Peter Henningsen: Die neue Psychosomatik der Körperbeschwerden
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 28.03.2025

Peter Henningsen: Die neue Psychosomatik der Körperbeschwerden. Schmerzen, Schwindel, Erschöpfung & Co. besser verstehen und behandeln. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2025. 154 Seiten. ISBN 978-3-608-98861-1. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.
Thema
Im Gewand eines der vielen Lebensratgeber daherkommend, beschreibt dieses Buch eine derzeit außerordentlich relevante Frage. Wie lassen sich Störungsbilder verstehen wie Long Covid, Fibriomyalgie oder auch die Erkrankung infolge nicht messbarer Strahlen oder minimaler Umweltbelastungen, die von den Betroffenen als massive Lebenseinschränkung gesehen werden. Anders als gewöhnliche Patient:Innen haben viele der Betroffenen dieser Krankheitsbilder eine dezidierte Vorstellung davon, dass es sich bei ihrer Erkrankung nicht um ein Leiden mit auch psychischen Ursachen handelt, sondern um die Folge einer rein somatischen Verursachung. Für diese Überzeugung wird häufig mit großem Engagement gekämpft. Menschen, die ansonsten chronisch erschöpft sind, manchmal kaum das Bett verlassen können, entwickeln in ihrem Kampf einen erstaunlichen Furor der so von anderen Patient:Innen nicht aufgebracht wird.
Autor
Peter Henningsen, Prof. Dr. med. ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Er hat den Lehrstuhl für Psychosomatische Medizin am Klinikum rechts der Isar der TU München inne und war lange Dekan der Medizinischen Fakultät dort. Als der Leiter der Psychosomatik an der TUM folgt Prof. Michael von Rad, einem der Pioniere des Alexityhmiekonzepts, das u.a. den Übergang vom Seelischen zur Somatischen überzeugend beschreibt. Sozialisiert wurde er vor allem in der Heidelberger psychosomatischen Schule in der Tradition Victor von Weizsäckers. Auch Alexander Mitscherlich, Werner Bräutigam und Gerd Rudolf beeinflussten ihn. Henningsen war viele Jahre im Vorstand der Victor von Weizsäcker Gesellschaft.
Entstehungshintergrund
Hennigsens Hauptforschungsgebiet sind anhaltende Körperbeschwerden ohne ausreichende organische Erklärung. Dabei handelt es sich um somatoforme oder funktionelle Störungen wie Schmerzen, Funktionsstörungen, Erschöpfung, etwa auch das Fatigue-Syndrom. Seit der Corona-Pandemie haben wir eine wesentlichen Steigerung der Fallzahlen psychosomatisch erkrankter Menschen unter den Etiketten Long COVID oder Post COVID erlebt. Diese Menschen empfinden das Etikett psychosomatisch für sich nicht akzeptabel, sie bestehen auf einer biomedizinischen Erklärung für ihre Beschwerden, was sie mit vielen Fibriomyalgiepatient:Innen oder elektrosensiblen Patient:Innen gemeinsam haben. Obwohl kaum bestritten werden kann, dass die latente Lebensbedrohung über zwei Jahre und die damit einhergehenden Maßnahmen des Staats zur Beherrschung des Infektionsgeschehens (Lockdown, Schulschließung, Internierung sogenannter Risikogruppen) beträchtliche emotionale Konsequenzen haben mussten, ist es offenbar auch möglich, diese Verunsicherung paranoid oder psychosomatisch abzuwehren.
Aufbau und Inhalt
Hennigsens Buch ist in 6 Kapitel gegliedert. Auf eine kurze Einführung gibt Kapitel 2 einen Überblick über die Breite psychosomatischer Erkrankungen. Dabei werden sowohl Klassiker beschrieben als auch relativ neu bewertete Bilder wie Schmerz- und Erschöpfungssyndrome wie Fatigue. Long COVID als Beispiel, weist erstmals auf die identitätspolitische Mobilisierung einiger Patient:Innen nach dem Vorbild typischer Aktivistinnen hin: „Ich habe das Recht, dass meine Krankheit als Folge z.B. der Pandemie anerkannt wird, nicht etwa als emotionale Bewältigung einer persönlichen Erfahrung“. Ein Zwischenfazit dieser drei Einstiege schließt sich an.
Kapitel 3 schildert die klinischen Fakten zu funktionellen Körperbeschwerden: Ätiologie, Pathogenese und Verbreitung werden knapp geschildert. Deutlich wird, dass die speziellen Perspektiven von Biomedizin und Psychosomatischer Medizin eine jeweils eigene Perspektive darstellt, die wesentlich darüber entscheidet, welche Krankheitskonzepte jeweils konstruiert werden. Die Fallbeispiele schildern typische Patient:Innenkarrieren, die weiter verfolgt werden und auch deutlich werden lassen, welche Verläufe erwartet werden können.
