Torsten Groth, Timm Richter: Zwischen Inszenierung und Invisibilisierung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.03.2025

Torsten Groth, Timm Richter: Zwischen Inszenierung und Invisibilisierung. Systemisches Paradoxiemanagement in Organisationen.
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2025.
143 Seiten.
ISBN 978-3-8497-0579-4.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Management.
Thema
Paradoxien – widersinnig und logisch
Leben als aktives Sein ist verbunden mit Imponderabilien, Vermutungen und Fakten. Es ist Entstehen und Vergehen, Froh- und Trübsinn, Glück und Unglück, Wahrheit und Lüge. Dieser Spagat wird als Paradoxie bezeichnet. Im menschlichen Bewusstsein gilt: „Alle komplexen Entscheidungsprobleme des Lebens- und Organisationsalltags wie auch deren erfolgreichen Lösungsversuche lassen sich im Kern auf die Handhabung von Paradoxien zurückführen“. Es gilt, das humanen Dasein verantwortungsbewusst zu gestalten: „Wenn lechts rinks ist“ (Ernst Jandl). Paradoxien sind prinzipiell unlös-, aber erkennbar (Simon B. Fritz, Wenn rechts links ist und links rechts. Paradoxiemanagement in Familie, Wirtschaft und Politik, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/​14542.php). Weil Probleme, die auch Lösungen ermöglichen, und Lösungen, die auch Probleme bringen, können nur so verändert werden, dass sie weniger stören, aber sich kaum verhindern lassen. Diese Einsicht braucht nicht zu Pessimismus, zum schicksalhaften Erdulden, zum Verquerdenken, oder gar zum Fatalismus führen; vielmehr kommt es darauf an, nach erkenntnisfördernden Phänomenen Ausschau zu halten.
Entstehungshintergrund und Autorenteam
Paradoxe Grundfragen veranlassen Menschen, nach praktischen Verbindungen und Zusammenhängen zu suchen und dort, wo richtige Antworten und Lösungen (vorerst) nicht gefunden werden können, eine „Paradoxiebrille“ aufzusetzen und die Komplexität der jeweiligen Thematik zu erkennen. Der Diplommathematiker Timm Richter von der MIT Sloan School of Management, Massachusetts Institute of Technology und der Organisationsberater Torsten Grube gehen systemtheoretisch den Fragen nach, wie es gelingen kann, den Innovations- und strategiedefizitären, kulturkämpferischen Kakophonien entgegenzutreten. Es sind Begriffsklärungen und Positionsbestimmungen, die mit Fallbeispielen und Praxis darauf hinweisen, warum pragmatische Paradoxien für den individuellen und kollektiven Organisationsalltag wichtig sind.
Aufbau und Inhalt
Neben Vorwort und Einleitung in die Thematik gliedern die Autoren ihr Grundlagenbuch in acht Kapitel. Im ersten erläutern sie mit der Feststellung -„Das kann doch nicht wahr sein!“ – die Begrifflichkeit „Paradoxie“ und unterscheiden zwischen „logischer“ und „pragmatischer“ Paradoxie. Dabei wird bereits der allgemeinen Auffassung widersprochen, dass Paradoxien grundsätzlich problematisch und störend seien; vielmehr können Paradoxien kreativ und förderlich für humane Denk- und Handlungsprozesse sein. Im zweiten Kapitel geht es um „Beständige (unvermeidbare) Begleiter“ bei Erkenntnisprozessen. Wie sehen und erkennen wir die Welt? Was sagen Landkarten und visuelle Abbildungen aus? Welche kognitiven Denk- und Wissensmethoden benutzen wir? Wie artikulieren wir unsere Eindrücke, sprachlich und medial? Wie und von wem werden sie uns gespiegelt? Im dritten Kapitel werden mit dem scheinbaren Paradox – „Wir haben keine Chance, die sollten wir nutzen“ – Funktion und Folgen von Erkenntnisparadoxien diskutiert. Es sind individuelle und gemeinsame Erkenntnisprozesse: „Wer Paradoxien ernst nimmt, kann mit ihnen spielerischer umgehen“. Mit dem vierten Kapitel wird die „Als-ob“ Frage gestellt: „Als ob man richtig entscheiden könnte“. Es ist der Umgang mit richtigen und falschen Entscheidungen, und es die Auseinandersetzung mit der Situation: „Was passiert, wenn nichts passiert?“. Soll alles so bleiben, wie es ist? Mit dem fünften Kapitel wird dieser Einstellung widersprochen: „Aus zwei mach vier“; es geht um die praktische Entfaltung von Paradoxien. Das „Tetralemma“, im Gegensatz zum Dilemma, kommt ins Spiel: Die Optionen A und B werden erweitert zu „sowohl A als auch B (oder) weder A noch B“. Im sechsten Kapitel gehen die Autoren mit dem Beitrag „Womit entscheidend zu rechnen ist“ auf grundsätzliche Paradoxien in Organisationen ein. Vorausgesetzt wird, dass der anthrôpos darauf angewiesen ist, sozial, ethisch und existentiell auf Mitmenschlichkeit angewiesen ist: „Paradoxiemanagement steht und fällt mit der Erkenntnis, wie der erlebte Alltag des Entscheidens, des Führens wie des Organisierens… verknüpft sind“. Mit dem siebten Kapitel liefern die Autoren „(Meta-)Werkzeuge zur Paradoxiebearbeitung“. Mit dem „Paradoxiezirkel“ soll es gelingen, das Ziel zu klären, relevante Muster zu erkennen, sie darzustellen und zu bearbeiten. Mit dem achten Kapitel schließt das Autorenteam die Studie ab. Mit der Erkenntnis – „Es bleibt paradox“ – soll nicht Resignation und Macht- und Hilflosigkeit vermittelt, sondern Mut gemacht und zur Gelassenheit und Relevanz geraten werden.
Diskussion
Die Lebenswelt der Menschen ist voller Sterne und Splitter. Glück und Unglück liegen auf der Straße. Diese paradoxen Daseinsumstände sind „normaler“ Bestandteil des Seins. Sich aktiv, kreativ und verantwortungsvoll damit auseinanderzusetzen, ist Grundlage des Menschseins. Wenn Paradoxien „verantwortungsfördernde Phänomene“ sind, die ein gutes, menschenwürdiges Leben befördern können, gilt es sich bewusst zu machen, dass Änderungen und Paradigmenwechsel „normale“, notwendige Prozesse sind.
Fazit
Die Welt ist so, wie wir sie sehen; wie sie uns vorgespiegelt, vorgemacht und vorgestellt wird. Nur wenn es gelingt, sie zu erkennen, können feststehende und unveränderbare Paradoxien in den individuellen und kollektiven, kreativen Lebensprozess einbezogen werden.
Die Studie vermittelt eine Fülle von theoretischen und praktischen Beispielen, wie Paradoxiemanagement im alltäglichen, individuellen, beruflichen und gesellschaftlichen Vollzug gelingen kann und mit den von den Graphikern Britta Ulrich und Detlef Pollack beigefügten, kommentierenden Skizzen erhält die Arbeit zum systemischen Paradoxiemanagement in Organisationen Handbuch-Charakter.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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