivational, emotional und kognitiv Bearbeitungsprozesse zu aktivieren, die darauf ausgerichtet sind, das kindliche Wesen in seiner Vielschichtigkeit sinnhaft zu beobachten. Jean Piaget sah im Spiel und der spielerischen Befähigung eine symbolhafte Entwicklung des individuellen Selbst. Dabei unterschied er unterschiedliche Phasen der Spielbefähigung, zum einen die sensomotorische Phase (bis 2 Jahre), in der das Kind lernt, zu tasten, zu greifen, Spielgegenstände zu erobern, die Phase des repräsentativen und anschaulichen Denkens (2 – 6 Jahre), in der das junge Wesen einen symbolhaften Kontakt zu mythennahen Figuren aufbaut („Märchenalter“) und die Phase des begrifflichen oder operationalen Denkens (11 – 16 Jahre), in der das junge Wesen lernt, mystische, fantasienahe Gestalten bewusst-reflexiv zu hinterfragen. Er betonte den besonderen Umgang mit Beziehung und Beziehungsgestaltung, um bei dem Kind eine Verarbeitung innerer Unsicherheiten während des Spielprozesses aufzubauen. Thematisch steht bei Piaget die kognitive Dimension des Spielens im Vordergrund. Anna Freud entwickelte in Anlehnung an Sigmund Freud (Phasen der psychosexuellen Entwicklung) und Piaget (Phasen der kognitiv-spielerischen Betätigung) ein Konzept, welches innerpsychische Konflikte mit der spielerischen Auseinandersetzung in Beziehung bringt. So sah sie Komponenten im Umgang mit Bindung und Autonomie, Identität und Gruppenzugehörigkeit sowie Adoleszenz und Kindsein. Spielen bildet also ein hochkomplexes Gebilde aus entwicklungsspezifischen Parametern, dem Bezug zum Selbst mit der Auseinandersetzung der konfliktbehafteten Phasen der Sozialisation, dem Mut Fantasie und Emotionen, wie Wut und Scham zu vereinen, und sich auf eine individuelle Spielatmosphäre einzulassen. Sie beschrieb damit das Spiel als ein Ersatzinstrument der freien Assoziation, legte hohen Wert auf eine Auseinandersetzung mit den Ich-Strukturen des Kindes und einem widerständischen Umgang auf spielerischer Ebene unter Berücksichtigung der Triebtheorie. Melanie Klein war Wegbegleiterin Anna Freuds. Sie sah im Spiel eine dynamische Auseinandersetzung mit unbewussten Ängsten, Wünschen und Konflikten, die im Rahmen des Spielprozesses gedeutet werden. Während der Jahre des zweiten Weltkrieges kam die Entwicklung der Spieltherapie zum Erliegen. Erst Winnicott nahm sich wieder dem Spiel an und sah es unter den Gesichtspunkten der Objektbeziehungstheorie. Für ihn war das Spiel an einem Umgang des Kindes mit dem eigenen Selbst gebunden, reflexiv das eigene Erleben zu beobachten, um eine passable Beziehungsgestaltung zu einem dynamischen Anderen aufbauen zu können. Nach Zullinger sei das Spiel nicht an deutungsspezifische Muster gebunden, sondern verkörpere idealtypischer Weise eine Wechselwirkung zwischen dem:der Therapeut:in und dem:der Patient:in „auf einer Wellenlänge“. Axline betonte den unvoreingenommenen Umgang mit dem Kind, um auf spielerischer Ebene Selbstkräfte aufzubauen, die dazu dienen, die reflexive Auseinandersetzung mit sich selbst zu schulen. Einen strukturbezogenen Blick auf das innerpsychische Erleben im Kontext Spiel entwickelten Kernberg, Steeck-Fischer, Diepold und Herzog.
Das darauffolgende Kapitel verbindet theoretische Auffassungen zum Thema Spiel mit der räumlichen Ausgestaltung. Unterschiedlich diskutiert werden die Spielumgebung, zeitgleich auch Zieldimensionen des Spiels. Der adäquate Umgang mit spielenden Kindern wird thematisiert und in einem theoretisch-bedeutsamen Rahmen gebracht. Das Spiel verbindet hier künstlerisch wertvolle mit sinnig psychologischen, psychosozialen und entwicklungspsychologischen Parametern. Diskutiert in diesem Teil wird die Gestaltung eines Spielnarrativs, welches auf verschiedene Fähigkeiten beruht, sich auf eine spielerische Auseinandersetzung einzulassen (zum Beispiel Symbolisierungsfähigkeiten, ichstrukturelle Fähigkeiten, Fantasieerleben zum Ausdruck zu bringen). Weiterhin spielen Faktoren der Genese, der Entwicklung und der Psychodynamik eine entscheidende Rolle. Im Rahmen der Psychodynamik ist die projektive Identifizierung bedeutsam, in der junge Menschen lernen, innere, dynamische Anteile in den spielerischen Prozess zu verlagern.
