Lisa Alexandra Henke: Verlorene Unmittelbarkeit
Rezensiert von Dr. Ulrich Kobbé, 14.05.2025

Lisa Alexandra Henke: Verlorene Unmittelbarkeit. Eine Theorie der Sorge.
Vittorio Klostermann
(Frankfurt am Main) 2025.
275 Seiten.
ISBN 978-3-465-04662-2.
D: 59,00 EUR,
A: 60,70 EUR.
Klostermann Weiße Reihe - 14.
Thema und Entstehungshintergrund
Im Klappentext (U4) skizziert der Verlag das Sujet und dessen Relevanz: Im Spannungsfeld von Leben und Sterben erwecke der Sorge-Fokus unterschiedliche Assoziationen von einerseits Vertrauen & Sicherheit, andererseits Angst & Unsicherheit. Neben dieser emotionalen Polarisierung werde ‚Sorge‘ jedoch „in aktuellen internationalen Debatten allerdings nicht mehr nur als intentionale, menschliche Tätigkeit verstanden. So können sowohl digitale Assistenten als auch Regenwürmer, fallende Herbstblätter und Honigbienen als Sorgende betrachtet werden“. Der Beitrag antworte auf diesen entdifferenzierenden Trend mit einer „Reformulierung der Spezifik menschlicher Sorge“. Dies führe vor dem Hintergrund des philosophischen Paradigmas verlorener Unmittelbarkeit zu einer Reaktualisierung eines speziell humanen Sorgekonzepts.
Autorin
Die Autorin hat (so das Online-Profil der JGU Mainz) ihr Studium der Philosophie, Germanistik und Bildungswissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit einem ‚Master of Education‘ und einem ‚Master of Arts‘ abgeschlossen. Mit den Arbeitsschwerpunkten Philosophische Anthropologie, Phänomenologie, Psychoanalytische Sozial- und Kulturtheorie sowie Wissens- und Bildungssoziologie ist sie dort wissenschaftlich tätig.
Aufbau und Inhalt
Nach einem einleitenden „Weg zur Sorge“ werden dessen
- Konzepte (Selbstsorge, Fürsorge, Welt- und Dingsorge),
- Merkmale (Körperlichkeit, Aktivität, Zeitlichkeit und Rationalität) und
- Spezifika (Weltbezug, Selbstbezug, Zeit- und Objektbezug)
abgearbeitet und in einer Schlussbetrachtung als „(human)theoretische Respezifizierung der Sorge“ zusammengefasst.
Ausgangspunkt ist ein Spannungsfeld des „Dazwischen“, das einerseits nun durch ein zunehmend entdifferenziertes Care-Konzept ersetzt werde, andererseits durch ein „Spannungsfeld“ charakterisiert sei, das „in der Distanznahme zu [einem] als unmittelbar erlebten, fürsorglichen Selbst-Weltverhältnis“ liege: „Das philosophisch-anthroplogische Konzept einer ‚vermittelten Unmittelbarkeit‘ (Plessner, 2016, S. 396) des Menschen zeigt sich am konkreten Phänomen der Sorge als verlorene Unmittelbarkeit“ (S. 11 ff.). Für Henke „zielt die Studie darauf ab, herauszuarbeiten, dass es […] notwendig ist, einer spezifischen Form der Sorge als grenzrealisierende Tätigkeit nachzuspüren, um den Begriff der Sorge zu schärfen und dadurch […] der Gefahr einer ‚Einebnung der Differenzen zwischen den Akteuren‘ […] entgegenzuwirken“ (S. 14 f.). Es gehe, so die Autorin einleitend, um
- „Einblicke in interdisziplinäre Diskussionen und Kontexte“ (S. 23),
- „eine kritische Perspektive auf die dezidierte Abkehr vom Primat des Humanen“,
- „eine Theoretisierung des Uneindeutigen, Imaginären, Unsagbaren und des vermeintlich ‚Störenden‘ im Dazwischen des Sozialen“ (S. 24).
Ein Zwischenresumé dieser Ausarbeitung unterschiedlicher Merkmale der Sorge lautet u.a., „ausgehend von […] konzeptionellen Verschiebungen“ werde es „möglich, eine Theorie der Sorge zu entwickeln, die graduelle Unterschiede, Grenzen und Besonderheiten entlang der verschiedenen Vollzugsformen von Sorge beschreibt“ und reaktualisiert (S. 172). Das Zwischenresumé zur Spezifik der Sorge bestätigt diese „als unhintergehbare, artenspezifische Verlusterfahrung von individuellen Souveränitäts-, aber auch kollektiven Identitätsmerkmalen“ (S. 243).
