Manfred Kappeler: Soziale Arbeit der Kirchen im NS-Staat
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 20.03.2025

Manfred Kappeler: Soziale Arbeit der Kirchen im NS-Staat. Zustimmung, Übereinstimmung, Mit-Täterschaft. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2024. 494 Seiten. ISBN 978-3-89691-132-2. D: 40,00 EUR, A: 41,20 EUR.
Thema
Bei dem Titel handelt es sich um Dokumentation von Quellen über die Verstrickungen kirchlicher Mitarbeiter in die NS-Bevölkerungspolitik.
Autor
Manfred Kappeler, Dr. phil. habil., ist ausgebildeter Kinder- und Jugendtherapeut und seit 25 Jahren in der Sozialen Arbeit tätig. Von 1998 bis 2005 war er Professor für Erziehungswissenschaft am Institut für Sozialpädagogik der TU Berlin.
Entstehungshintergrund
Das Buch setzt sich kritisch mit der Rolle der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände im Nationalsozialismus auseinander. Dabei werden Dokumente analysiert, die eine Mitwirkung an diskriminierenden und tödlichen Maßnahmen belegen.
Aufbau
Das Werk gliedert sich in 15 Kapitel, die folgende Themen behandeln:
- Kontinuitäten
- Die Sprache der Nationalsozialisten
- Der Anfang
- Die Evangelische Kirche und ihre Soziale Arbeit im NS-Staat
- Die Freikirchen im NS-Staat
- Die Deutsche Evangelische Kirche und die Ökumene
- Beten für den Sieg in der deutschen Evangelischen Kirche
- Die Ermordung sogenannter unheilbar Kranker aus evangelischen Heil- und
- Pflegeanstalten
- Nach der NS-Herrschaft
- Die Katholische Kirche und ihre Soziale Arbeit im NS-Staat
- Eugenik und Rassenhygiene in der deutschen katholischen Kirche
- Die Katholische Kirche im NS-Deutschland zur „Euthanasie“
- Beten für den Sieg in der deutschen katholischen Kirche
- Nach dem Ende der NS-Herrschaft
- Schlusswort
I. Kontinuitäten
Nach einer autobiographischen Notiz beschreibt Kappeler, wie die Soziale Arbeit im Ganzen lange vor 1933 zu Wegbereiter*innen einer sozialrassistischen Bevölkerungspolitik wurde, und wie groß der Anteil der Professionellen, Ehrenamtlichen, Ordensgemeinschaften, Bruder- und Schwesternschaften und der Wohlfahrtsverbände an Anpassung und Widerstand 1933 war. Im Handwörterbuch der Wohlfahrtpflege (1929) fanden sich bereits Stichworte wie ‚Volksgesundheit, Arbeitshäuser, Entmündigung, Erziehung in Anstalten und Eugenik‘.
II: Die Sprache der Nationalsozialisten
Es gab bereits 1933–1935 Gesetze, Verordnungen, Maßnahme, Reden und Stellungnahmen führender Nationalsozialisten, die von Eliten, Wissenschaftlern und Kirchen – letztere mit einem ‚positiven Christentum‘ entsprechend der NS-Ideologie umworben – geteilt wurden. Das Rassengesetz zum „Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ (gegen Eheschließungen mit Juden) wurde 1935 unter Strafandrohung bei Nichteinhaltung vom Reichstag ohne Gegenstimmen und Enthaltungen angenommen.
III. Der Anfang
Weichen wurden bereits in den ersten Jahren nach der Machtergreifung gestellt: Diskriminierung von Juden und Sinti und Roma, Asylierung und Sterilisierung. Zahlreiche Sozialverbände schlossen sich an, darunter auch kirchliche Wohlfahrtsverbände. Die „Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden“ wurde aus der „Liga der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege“ ausgeschlossen.
IV. Die Evangelische Kirche und ihre Soziale Arbeit im NS-Staat
Ausgehend von der protestantischen Position zu Volk, Rasse und Staat bereits vor der Machtergreifung gab es von der Inneren Mission/Diakonie im ersten Jahr des NS-Staates noch unterschiedliche Stellungnahmen, doch rechtfertigten bereits protestantische Theologen teilweise den NS-Staat (Texte von Othmar von Verschuer, Helmuth Schreiner und – kritisch – Karl Barth).