In einem weiteren Part werden beispielhaft Spiele genannt, die insbesondere einen entwicklungspsychologischen Mehrwert mit sich führen (zum Beispiel: Versteckspiele, Doktorspiele, Lehrer-/Schulspiele). Jene Spiele haben einen erheblichen Mehrwert für die dynamische Beziehungsgestaltung, zeitgleich aber auch für die individuelle Entwicklung des Selbst. Sie animieren an die Fantasie- und Spielfähigkeit der jungen Menschen und lassen sich als entwicklungsfördernd für die Beziehungsgestaltung zu einem dynamischen Anderen beschreiben. Als Beispiel für therapeutische Spielformen wird explizit der Sceno diskutiert, der zum einen diagnostisches Instrument, zum anderen therapeutischen Mehrwert kompensiert. Sceno ist ein Spielverfahren, bei dem Spielfiguren eine Plattform bieten, um Familiendynamiken und gruppendynamische Systeme nachzustellen und anhand dieser Zusammenstellung, Gemeinschaft und das Selbst als funktionierendes Glied der Geselligkeit nachzustellen.
Vor dem Hintergrund der Digitalisierung stellt das real-praktische Spiel eine wesentliche Schlüsselkompetenz dar, um kommunikative, interaktive, geistige, kognitive, sprachliche und zwischenmenschliche Fähigkeiten zu schulen. Darüber hinaus diskutiert das Buch Spielfähigkeiten und -fertigkeiten im medialen Raum und geht damit im Zuge des medialen Zeitalters auf Schlüsselkompetenzen ein, die über das praktische, „reale“ Spiel hinausgehen.
Diskussion
In einem digitalen Zeitalter scheinen zwischenmenschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten zunehmenden Einflüssen untersetzt zu sein. Der Austausch, der direkte Kontakt und die Auseinandersetzung mit den eigenen sprachlichen und zwischenmenschlichen Kompetenzen sind rar geworden. Dies wurde insbesondere in der pandemischen Situation deutlich. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass das subjektive Empfinden im Rahmen einer Einsamkeitsproblematik um Anstieg begriffen ist. Insbesondere im Osten Deutschlands ist eine zahlenmäßige Zunahme einsamer Menschen zu verzeichnen. Sicher sind hier strukturell bedingte Einflüsse ein wesentliches Element von Einsamkeit, dennoch „verkümmern“ auch mehr und mehr interaktive Kompetenzen in der Gruppendynamik und es sind derweil besondere Herausforderungen in der Diskursfähigkeit der Menschen zu verzeichnen (vgl. Kron 2025, S. 78–90).
Spiel und spielerische Betätigungen sind hierbei von besonderer Bedeutung, um Kinder zusammenzubringen und zwischenmenschliche Kompetenzen zu schulen. Es verzeichnet einen wesentlichen Mehrwert und ist vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung ein wesentlicher Faktor von Gemeinschaft und Gruppendynamik. Daher ist das Spiel nicht nur in der alltäglichen Auseinandersetzung kaum wegzudenken, sondern wesentliches Element der Psychotherapie und der Sozialen Arbeit mit Kindern geworden. Neben den diagnostischen Vorteilen, die das Spiel mit sich bringt, ist es für die Kontaktaufnahme und Beziehungsgestaltung in einem helfenden Rahmen kaum wegzudenken.
Fazit
Das vorliegende Werk widmet sich einer wesentlichen Kernkompetenz kindlicher Interaktion. Es vereint wesentliche Parameter einer salutogenetischen Auseinandersetzung mit innerpsychischen, konflikthaften Herausforderungen und deren Wirkung auf die zwischenmenschlichen, interaktiven Kompetenzen der Kinder. Damit ist es in der Kinder- und Jugendpsychotherapie, Sozialen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und anderen helfenden Berufsgruppen, die sich mit Spiel und spielerischer Betätigung beschäftigen, kaum wegzudenken.
Weiterführende Quelle
Kron, Sebastian (2025): Mehrgenerationalität in Gebieten struktureller Besonderheiten. Die Stadt Spremberg/Grodk als Paradebeispiel demografischen Wandels. In: Nakao, Christiane/Preissing, Sonja/ Sen, Katrin (Hrsg.): Generationenübergreifende Ansätze in der Sozialen Arbeit. Perspektiven für digitale und soziale Teilhabe. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 78 - 90
Rezension von
Sebastian Kron
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