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Anneka Beck: Kinder als Akteur*innen generationaler Raumaneignung

Rezensiert von Prof. Dr. Stephan Otto, 04.03.2025

Cover Anneka Beck: Kinder als Akteur*innen generationaler Raumaneignung ISBN 978-3-7799-8692-8

Anneka Beck: Kinder als Akteur*innen generationaler Raumaneignung. Eine qualitativ-rekonstruktive Analyse zur Weiterentwicklung von Ganztagsbildung aus sozialpädagogischer Perspektive. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2025. 248 Seiten. ISBN 978-3-7799-8692-8. D: 44,00 EUR, A: 45,30 EUR.

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Thema

Das Werk „Kinder als Akteur*innen generationaler Raumaneignung. Eine qualitativ rekonstruktive Analyse zur Weiterentwicklung von Ganztagsbildung aus sozialpädagogischer Perspektive“ greift das Forschungsdesiderat auf, dass der Diskurs über den Ausbau von Ganztagsschulen üblicherweise aus der Perspektive von Erwachsenen betrachtet wird und das Erleben von Kindern, die eine Ganztagseinrichtung besuchen, nicht im Fokus steht. Im Rahmen einer qualitativ-rekonstruktiven Einzelfallstudie ermittelt die Autorin das sozialräumlich-generationale Erleben von Ganztagsschule aus der Perspektive von Kindern.

Autorin

Anneka Beck lehrt an der katholischen Hochschule NRW am Standort Münster im Lehrgebiet Theorien und Konzepte der Sozialen Arbeit. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in der Ganztagsschulentwicklung, der qualitativen Sozial- und Kindheitsforschung sowie der inklusiven und diversitätssensiblen Bildung.

Entstehungshintergrund

Die Ergebnisse der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 wurden von vielen in der bildungspolitisch interessierten Öffentlichkeit als unzureichend wahrgenommen, da sie deutschen Schüler:innen im internationalen Vergleich nur durchschnittliche Fähigkeiten attestierten (Baumert et al. 2000). Dies führte in den folgenden Jahren zu zahlreichen Reformen im deutschen Bildungssystem. Eine zentrale Maßnahme war der Ausbau des schulischen Ganztags, der durch den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für alle Kinder ab dem Schuljahr 2026 noch einmal eine deutliche Fokussierung erfahren hat.

Die Idee hinter der Ausweitung des Ganztags besteht darin, Kindern über den schulisch-formalen Wissenserwerb hinausgehende Lerngelegenheiten zu eröffnen, die insgesamt zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen sollen. Zugleich führt dieser Ausbau aber auch dazu, dass sich eine zunehmende Institutionalisierung der Kindheit nachweisen lässt (Andresen 2018).

Bereits seit Langem wird in der erziehungswissenschaftlichen Forschung darauf hingewiesen, dass Reformmaßnahmen häufig lediglich aus systemischer bzw. aus der Perspektive der Erwachsenen betrachtet wurden. Kinder als eigenständige Akteurinnen ihrer Aktionsräume zu betrachten, ist eine Entwicklung, die erst ab den 1990er Jahren vermehrt aufkam (Fuhrich et al. 2024). In diese kindfokussierte Perspektive reiht sich auch die Dissertation von Anneka Beck ein, die die kindliche Akteur:innenperspektive auf den schulischen Ganztag beleuchtet.

Aufbau und Inhalt

Die Monographie beginnt mit einer kurzen Einleitung, in der knapp der Auf- und Ausbau des Ganztags im deutschen Schulsystem als Konsequenz der PISA-Ergebnisse herausgearbeitet wird. Daraufhin werden die einzelnen Kapitel der Arbeit kurz vorgestellt.

Kapitel 2 stellt das Untersuchungsfeld Ganztagsschule als sozialpädagogisches Handlungsfeld dar. Ausgehend von der Entwicklung, dass durch den quantitativen Ausbau des Ganztags das kindliche Alltagserleben zunehmend in institutionalisierten Kontexten stattfindet, wird die Rolle der Sozialpädagogik als „Unterstützerin von Bildungsbiografien“ (Beck 2025, 59) herausgearbeitet, da diese Profession außerhalb des Unterrichts Bildungsprozesse im schulischen Kontext begleitet.

Ebenfalls wird die kindliche Perspektive auf Ganztagsangebote beleuchtet. Es wird aufgezeigt, dass Kinder grundsätzlich aufgeschlossen sind, Angebote des offenen Ganztags zu besuchen und sich aktiv an deren Gestaltung zu beteiligen. Zugleich wird als Desiderat der Forschung herausgestellt, dass über den kindlichen Beitrag zu bildungsbezogenen Konstruktionen im Ganztagskontext sowie zur aktiven Herstellung bildungsbezogener sozialer Räume durch Kinder bislang wenig bekannt ist.