Die eugenische Praxis wird anhand der zur Inneren Mission/Diakonie gehörenden Anstalten Bethel und Hephata und von zwei Evangelischen Wohlfahrtschulen beschrieben. Der Evangelische-Soziale-Kongress (ESK) 1933 in Braunschweig zeigte sich aufgeschlossen gegenüber den ‚neuen Aufgaben‘. Aber es gab auch kritische Stimmen in den protestantischen Kirchen zur „Judenfrage“ und zum „Arierparagraphen“, z.B. die Bekenntnisschrift „Wir rufen Deutschland zu Gott“(Martin Niemöller), und Initiativen zur Unterstützung ‚nichtarischer Christen‘.
In einem Bericht über die „Reichstagung“ der inneren Mission 1937 in Berlin wurden die umfangreichen Arbeitsgebiete beschrieben:
- Ausbildung,
- Bahnhofsmission,
- Bewahrung/Unterbringung,
- Veröffentlichungen,
- Erb- und Rassenpflege,
- Felddiakonie (Armee),
- Jugendarbeit,
- Jugendhilfe,
- Kinderpflege,
- Körperbehindertenfürsorge,
- Krankenanstalten und Heilstätten,
- Mütterarbeit – insgesamt eine Fülle von Arbeits- und Einflussmöglichkeiten.
V. Nachtrag: Die Freikirchen im NS-Stat.
Die Zustimmung der Freikirchen zum NS -Staat änderte sich auch nach ausländischer Kritik auf der Weltkonferenz der Baptisten 1934 in Berlin nicht. Es fehlen aber Hinweise, ob sich das im Hinblick auf ihre umfangreiche Soziale Arbeit im Laufe der Jahre geändert hat.
VI. Deutsche Evangelische Kirche und Ökumene
Im Kontext internationaler Veranstaltungen. z.B. des ‚Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum‘ (1936 in der Schweiz) kamen seitens der deutschen Teilnehmer gemäßigte rechtskonservative und kritische Stimmen zur Politik des NS-Staates zur Sprache. Das war auch auf der ‚Weltkirchenkonferenz in Oxford 1937 vorgesehen, doch Hitler untersagte die Teilnahme. Mitarbeiter an medizinischen Versuchen waren Otmar v. Verschuer und sein Assistent Mengele; ersterer fand nach 1945 kirchliche Hilfe im Entnazifizierungsverfahren. Der ‚Zucht‘-Gedanke der NS-Pädagogik wurde auch von kirchlichen Mitarbeitern unterstützt.
VII. Beten für den Sieg in der Deutschen Evangelischen Kirche
Der Krieg und der Soldatentod wurden als eine nationale Aufgabe gesehen, ebenso auch der Dienst an der ‚Heimatfront‘.
VIII. Die Ermordung sogenannter unheilbarer Kranker aus evangelischen Heil- und Pflegeanstalten
Zu Beginn sollten Meldebögen vom Personal und Ärzten ausgefüllt werden, was teils mit ‚Bedenken‘(Paul Gerhard Braune 1940) zur Kenntnis genommen wurde. Es folgten auch gemischte Reaktionen: Eingaben von Bischof Wurm (1940), Zustimmung von Pfarrer Schlaich (1934), diplomatischeVersuche von Bodelschwingh, Bedenken vonseiten der Bekennenden Kirche undein Protest des Vormundschaftsrichters Kreyssig, Mündel in ‚Tötungsanstalten‘ zu verlegen (er wurde in den Ruhestand versetzt).
IX. Nach dem Ende der NS-Herrschaft kam es zu zwiespältigen „Schuldbekenntnissen“.
X. Die katholische Kirche und ihre Soziale Arbeit im NS-Staat
Der Caritasverband hatte einen enormen Aufschwung in der Wohlfahrtspflege während der Weimarer Republik gewonnen. Die Kirche verhielt sich teils skeptisch, teils engagiert. Es gab eine rechtskonservative Zustimmung zum Krieg und zu einer ‚gemäßigten‘ Rassenpflege. Katholische Vereine und Verbände sahen in Hitler den Retter gegen die ‚Gottlosenbewegung‘. Papst Pius XI. kritisierte eugenische Bestrebungen, sah aber schwärmerisch eine Reichstheologie im NS-Staat verwirklicht, da Hitler sich 1933 auf das ‚positive Christentum‘ berief (politische Loyalität bei gleichzeitiger Seelsorgehoheit der Kirche). Verbände und Vereine begrüßten den ‚neuen Staat‘ und In der Wohlfahrtspflege kam zu einer bereitwilligen Zusammenarbeit.