Die Schlussbetrachtung verfasst folgendes Ergebnis dieser Diskurse: „Jenseits ethisch-moralischer und posthumaner Diskurslinien wurde Sorge als spannungsreiches, grenzrealisierendes sowie vermittelndes Dazwischen zwischen Selbst und (Um-)Welt betrachtet.“ Entlang einer theoretischen Schwerpunktsetzung „wurden die zentralen Sorgemerkmale (Körperlichkeit, Aktivität, Zeitlichkeit, Relationalität) herauskristallisiert. Die diskursive Fortschreibung sowie die praktische Implementierung dieser Merkmale wurde mittels konkreter Fallbeispiele und Anwendungsszenarien (wie z.B. Pflegerobotern, Werbekampagnen und Textdokumenten) illustriert, aber auch irritiert.“ Die Erarbeitung von spezifischen Sorge-Dimensionen führe, so die Autorin, zu einer „theoretischen Neukonturierung eines Konzepts, das Sorge in erster Linie durch seine grenzbehauptenden Welt-, Selbst-, Zeit- und Objektbezüge definiert“ (S. 245). Unter Bezugnahme auf Plessners Konzept der ‚Doppelaspektivität‘ anthropologischer Grundsituationen bedeute dies: „Durch eine leiblich vermittelt Außenposition, die exzentrisch positionierte Selbste einnehmen, wird ein reflexives Erleben der eigenen Körperlichkeit bzw. der eigenen Gedankenwelt in der Selbstsorge möglich und avanciert damit zu einer wichtigen Leitplanke einer Theorie der Sorge“ (S. 246).
Für das aus der Sicht von Henke nunmehr „(neu) konturierte“ Sorgekonzept werde nachvollziehbar, dass sich Sorge nicht auf ein „Theorem entgrenzter, artenübergreifender Relationalität engführen“ lasse, wie dieses zunehmend in einem „posthumanistisch“ geprägten Sorgekonzept etabliert werde. Vom Verständnis her sei wesentlich, Sorge zwar – so der O-Ton – als „subjekttheoretisch dezentriert, aber dennoch als conditio humana rezentriert“ zu verstehen, diese aber gerade deshalb als „dezidiert humanspezifisch“ auszuweisen (S. 246 f.).
Diskussion
Wie anhand der Zitatstellen eindrücklich präsent, handelt es sich um einen ‚Diskurs‘ im ursprünglichen Sinne des lat. discurrere = hin- und her-/auseinanderlaufen, sich ausbreiten, sich zerstreuen, abschwenken. Wenn die Autorin in ihrer Absicht, „die wichtigsten Erkenntnisse […] gebündelt zusammengeführt“ zu haben (S. 106), selbst kritisch die Metapher des „Begriffdschungels“ (S. 172) verwendet, wird unfreiwillig deutlich, dass hier nicht der von Foucault zur Verfügung gestellte ‚Steinbruch‘ der Erkenntnisse vorliegt – vielmehr ist diese „Studie“ eine strukturlos überquellende Abraumhalde von Theoriekondensaten und Begriffsschnipseln.
Aus der eigenen beruflichen Erfahrung in psychiatrischen und forensischen Kontexten offensiv aufgedrängter Sorge kommend [1], hatte der Rezensent die Hoffnung auf ein innovatives, praxisreflexives und -ethisches Sorgekonzept. Doch Hoffnung kann – wie Bloch einst lapidar konstatierte – enttäuscht werden. Auf dem Niveau einer Hausarbeit werden heterogene Sorgeaspekte (Arendt, Foucault, Hadot, Hegel, Heidegger, Lacan…), werden soziologische, philosophische, psychoanalytische u.a. Denkfiguren schlaglichtartig evoziert, gewechselt, als Referenzen akademischer ‚Beweisführung‘ abgenutzt. So vage das ursprüngliche Erkenntnisinteresse, so unklar die Ausgangsfrage blieb, so lebensfern-diffus geriet die „theoretische Respezifizierung der Sorge“. Ihr Verlust-Konzept erwies sich als hierfür symptomatisch, denn eine – für des Lesers Identifikation notwendige – Vermittlung gelingt Henke nicht.