Kapitel 4: Körper und Psyche in der Medizin: eine ungleiche Aufspaltung erst seit der Neuzeit
Während in der antiken Medizin eine Ganzheitsvorstellung bestand und somit Ärzt:Innen gleichermaßen Priester war, kam es in der europäischen Renaissance zu einem Schub des Rationalismus und damit zur Leib/Seele Spaltung. Während eine rein naturwissenschaftliche Medizin seit dieser Zeit immense Fortschritte machte und inzwischen dabei ist, die Grundlagen des Lebens selbst zu erkunden. Stagnierte die Akzeptanz der subjektiven Wahrnehmung mehr oder weniger. Seelisches Leid wurde zunehmend sozial stigmatisiert. Naturwissenschaftliche Hypothesen zur Dominanz des Gehirns (das Gehirn entscheidet, erst später meint das Subjekt es würde sich gerade entschieden haben) delegitimieren subjektwissenschaftlichen Forschung scheinbar zusätzlich. Für Patient:Innen wird es zunehmend ein Kampf um Anerkennung, dass sie eine richtige Krankheit haben.
4.2. Kann denn Kranksein Krankheit sein? 4.3. Das Biopsychosoziale Medizinmodell- ein Ausweg?
Wie die meisten zeitgenössischen Autoren lehnt Henningsen dieses Modell als ein überholtes Paradigma ab. Er kritisiert die wenig überzeugenden ungenauen Analogien und meint damit konkret eine Praxis, die diesen Begriff stets argumentativ verwendete, aber in der Forschungs- und erst recht nicht in der klinischen Praxis überzeugen konnte.
Ich habe Zweifel, ob das auch für Ciompis Affektlogik zutrifft oder für das Konzept der Salutogenese von Aron Antonowsky. In der täglichen Praxis der meisten Mediziner ist aber kaum zu bestreiten, dass biopsychosozial zur bloßen Floskel verkommen ist.
Freud und in seinem Gefolge Franz Alexander erlitten eine bis heute nachwirkende „Niederlage“, als entdeckt wurde, das Magengeschwüre, bis dahin Teil der „Holy Seven“ nicht entstehen können, ohne dass das Bakterium „Helicobacter pylori“ daran mitwirkt. Bis dahin war man davon ausgegangen, dass eine spezielle Persönlichkeitsstruktur mit charakteristischen unbewussten Konflikten für die Genese der Krankheit verantwortlich wäre. Während psychoanalytische Behandlungen der Patient:Innen nur wenig erfolgreich waren, hatte eine antibiotische Behandlung regelmäßig positive Auswirkungen. Obwohl diese Entdeckung Alexanders Hypothese eigentlich nicht widerlegt, auch bei 50 % der Gesunden sind Magen und Bauspeicheldrüse von jenen Bakterien besiedelt, ließ es das Renomé der Psychosomatischen Medizin dramatisch schwinden. Die Psychosomatik wurde zu einem deutschen Sonderweg.
Die Nachfolger Alexanders, vor allem Thure von Uexküll differenzierten die Pathogenese der Psychosomatischen Krankheiten erheblich und propagierten am Ende eine integrierte Medizin, ohne dass dieses Modell international Anerkennung fand.
Als Fazit zum Biopsychosoziale Medizinmodell schreibt Henningsen: „…das einfache Benennen der drei Dimensionen reit nicht. Es muss ein Weg gefunden werden, der biologische, psychische und soziale Faktoren stärker integriert und so leichter verständlich macht, dass alle drei genannten Dimensionen relevant sind…“ (S. 76) Dieser Prozess findet quasi in einer gegenläufigen Suchbewegung seinen Ausdruck.
4.4. Auf dem Weg zu einem integrierten biopsychosozialen Medizinmodell 1: Das vorhersagende Gehirn, 4.5. Das Modell, der vorhersagenden Gehirns erlaubt ein integrierteres Verständnis von Körperbeschwerden
„Schmerzen und Schwindel, aber auch Gang- und Gefühlsstörungen und viele andere Körperbeschwerden können dann entstehen, wenn es in doppelter Weise zu dysfunktionalen Schlussbildungen kommt. Im ersten Schritt führen die Vorhersagen, die, in statistischer Sprache, übermäßig präzise sind[…] bei gleichzeitig wenig präzisen sensorischen Signalen aus dem Körper […] zu einer körperlichen Störungswahrnehmung. Einer Körperbeschwerde.“ S. 83
4.6. Auf dem Weg zu einem integrierten biopsychosozialen Medizinmodell 2: Das verkörperte Selbst schaut gewissermaßen aus gegenläufiger Erwartung. Über die Entstehung von präsymbolischen Inhalten (im prozeduralem Modus) kann auch die Erfahrung von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit zu Körpererinnerungen führen, die sich letztlich als Schmerzerfahrung beschreiben lassen. Diese Prozesse lassen sich nicht ohne weiteres in ein narratives Format übersetzen; ähnliche Prozesse beschreibt von Rad als alexithyme Gefühlsblindheit. Aus einer Körpererinnerung kann als nicht ohne weiteres ein Narrativ entstehen, eine symbolisierte Mitteilung im deklarativen Modus. Ähnliche Prozesse beschreibt das Embodiment-Konzept aus der Perspektive der Neurowissenschaft.
