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Sebastian Ixmeier, Pia Buck et al. (Hrsg.): Chancen für Alle durch (berufliche) Bildung

Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 01.04.2025

Cover Sebastian Ixmeier, Pia Buck et al. (Hrsg.): Chancen für Alle durch (berufliche) Bildung ISBN 978-3-7639-7637-9

Sebastian Ixmeier, Pia Buck, Dieter Münk (Hrsg.): Chancen für Alle durch (berufliche) Bildung. Inklusion und Teilhabe für Menschen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung. wbv (Bielefeld) 2024. 292 Seiten. ISBN 978-3-7639-7637-9. 49,90 EUR.
Reihe: Berufsbildung, Arbeit und Innovation.

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Entstehungshintergrund und Thema

Der Sammelband erscheint als Band 81 der Hauptreihe Berufsbildung, Arbeit und Innovation, die sich der Publikation von Forschungsergebnissen beruflicher Bildungspraxis und der Anregung eines bildungspolitischen Diskurses widmet. Die Einzelbeiträge speisen sich aus dem von den Herausgebenden 2023 durchgeführten Workshop „Berufliche Bildungsperspektiven für Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen“ in Bamberg und wurden um einschlägige Forschungsbefunde ergänzt. Der Band setzt sich zum Ziel, „Entwicklungsoptionen des Berufsbildungssystems [aufzuzeigen, Anm. Verf.], um Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen mehr Teilhabe zu ermöglichen“ (S. 21) und dem Fachkräftebedarf zu begegnen. Insbesondere wendet er sich an Entscheidungsträger:innen, Praktiker:innen, die Fachöffentlichkeit und den mit beruflicher Aus(bildung) befassten Personenkreis.

Herausgeber:innen

Die Herausgebenden rekrutieren sich aus dem Fachgebiet für Berufspädagogik und Berufsbildungsforschung der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Prof. Dr. Dieter Münk ist Lehrstuhlinhaber, Dr. Pia Buck und Sebastian Ixmeier, M.A. sind Mitarbeitende.

Aufbau und Inhalt

Der Sammelband enthält 15 Aufsätze, denen ein Abkürzungsverzeichnis (S. 9–13) vorausgeht. Am Ende des jeweiligen Beitrags finden sich Angaben zu den Autor:innen. Gegliedert ist das Buch in eine Einführung und vier Fokusebenen.

Die Einführung besteht aus dem Beitrag der Herausgebenden: Fachkräftesicherung durch Inklusion als Auftrag der beruflichen Bildung in Deutschland (S. 17–29). Sie skizzieren Meilensteine auf dem Weg zur Teilhabeförderung von Menschen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung (MmgB) und verweisen auf die eingelösten Ansprüche, die sich in gesellschafts- und bildungspolitischen Dokumenten manifestieren und die uneingelösten Ansprüche, die zwar legitimiert sind, ordnungspolitisch aber (noch) nicht durch- und umgesetzt werden. Weil in der beruflichen Bildung der MmgB Inklusion mit den vorhandenen komplexen und kontemporären Förderstrukturen noch nicht erreicht wurde, verfolgt der Band das Ziel, Positionen, Erfahrungen und Forschungsergebnisse von Vertreter:innen aus Politik, Interessensverbänden, Leistungsträgern, Bildungsinstitutionen und der Wissenschaft darzustellen. Im Weiteren legitimieren die Herausgebenden die Unterteilung in die Fokusebenen und danken den Mitwirkenden.

Fokusebene 1: Institutionelle Strukturen & Curriculare Gestaltung (S. 31–101) umfasst die folgenden vier Aufsätze.