In der Judenfrage gab es antisemitische Stellungnahmen prominenter Katholiken, der ‚Arierparagraph‘ wurde nicht kritisiert. Nichtarische Katholiken in Mischehen wurden aber von der Caritas-Reichsstelle unterstützt. Vereinzelt kam es auch zur Unterstützung von Juden (Bsp. Gertrud Luckner, die von Caritasmitarbeiterinnen 1942 denunziert wurde).
An der Erfassung der Sinti und Roma waren beide Kirchen beteiligt; nur die durch ‚Verlegungen‘ Unterbelegung einiger Einrichtungen wurde bemängelt.
Auch die Enzyklika von Pius XI. 1937 enthielt keine grundsätzliche Kritik am NS-Staat. Erzbischof Gröber, Oberhaupt des Caritasverbandes, war ein förderndes Mitglied der SS und im ‚Handbuch der religiösen Gegenwartsfragen 1937‘ wird in zahlreichen Stichworten die NS-Politik unterstützt.
XI. Eugenik und Rassenhygiene in der deutschen katholischen Kirche
Es gab widersprüchliche Vorbehalte und vorbehaltlose Zustimmung. Die ‚erbgesunde Familie‘ wurde als Übereinstimmung mit der von Gott gegebenen Lebensordnung verstanden. Minderwertige dürften nicht geschützt, oder gar bevorzugt werden. Auch Theologieprofessoren (z.B. Hermann Muckermann, Joseph Mayer) legitimierten Eugenik.
XII. Die Katholische Kirche im NS-Deutschland zur „Euthanasie“
Es gab keinen entschlossenen Widerstand gegen Krankenmorde und Sterilisierungen. Der Bischof Galen in Münster protestierte zwar gegen die sozialrassistische Praxis und plädierte für ‚Gerechtigkeit; Anlass war aber zunächst die Beschlagnahme zweiter Klöster in Münster. Erst in einer dritten Predigt wandte er sich auch gegen die Euthanasie.
XIII. Beten für den Sieg in der deutschen katholischen Kirche
Die ‚Kirchliche Kriegshilfe‘ bestand in einem Ausbau der Militärseelsorge. An der Spitze stand ein Militärbischof, der in Hirtenbriefen militaristische und nationalsozialistische Gedanken verbreitete.
XIV. Nach dem Ende der NS-Herrschaft
Nach 1945 stilisierte sich Erzbischof Gröber als Gegner und Opfer des Nationalsozialismus und predigte eine Rückkehr zu Gott und der christlichen Gedankenwelt. Die Gebete galten Notleidenden und Hinterbliebenen. Zur Erziehung sollten wieder Gehorsam, Anständigkeit und Höflichkeit gehören. Eine selbstkritische Auseinandersetzung fehlte. Zwar wurden die Verbrechen der Nazis benannt, aber nicht die Verantwortung der Kirche und des Deutschen Volkes.
XV. Schlusswort
Insgesamt wurden beim Neuanfang 1945 die Verstrickungen der Gründungväter und -mütter, wie der Institutionen und Organisationen verschwiegen. Veröffentlichungen während der NS-Zeit wurden nicht mehr erwähnt. Dabei war das Denken und die Sprache der Nationalsozialisten 1933 weitgehend übernommen worden, da sie nicht selten Zuspitzungem von bereits bestehenden Vorurteilen und Annahmen enthielten.
Gerade das begründet aber nicht nur ein Nachdenken über ehemalige Zustimmungen, Verstrickungen und Komplizenschaften, sondern auch darüber, ob w i r aus der Geschichte lernen, uns selbst und anderen gegenüber kritisch zu sein und nicht nur Aufklärung über Geschichte, sondern auch Selbstaufklärung zu betreiben.