Stellt vor allem die subjektive Erfahrung des „Selbst“, also eine Form der Identitätsbildung
4.7. Funktionelle Körperbeschwerden als Störungen des verkörperten Selbst, 4.8. Wo stehen wir jetzt, beschreibt vor allem eine neue Perspektive einer integrierten Psychosomatik, die neurowissenschaftliche und subjektwissenschaftliche Perspektiven integriert.
Kapitel 5 Ein veränderter Umgang mit funktionellen Körperbeschwerden, 5.1. Mitarbeitende im Gesundheitswesen, 5.1.1. Ein veränderter diagnostischer Umgang, 5.1.2. Ein veränderter therapeutischer Umgang
Kapitel 6 Konsequenzen für die Medizin insgesamt: Hier wird deutlich, es ist nicht die Ignoranz der beteiligten Akteure, sondern die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen (Sub-) Kulturen, die deren Wahrnehmung begrenzt. Die Eingliederung in je unterschiedliche ökonomische Zwänge sorgt dafür, dass ein:e Ärzt/:in auf einer Notaufnahme keinen anderen Horizont entwickeln wird, wenn sie nicht den gegebenen Rahmen verlässt. Kein Krankenhaus wird sich auf den Weg in eine menschenfreundliche Richtung machen, wenn fast ausschließlich ökonomisch getriebene Managemententscheidungen über Gedeih und Verderb entscheiden.
Diskussion
Warum es vielen Menschen schwer fällt eine psychosomatische Genese ihrer Beschwerden anzuerkennen, ist eines der großen ungelösten Probleme des Fachs. Offenbar empfinden sie die psychische Komponente ihrer Erkrankung als Vorwurf; als würde ihnen unterstellt, sie bildeten sich ihr Leid nur ein [1], seien als Simulanten oder verrückt. „Denken Sie ich bin verrückt?“ Ist die häufigste Reaktion auf die Diagnose einer somatoformen Störung, doch nicht allein die Kommunikation zwischen Psychotherapeut und diesen Patient:Innen ist häufig schwierig. Auch in der Beziehung zu biomedizinisch orientierten Ärzten kommt es oft zu einer Beziehungsstörung, weil die Untersuchungsbefunde keine ausreichende Erklärung für die Symptomatik abbilden und Therapien nicht anschlagen. Michael Balint hat schon in den 50er Jahren ein Gruppenformat vorgeschlagen, dass Ärzt:Innen helfen soll, die unbewusste Beziehungsdynamik in ihren Behandlungen besser zu verstehen.
Henningsen verfolgt im Vergleich mit früheren Autoren viel stärker neurobiologische Perspektiven. Das macht seine Forschungen für die Biomedizin akzeptabler, als die psychoanalytischen Konzepte die er nur beiläufig erwähnt, obwohl Ihr kulturkritisches bis heute nicht gehoben ist.
Fazit
Ein hochinteressanter Beitrag vor allem zur Diskussion nach der Coronakrise. Auch eine erste Einführung in die Problematik der somatoformen Störungen und psychogenen Schmerzstörungen, selbst für Laien verständlich.
Literatur
Michel Balint (1954 dt. 2001):Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. 10. Auflage, Stuttgart:Klett-Cotta
Enid Balint, J. S. Norell (Hrsg., 1977): Fünf Minuten pro Patient. Eine Studie über die Interaktionen in der ärztlichen Allgemeinpraxis. Frankfurt: Suhrkamp
[1] Vor Jahren wurde mir ein Jugendlicher in sehr schlechtem Zustand vorgestellt, er hatte eine schwer chronifizierte soziale Angststörung seit mehr als 10 Jahren und ging nicht mehr zur Schule. Die Genese der Störung war völlig eindeutig ich bot dem Jungen einen Behandlungsplatz an. Die Eltern waren irritiert hatten nicht mit einem so eindeutigem Ergebnis gerechnet. Der nächste Termin kam nicht zustande da er bei einer Heilpraktikerin auf Lebensmittelunverträglichkeit getestet würde. Die stellte durch Pendeln eine Weizenunverträglichkeit fest worauf die Probleme des Jugendlichen nun diätetisch interpretiert wurden. Vor allem die Eltern waren sehr erleichtert, dass es sich um kein psychisches Problem handelte.
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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