Der von den Mitarbeiter:innen der Universität Hildesheim Katharina Metzner, Stephan Ullrich & Tina Wiesner verfasste Aufsatz Inclusiveness [kursiv im Orignial] am Übergang Schule – Beruf. Erste Befunde aus dem Forschungsprojekt inBiT – Inklusion in der beruflichen Bildung stellt die Zielsetzung des Projekts inBiT vor, das mit dem Konzept Inclusiveness die gleichberechtigte Teilhabe, den Verzicht auf stigmatisierende Kategorisierung und die Beteiligung an Gestaltungsprozessen adressiert und empirisch untersucht. Sehr deutlich zum Vorschein kam, dass die Zielgruppe der MmgB sehr heterogen ist, die Individuen in ihren spezifischen Bedarfen und Bedürfnissen beim Übergang zu wenig beachtet werden und die vorhandenen – bisweilen qualitativ hervorragenden – Angebote wiederum Zugangsbarrieren aufweisen. Die Kategorisierung ist den Ergebnissen zufolge tief in Organisationen verankert und bedürfte fundamentaler Redefinitionen von Inklusion und folgender Umstrukturierungen. Zudem sehen sich die Betroffenen viel zu wenig in Entscheidungen involviert und ihrer Partizipationsrechte teilweise beraubt. Eine zentrale Erkenntnis von inBiT liegt darin, das Übergangsmanagement überinstitutionell zu denken.

Philipp Reimann, wissenschaftlicher Referent am Deutschen Jugendinstitut und Vera Lemke, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Stiftung Universität Hildesheim, geben mit ihrem auf Leitfadeninterviews basierenden Beitrag „Ich kann nicht jedem alles anbieten.“ Inklusionsbestrebungen in Reha-Teams der Bundesagentur für Arbeit (BA) Einblick in die Inklusionsbestrebungen von Reha-Beratenden, die diese Aufgabe unter den gegebenen strukturellen Bedingungen ausüben und bei der Vermittlung Ungleichheit vermeiden wollen. Als Entscheidungsgrundlage liegt ihnen eine auf Klassifikationsprozessen beruhende Begutachtung zugrunde, die den Zugang zu bestimmten Leistungen legitimiert. Hinzu kommt, dass Betriebe Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung solchen mit einer Lernbehinderung bevorzugen und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen mit großen Vorbehalten begegnen. Da Reha-Beratende das Angebot an Ausbildungs- oder Arbeitsstellen nicht beeinflussen können und die Brüche, die z.B. beim Übergang von der Förderschule in die Berufsausbildung zu finden sind, nicht beseitigen können, führen sie eine fremdbestimmende Zuweisung junger Menschen aus, die innere Spannungen und Dilemmata auslösen.

Im Aufsatz Der Übergangssektor und die Dauerfrage seiner Chancen und Grenzen zur Teilhabeförderung und Fachkräftepotenzialhebung vor dem Hintergrund der steigenden Zahl psychischer Auffälligkeiten – eine empirische Einzelfalluntersuchung verdeutlicht Pia Buck, welche Fallstricke beim Übergang vom allgemeinbildenden Schulkontext in eine Ausbildung bei einem aufgrund einer psychischen Auffälligkeit induzierten problembehafteten Sozialverhalten lauern und eine berufliche Qualifizierung verhindern. Dabei können sich nicht-externalisierte Vorstellungen der Betroffenen, stereotypisierende Zuweisungen aus dem familiären Kontext, Fehlplatzierungen im Übergangssystem, unrealistische Vorstellungen der jungen Menschen oder eine fehlende Unterstützung bei der Einsozialisierung in eine Ausbildung intersektional beeinflussen, Benachteiligungen verstärken und die NEET-Quote (not in education, employment or training) trotz Fachkräftemangels weiterhin hochhalten.