Diskussion
Dieses Buch gehört in jede Fachbibliothek für Soziale Arbeit und Humanwissenschaften, weil es umfangreiche Belege dafür bietet, wie sehr die Mitarbeiter in sozialen Einrichtungen, und nicht nur in den kirchlichen, beeinflusst waren von sozialen Strömungen und Diskursen ihrer Zeit. Denn Diskussionen über Kosten und Nutzen der Fürsorge für psychisch Kranke und Behinderte und Euthanasie-Überlegungen hat es im 19. Jahrhundert nicht nur in der Politik und Sozialarbeit gegeben, sondern auch in der Medizin, und auch nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Allerdings ist vom Gedanken zum Handeln oft noch ein weiter Weg, und dieser ist konsequent nur von den Nationalsozialisten ohne moralische Bedenken beschritten worden, beginnend mit Verordnungen, deren Nicht-Einhaltung Sanktionen nach sich ziehen konnten; letztere wurden zwar angedroht, aber nur selten vollzogen.
Kirchliche Mitarbeiter wurden unter Druck gesetzt, haben sich dem aber auch teilweise entzogen; dazu gibt es keine verlässlichen Zahlen.
Der Fokus dieser Veröffentlichung liegt auf der Komplizenschaft und willigen Vollstreckung von Mitarbeitern der katholischen und evangelischen Kirche, die bis in die höchsten Gremien und leitenden Organe mit Dokumenten belegt werden. Auf diese bezieht sich der Autor mit seinen Thesen. Das schlechte Gewissen zeigt sich allerdings auch gerade in den Veröffentlichungen und Statements nach 1945, in denen eine Beteiligung nicht selten abgestritten wurde und sich Täter als Opfer oder Widerständige stilisiert haben; mitunter war man allerdings auch beides.
Wie hoch der Einfluss von Sozialisationsprozessen für angepasstes oder unangepasstes Verhalten und Unterwerfungsbereitschaft war, zeigt sich speziell beim historischen Rückblick: Gerade kirchliche Mitarbeiter waren vielleicht eher geneigt, nicht von der ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ Gebrauch zu machen, weil in den Kirche selbst autoritäre Verhaltensmuster eingeübt und nicht kritisch hinterfragt worden waren.
Es gab auch damals Alternativen, die in den offiziellen Verlautbarungen natürlich nicht erscheinen, deshalb aber nicht unerwähnt bleiben sollten. So wurde 1938 ein schwer, auch äußerlich stark behindertes Kind geboren und aufgrund einer Hausgeburt bereits damals weder vom Arzt noch von der Hebamme den Behörden gemeldet. Geschützt in der Familie und der Kirchengemeinde (ein großer Kreis von Mitwissern) wuchs dieses Kind unbehelligt auf, regelmäßig betreut von einem Kinderarzt in Bethel, der keinerlei aktenkundige Belege für die Betreuung und Beratung anlegte, und fand schließlich in einer einklassigen Volksschule auf dem Land auch 1944 eine Lehrerin, die es unterrichtete und die vorhandenen Fähigkeiten entwickelte und unterstützte. Wie viele solcher Fälle es in Deutschland gegeben hat, werden wir wohl nie erfahren, aber das Beispiel zeigt, es gab auch Widerstand und es gab bereits 1938 eine Vorstellung davon, dass diesem Kind eine Gefahr drohte, wenn es offiziell erfasst und in sozialen Einrichtungen betreut wurde.
Das ist keine Beruhigung, denn die Bereitschaft, sich an den verbrecherischen Taten der Nazis zu beteiligen, zeigt wie sehr das Gewissen dem Zeitgeist angepasst werden kann, und sei es nur aus Angst, Unterwürfigkeit und Dienstwillligkeit.
Das Buch besteht im Wesentlichen aus Belegen und Zitaten, die unterschiedlich vor allem in Lehrveranstaltungen benutzt und diskutiert werden können, und eine kritische Reflexion über Vorurteile, Zeitströmungen, Gesetze und Verordnungen, die auch noch heute die Entwicklungs-Chancen von behinderten Menschen beeinträchtigen, anregen können. Denn die Aufgabe besteht nach wie vor, Verantwortung zu übernehmen für Menschen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, um ihren Platz im Leben zu finden.
Fazit
Ein nicht leicht zu lesendes, aber sehr lesenswertes Buch, das in jede Fachbibliothek für soziale Arbeit, aber auch in Bibliotheken für Theologen, und Humanwissenschaftler gehört.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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