So plakativ eine ‚verlorene Unmittelbarkeit‘ konstatiert, so repetitiv (gefühlt gebetsmühlenartig) diese im „Rückgriff“ auf die (leib-)phänomenologischen Konzepte Plessners „respezifiziert“ wird (S. 174 f.), so unscharf bleibt diese Zuschreibung und Erkenntnis. Dass ‚Unmittelbarkeit‘ auf die ‚erste‘ und ‚zweite‘ Natur des Menschen verweist, dass sie sich als immer schon vermittelt erweist und so „zum Kern unseres Identitätsgefühls“ gehört, spart Henke in dieser Prägnanz aus. Als solche sei sie – so weiter Plath (2021, 2 f.) – „keine schlicht durch eine skeptische Infragestellung aufzuklärende defizitäre Sichtweise, sondern vielmehr eine notwendige Perspektive, eine conditio sine qua non unseres Selbst-Seins und unserer Selbstwahrnehmung“. Im Menschsein bzw. in der Menschwerdung (Stichwort ‚zweite Natur’) war und ist ‚Unmittelbarkeit‘ mithin immer schon ‚verloren‘. Was also ist das Spezifische an der ‚Erkenntnis‘ dieser in Anspruch genommenen ‚Reformulierung der Spezifik menschlicher Sorge‘? Das Konzept mitmenschlicher Unmittelbarkeit erweist sich folglich als ein idealistisch-romantisierender Grundgedanke, als eine „projektive Selbstverkennung“ (Plath). Was also ist das Novum dieser – so der Anspruch – ‚gegen einen entdifferenzierenden Trend‘ argumentierenden Abhandlung?
Ja, die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit ist eine Reaktionsbildung auf das Schwinden von Unmittelbarkeitserfahrungen in der Moderne. Doch das ist mitnichten sorgespezifisch. Bereits Hegel referiert über „die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst“ und stellt fest, nur diese vermittelte Unmittelbarkeit als „Reflexion im Anderssein in sich selbst – nicht eine ursprüngliche Einheit als solche oder unmittelbare als solche – [sei] das Wahre“ (Hegel, 1975, S. 23). Die Erkenntnis der Autorin, Sorge bewege sich „als ein Selbst-Welt-Verhältnis […] auf einem schmalen Grad“ zwischen Unmittelbarkeitserleben und „gleichzeitig dem Verlust dieser Unmittelbarkeit“ (U4), ist kein Alleinstellungsmerkmal von Sorge: Projektion, implizite Selbstverkennung, narzisstische Ambivalenz sind psychologisch wie philosophisch längst ausgearbeitete Phänomene einer alternativlosen ‚zweiten Natur‘ des Menschen im Spannungsfeld seiner Sorge um sich und andere…
Fazit
Das Buch thematisiert Grundfragen der Sorge im Kontext inflationär verbreiteter Care-Konzepten. Dabei wird ein illusionärer Anspruch an Unmittelbarkeit sowohl verfolgt wie als ‚verloren‘ moniert. Trotz – und wegen – der zahlreichen soziologisch-philosophisch-psychologischen Referenzen bleibt dies ein uninspirierter Versuch: Eine „Theorie der Sorge“ ist dieses Patchwork nicht.
Literatur
Hegel, G.W.F. 1975 (1807). Phänomenologie ds Geistes. Theorie-Werkausgabe, Bd. 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Kobbé, U. 1992. Psychotherapie im Maßregelvollzug: Diskursive Bemühungen zwischen Einschluss, Zwang, (Wieder)Anpassung, Emanzipation und Selbstbestimmung. Hermer, M. (Hrsg.). Wege zu einer klinischen Psychotherapie (148-172). Münster: LWL.
Kobbé, U. 1998. Seel-Sorge oder Die Praktiken des Selbst. Eine ethische Foucaultiade. Psychologie & Gesellschaftskritik, 22 (4)/88, 7–28. Open-access-Publ.: https://www.ssoar.info/ssoar/​handle/​document/2001.
Kobbé, U. 2021. ›Wir schulden dem Asklepios einen Hahn‹. Selbstreflexive Basics einer forensischen Care-Ethik. Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, 28 (2), 125–150.
Plessner, H. 2016. Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Rath, N. 2021. Unmittelbarkeitssehnsucht und das Konzept der zweiten Natur. Kritiknetz – Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft. Online-Publ: https://www.kritiknetz.de/images/​stories/​texte/​Rath_Unmittelbarkeitssehnsucht.pdf.
[1] vgl. Kobbé (1992; 1998; 2021)
Rezension von
Dr. Ulrich Kobbé
Klinischer und
Rechtspsychologe, forensischer Psychotherapeut, Supervisor und Gutachter
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