Dr. Silvia Keller, Professorin an der HdBA, und Dr. Matthias Zick-Varul, Professor an der IU Internationale Hochschule, stellen mit Work4Psy – ein innovatives Modell für die berufliche Beratung von jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen und seelischen Behinderungen – Curricula beruflicher Bildung Ergebnisse aus einem europäischen Kooperationsprojekt vor. Beteiligte (betroffene Jugendliche, informell Betreuende, Fachkräfte aus dem Gesundheits- und Sozialwesen und aus der beruflichen Beratung) aus Polen, Italien, Griechenland und Deutschland haben in einer mixed-methods-Studie Beispiele guter Praxis eruiert und auch Lücken im System identifiziert. Daraus wurde das Work4Psy Toolkit erstellt. Die Lehr- und Lerneinheiten weisen die Ziele, die Lernergebnisse, Inhalte, Abläufe, Methoden, Umfang und Materialen aus, die auf einer offenen Lernplattform realisiert sind und abgerufen werden können. Zudem sind die erarbeiteten Unterlagen auf die beteiligten Zielgruppen abgestimmt. Work4Psy wurde im Projekt getestet und evaluiert und hat gezeigt, dass sich die Zugangschancen für junge Menschen mit psychischer Erkrankung nicht verbessern lassen, solange strukturelle Hindernisse im Weg sind.

Fokusebene 2: Betroffene (S. 103–181) enthält vier Beiträge:

Sabrina Lorenz, Koordinatorin, und Thomas Schley, Gruppenleiter im Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb) erläutern Barrieren und Handlungsfelder digitaler Teilhabe von Menschen mit Behinderung (MmB). Nach einer Unterteilung in die Bereiche 1) Teilhabe an, 2) durch und 3) in digitalen Technologien konstatieren Lorenz & Schley, dass MmB „allgemein überdurchschnittlich oft von digitaler Ausgrenzung betroffen sind“ (S. 107) und innerhalb der Zielgruppe, die körperlich beeinträchtigten weniger tangiert sind als die psychisch und kognitiv beeinträchtigten Menschen. Aus dem am f-bb durchgeführten Forschungsprojekt „Zukunft digitaler Teilhabe von Menschen mit Behinderung – Chancen, Risiken und Lösungsmöglichkeiten (digitale TeilhaBe)“ haben Lorenz & Schley beim Bereich 1) die stabile Internetverbindung, die geeignete Arbeitsplatzausstattung, den Zugang zu notwendigen Geräten, Bedienkompetenz (digital literacy), fehlendes Wissen bei Dritten identifiziert. 2) Teilhabe durch wird eingeschränkt von der fehlenden Kompatibilität von Assistenzsystemen und die Probleme bei der Nutzung von Lernplattformen und Videotelefonie-Programmen. Bei 3) schlagen die fehlende Barrierefreiheit (z.B. Sinneskanäle), die eingeschränkte Usability, reduzierte Kommunikation mit den Arbeitgebern und fehlende Sozialkontakte zu Buche. Nach wie vor begründet die Art der Behinderung ein erhebliches Maß an Intensität der Teilhabehemmnisse. Ein „Digitalpakt Reha“ könnte die Infrastruktur schaffen, daneben sind eine breite Sensibilisierung, Transparenz bei den Hilfsmitteln, kontinuierliche Ansprechstellen und Beratung vonnöten.

Im Rahmen des an der RWTH Aachen durchgeführten Vorhabens „Mein Beruf Bau“ zeigen die Mitarbeitenden der Lehr- und Forschungsgebiete Fachdidaktik Bautechnik und Lerntechnologien Susanne Korth, Volker Rexing & Svenja Noichl im Aufsatz Lernbarrieren als Ausgangspunkt einer App-Entwicklung für inklusionsorientierte Lernsettings auf, wie „lernbehinderte Auszubildende in einer regulären dualen Ausbildung an einer überbetrieblichen Bildungsstätte bei der Überwindung von Lernbarrieren individuell-adaptiv“ (S. 123) unterstützt werden können. Lernbarrieren im mathematischen, sprachlichen und fachbezogenen Sektor sind am häufigsten vorhanden und betreffen alle Auszubildenden. Als digitales Lernsetting wurde eine inklusionsorientierte App entwickelt, die in der berufsfeldbreiten Grundbildung (ÜBS) zum Einsatz kam. Die Lernapp MeinBerufBau fußt auf dem Prinzip Handlungsorientierung, unterstützt von vielen Features (Textbausteine, Fragen, Feedback, Videos, Audios u.a.m.), und ermöglicht einen individualisierten Fortschritt (individuelle Lernpfade) im Lernen mit dem Gamebook-Prinzip. Sie baut auf einem Framework für Gamebooks auf, so dass das Ausbildungspersonal neue Templates befüllen und einbinden kann, sie auf andere Lernorte übertragen, auf die weiteren Ausbildungsjahre ausweiten und auf andere Berufsbereiche anwenden kann.

Sebastian Ixmeier gibt in seinem Aufsatz Teilhabeförderung langzeitarbeitsloser Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen (LZAGB) – Eine Chance zur Sicherung des Fachkräftebedarfs? nach der Darstellung von Ergebnissen der wissenschaftlichen Begleitforschung des rehapro- Modellprojekts EPT (Essen.Pro.Teilhabe), Hinweise über Zusammenhänge, die für eine Verstetigung zu berücksichtigen sind. Der vom Projekt verfolgte Förderansatz einer bis zu 20-monatigen Betreuung durch einen die Säulen Gesundheit, Arbeit und Soziales verbindenden Integrationscoach, erreicht vor allem bei den jüngeren und sich als arbeitsfähig einstufenden Menschen Erfolge. Von besonderer Relevanz bei der vulnerablen Gruppe an Personen, die in das Modellprojekt einbezogen waren, erwies sich die Bearbeitung der gesundheitlichen Beeinträchtigung, die Beseitigung von behindernden externen Umständen (z.B. Schulden, fehlende Betreuung u.a.m.), der Vertrauensaufbau in die coachende Person sowie deren passgenauen, individuellen und interdisziplinär geleisteten Hilfen aus einer Hand. Gezeigt hat sich ebenso, dass der Prozess der (Re)integration von LZAGB-Personen ressourcenintensiv ist, mit beruflicher Bildung unterstützt werden kann, z.T. aber vorausgehende und auch nachgelagerte Maßnahmen umfassen muss.

Theresa Straub, Sozialarbeiterin und Promovendin an der Universität Innsbruck & Kirsten Schmidt, Psychologin und systemischer Coach, demonstrieren in ihrem Aufsatz Selbst-Achtung will gelernt sein: Aushandlungsprozess behinderter Menschen zwischen Behinderungserfahrung, Normalisierungserwartung und Selbstpositionierung im Übergang von Schule in Beruf, Aus- und Weiterbildung oder Hochschule anhand der Auswertung von drei narrativ-biografischen Interviews von Frauen mit Beeinträchtigungen, die ein Studium abgeschlossen haben, wie sie mit ihrem „Anders-Sein“ in den Institutionen umgegangen sind und was Institutionen in der Auseinandersetzung mit ihnen gelernt haben, mit Hilfe welcher Personen/​Stellvertreter:innen sie ihren Bildungswerdegang gemeistert haben, wie sie ihre Selbst-Achtung im Umgang mit Widerständen gefunden haben und welche Barrieren sich ihnen in den Weg stellten. Diese Extrakte nehmen die Autorinnen zum Anlass, einige Hinweise für die MmB selbst und ihr soziales Umfeld, aber auch auf Arbeit und Bildung bezogene Beratung zu schlussfolgern.

Fokusebene 3: Arbeitgebende (S. 183–221) sind zwei Beiträge zugordnet:

Im Aufsatz Beratung zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen – eine qualitative Studie mit Reha/SB-Spezialistinnen und -Spezialisten in der Bundesagentur für Arbeit (BA) stellen Dr. Bettina Siecke, Professorin an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA), und Cerstin Burfeind, Arbeitsvermittlerin und wissenschaftliche Hilfskraft ebenda, Ergebnisse der Befragung von Beratungsfachkräften, die nach § 187 Abs. 4 SGB IX in jeder Agentur verpflichtend vorhanden sein müssen, hinsichtlich ihrer Arbeitsaufgaben, der Bedeutung von Netzwerkarbeit sowie der Chancen und Herausforderungen der Tätigkeit vor. Als Aufgabenfelder ließen sich bestimmungsgemäß die Beratung von Bewerber:innen und Betrieben und deren Matching sowie zu Fördermöglichkeiten eruieren. Netzwerkarbeit findet intern wie extern statt. Als förderlich für die Beratungsarbeit erweisen sich eine positiv konnotierte Einstellung der Arbeitgebenden zur Inklusion, eine mittlere Betriebsgröße (KMU) und die Professionalität (in Form von Erfahrung). Herausfordernd wirken Einwände von Betrieben gegenüber von Inklusion, fehlende Spezialist:innen sowie die geringe BA-interne Wertschätzung der Tätigkeit. Der Studie liegt eine geringe Fallzahl zugrunde, die aber in ihrer explorativen Zielsetzung Anhaltspunkte lieferte, um die Beratung von MmB zur Teilhabe am Arbeitsleben zu optimieren.

Die Nutzung des Budgets für Arbeit (BfA) zur Überwindung des Arbeits- und Fachkräftemangels in Deutschland – Implikationen für die Beratung von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern lautet der Beitrag über die Studie, die unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Joachim Thomas, emeritierter Inhaber der Professur für psychologische Diagnostik und Intervention an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, im Projekt „BfA-Gelingt“ in den Jahren 2020 bis 2023 durchgeführt wurde. Basierend auf der relativ geringen Nutzung des BfA wurde eruiert, in welchen Phasen des Prozesses der Beschäftigung eines MmB förderliche und hinderliche Faktoren vorhanden sind. Dazu gehören der große Informationsbedarf über die Ausgestaltung der BfA, die Herstellung von Kontakten und das Generieren von Ideen für ein BfA inklusive der Ausgestaltung in den Unternehmen, die Schaffung von Erprobungsoptionen, die Beantragung und Ausgestaltung eines Arbeitsverhältnisses mit BfA, die Sensibilisierung für BfA im Unternehmen und eine nachhaltige Begleitung der MmB im Unternehmen. Identifiziert wurden aber auch Themen außerhalb der Beratungstätigkeit, wie z.B. der Ausschluss der Budgetnehmenden von der Arbeitslosenversicherung.

Fokusebene 4: Berufsbildungspersonal (S. 223–293) umfasst zwei Beiträge aus der Praxis und zwei Studien.

Einschätzungen des Bundesverbands der Träger der beruflichen Bildung (BBB) zu beruflichen Bildungsperspektiven für Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen: Die Rolle der beruflichen Bildungsträger lautet der Beitrag von Thiemo Fojkar, Vorstandsvorsitzender des Internationalen Bundes (IB) & Marina Sliwinski, Leiterin der Abteilung Bildung und Arbeitswelt im IB. Sie skizzieren die Vielzahl der arbeitsmarktpolitischen Angebote, die es für die MmgB mit dem Ziel der Integration in den Arbeitsmarkt (berufliche Ersteingliederung, Ausbildung von Fachpraktiker:innen, andere Leistungsanbieter, Budget für Arbeit und Ausbildung, Teilqualifizierung, digitales Lernen u.a.m.) gibt und die von den Mitgliedseinrichtungen des BBB angeboten werden. Aus der praktischen Perspektive des Trägerverbandes offenbaren sich Fojkar & Sliwinski die Aspekte, bei denen Anspruch und Realität auseinanderklaffen, wie z.B. die – trotz mehrfacher Nachschärfung der Instrumente – verhaltene Bereitschaft der Unternehmen, MmB auszubilden oder einzustellen sowie die Intransparenz des Förderdschungels. Autor und Autorin begrüßen die mit den jüngsten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen angezielten Flexibilisierungsmöglichkeiten, wie z.B. die Modularisierung von Ausbildung, das Wunsch- und Wahlrecht, das digitalisierte Lernen. Umgekehrt müsse den Anbietern auch die Basis geschaffen werden, ihre Formate und Infrastruktur den Anforderungen gemäß etablieren zu können.

Dr. Martin Holler, Leiter Berufsbildungswerk Mosbach-Heidelberg und Manfred Weiser, Schulleiter a.D. und Direktor des Anna-Wolf-Instituts in Heidelberg, beleuchten aus der Sicht der Praxis die Fachkräftesicherung in der Beruflichen Rehabilitation – Stärkung der sozialemotionalen Kompetenzen aus der Perspektive der Führungsebene. Ausgehend von den Zahlen zum Krankenstand sozialpädagogischer Fachkräfte fokussieren sich die Autoren auf die emotionalen Anforderungen und die Arbeitsintensität, weil sie zuverlässige Prädiktoren für Erschöpfungserkrankungen sind. Der sozial-emotionalen Kompetenz, angelehnt an die sozial-emotionale Intelligenz, dem Klima und der Umgangskultur in den Einrichtungen attestieren sie für die Beziehungsgestaltung und die Gesunderhaltung eine enorme Bedeutung, wobei dies sowohl für die Mitarbeiter- als auch die Führungsebene zutrifft. Am Beispiel des BBW Mosbach-Heidelberg zeigen sie auf, wie die sozial-emotionale Kompetenz des Personals generell und mit welchen Maßnahmen und Instrumenten konkret gestärkt werden kann.

Dr. Christian Schmidt, Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Berufspädagogik der Justus-Liebig-Universität Gießen und Marie Roos, wissenschaftliche Mitarbeiterin, kommen in ihrem Literaturreview Die Fachpraktiker:innenausbildung als Brücke zur Inklusion: Eine kritische Analyse zum Resultat, dass die gemäß § 66 BBiG/§ 42r HwO eingeführte Fachpraktiker:innenausbildung für MmB pädagogische Potenziale von Inklusion enthält, die in einer gemeinsamen Beschulung und einer separaten Förderung liegen, aber auch segregative Aspekte bestärken kann, wie dies z.B. bei Sonderklassen oder bei geringer Eintrittsquote in sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten der Fall ist. Trotz ungenauer Datenlage kann die Fachpraktiker:innenausbildung dann als erfolgreich gelten, wenn sie in einem Betrieb stattfindet. Schmidt & Roos sprechen sich dafür aus, die dualen Ausbildungsformen der Zielgruppe anzupassen.

Dr. Stefan Zapfel, stellvertretender Geschäftsführer und Leiter des Forschungsbereichs „Arbeit und Beruf, Behinderung und berufliche Rehabilitation“, Institut für empirische Soziologie an der FAU Erlangen-Nürnberg und Thomas Roßnagel, wissenschaftlicher Mitarbeiter, untersuchen Arbeitserprobungen in der beruflichen Wiedereingliederung von Menschen mit dauerhaften gesundheitlichen Beeinträchtigungen – insbesondere im sozialbetrieblichen Kontext von Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM). Dabei konzentrieren sie sich auf drei Typen von Arbeitserprobungen für Jobcenterkund:innen, die in einem Modellprojekt im Rahmen des Bundesprogramms „rehapro“ begleitet wurden. Resümierend lässt sich festhalten, dass tagesstrukturierende Formen in einem Sozialbetrieb für Personen mit großer Arbeitsmarktdistanz und intensiver arbeitspädagogischer Betreuung geeignet sind. Kund:innen mit konkretisierten beruflichen Zielvorstellungen und einem quantifizierbaren Leistungsvermögen benötigen Arbeitserprobungen in Sozialbetrieben, die auch eine arbeitspädagogische Begleitung und Flexibilität erbringen können. Personen mit geringer Arbeitsmarktdistanz und/oder Berührungsängsten bei WfbM profitieren von Erprobungen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Die Autoren befürworten deshalb, das Instrument der Arbeitserprobung zielgruppenadäquat einzusetzen.

Diskussion

Die Beiträge in diesem Band demonstrieren die Aktivitäten verschiedener Akteure, MmgB auf dem Weg in eine Ausbildung, bei der Aufnahme einer Tätigkeit oder einer Reha-Maßnahme zu unterstützen. Häufig handelt es sich dabei um geförderte Modellprojekte für eine besondere Zielgruppe. Aus den Evaluationen der i.d.R. innovativen Ansätze und Vorgehensweisen, um sich dem anzustrebenden Ideal von Inklusion zu nähern, ließen sich eindeutige Hinweise ableiten, wo und wie die Bedarfe nicht gedeckt werden. Misslingende Übergänge sind für die betroffenen Individuen ein Rückschlag, aber auch ein Verschleiß an Ressourcen, die zu bedauern sind, vor allem auch vor dem Hintergrund des Mangels an Arbeitskräften. Sehr deutlich ist den Aufsätzen zu entnehmen, dass das Geflecht der beteiligten Partner (z.B. Leistungsträger, Schulen, Fördereinrichtungen, Ausbildungsstätten, Träger der beruflichen Bildung, Inklusionsunternehmen, Betriebe u.a.m.) komplex ist und nicht durchwegs ineinandergreift. Trotz erheblicher Anstrengungen in den letzten Jahren existieren Informationsdefizite und Unsicherheiten zu den Fördermöglichkeiten, aber auch mit Bezug auf die Zielgruppe der MmgB, die in sich sehr heterogen ist und eine differenzielle Betrachtung erfordert. (Berufliche) Bildung als Chance für Alle, um Inklusion und Teilhabe zu stärken, setzt einen Hebel in Bewegung, der gewisse Wirkungen erzielt, es werden aber auch Einschränkungen bekannt, die zunächst nicht von einzelnen Akteuren bearbeitet werden können. Damit kommt auch zum Ausdruck, dass jeder MmgB, der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht, als Erfolg betrachtet werden kann, dass damit aber der Fachkräftemangel, wie manchmal leichtfertig suggeriert wird, nicht zu lösen ist und auch der Anspruch von Inklusion nicht eingelöst ist.

Die Literaturreviews und Sekundäranalysen verdeutlichen, wie wenig differenziert in manchen Bereichen Statistiken sind und welche Lücken in der Datenerfassung und -auswertung gegeben sind. Einige Aufsätze verweisen auf die geringe Fallzahl, die ihrer Forschung zugrunde liegt. Sie operieren mit qualitativ-explorativen Designs und ermitteln die Komplexität von Zusammenhängen, die etliche sehr interessante Überlegungen für weitere Lösungsansätze bieten.

Ein großes Plus des Bandes liegt darin, dass verschiedene Perspektiven (institutionelle Strukturen, Betroffene, Arbeitgebende, Berufsbildungspersonal) involviert sind. Dadurch entsteht eine nahezu 360-Grad-Betrachtung, die auch verdeutlicht, dass sich ein „Eingriff“ an einer Stelle an mehreren anderen zeigen wird. Der Aufwand des Herausgeberteams, Beiträge der Tagung um Analysen zu ergänzen, einem Reviewprozess zu unterziehen und im Aufbau zu vereinheitlichen, hat sich sehr gelohnt.

Fazit

Der Sammelband ist ein für das Fachpublikum sehr informatives Werk. Die in der Einleitung adressierte Leserschaft (Entscheidungsträger:innen, Praktiker:innen, die Fachöffentlichkeit und der mit beruflicher Aus(bildung) befasste Personenkreis) kommt auf ihre Kosten.

Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 82 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.

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ISSN 2190-9245