Das folgende dritte Kapitel befasst sich mit der theoretisch-konzeptionellen Rahmung der Studie. Vor dem Hintergrund pädagogischer und soziologischer Theoriekonzepte zu Raum und Raumkonstruktion zeigt die Autorin auf, dass sich Kindheit seit der Nachkriegszeit zunehmend institutionalisiert und pädagogisiert hat, indem Kinder immer stärker in spezifische institutionalisierte Angebote zur Betreuung und Bildung eingebunden werden. Kinder werden jedoch nicht einfach in von Erwachsenen geschaffene Institutionen eingefügt, sondern deuten und gestalten diese sozialen Räume, zu denen auch der Ganztag gehört, eigenständig. Das Handeln in spezifischen Räumen bzw. Institutionen wird einerseits durch diese bedingt, andererseits produzieren und reproduzieren die Handelnden diese Räume zugleich selbst. Bei Kindern geschieht dies insbesondere durch Spiel und Interaktion.

In Kapitel 4 stellt die Autorin das qualitativ-rekonstruktive Forschungsdesign ihrer Studie vor. In konsequenter Orientierung an kindlichen Perspektiven auf den schulischen Ganztag wurden Kinder einer Grundschule in Niedersachsen als Forschungssubjekte ausgewählt. Diese wurden mithilfe verschiedener Erhebungsinstrumente – darunter narrative Interviews, subjektive Landkarten der Kinder zu ihren Lebenswelten und ihrem Beziehungsgeflecht, eigene Fotografien der Kinder von für sie wichtigen Räumen und Plätzen sowie Feldnotizen und Beobachtungsprotokolle der Forscherin – multiperspektivisch betrachtet. Die Auswertung erfolgte im Sinne eines offenen, theoriegenerierenden Vorgehens auf Basis der Grounded Theory.

Das fünfte und umfangreichste Kapitel des Werkes präsentiert die empirischen Befunde zum Phänomen der Kinder als Akteur:innen generationaler Raumaneignung. Die Autorin arbeitet heraus, dass grundsätzlich ein generational-hierarchisches Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen besteht, das die Handlungsbedingungen sowie die Raum(re-)konstruktionen im Kontext der Ganztagsschule prägt und von Machtasymmetrien zulasten der Kinder gekennzeichnet ist. Gleichzeitig belegt die empirische Untersuchung, dass die untersuchten Kinder „Schlupflöcher in der sozialräumlich-generationalen Strukturierung“ (Beck 2025, 210) aufmerksam und sensibel wahrnehmen. Sie entwickeln Strategien, um Einschränkungen ihrer Gestaltungsmöglichkeiten proaktiv zu überwinden und eigene Akzente zu setzen. Besonders deutlich zeigt sich die aktive Rolle der Kinder in Kontexten, in denen ihnen von vornherein Handlungsoptionen eröffnet werden: Hier gestalten sie Räume eigenständig nach ihren Vorstellungen und nutzen sie aktiv im Sinne ihrer Interessen um. In diesem Zusammenhang identifiziert die Autorin insbesondere den ausgeprägten Wunsch der Kinder nach Privatheit und Rückzugsorten. So werden beispielsweise Gebüsche, Bäume und Hecken rund um das Schulgebäude von den Kindern gezielt als Sichtschutz genutzt.

Das vorletzte Kapitel beinhaltet die zusammenfassende Interpretation sowie die Diskussion der empirischen Befunde. Die Autorin hält als zentralen Befund ihrer Studie fest, dass Kinder, obgleich sie in schulischen Kontexten stark von Erwachsenen gesteuert sind, ihre Lebenswelten in die Schule einbringen und hierdurch pädagogisch-institutionelle Rahmenbedingungen beeinflussen. Zugleich sind sich die Schüler:innen der auch im Ganztag stark ausgeprägten Fokussierung von Schule auf Prüfungsleistungen und spätere Selektion bewusst, was eine subjekt- und lebensweltorientiertes Bildungsangebot im Ganztag behindert. Dieser Fokus von Ganztagsschule bedingt auch, dass sozialpädagogische Angebote, die im Gegensatz zu schulpädagogischen Angeboten niedrigschwellig zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung von Kindern beitragen können, in der Schule einer eher nachgeordnete Bedeutung haben.

Die Arbeit schließt mit Perspektiven für Politik, Schulpraxis und Forschung, die sich aus den Ergebnissen der Studie ableiten lassen. Neben der Notwendigkeit einer besseren Personalausstattung im Ganztag betont die Autorin insbesondere, dass die Politik gefordert sei, den Ganztag in der öffentlichen Wahrnehmung entsprechend seiner eigentlichen Intention zu positionieren: nämlich als Bildungsraum und nicht lediglich als Betreuungsangebot für Kinder, deren Eltern nachmittags keine Zeit haben. Die bisherige Wahrnehmung trage dazu bei, das Potenzial von Ganztagsangeboten zu marginalisieren. Für die pädagogische Praxis leitet die Autorin ab, dass Fachkräfte stärker für die aktive Rolle von Kindern in den von Erwachsenen geschaffenen Räumen sensibilisiert werden müssen – beispielsweise durch Fortbildungen. Zudem sollten Kinder insgesamt verstärkt als aktive Subjekte in Bildungsprozessen wahrgenommen werden, die wertvolle Impulse für die Optimierung schulischer Räume liefern können. Abschließend formuliert die Autorin Implikationen für die Forschung. Sie plädiert für weiterführende Studien zur Akteur:innenschaft von Kindern – auch in Einrichtungen der vorschulischen Bildung –, um diese bislang marginalisierte, aber für die Gestaltung von Bildungsprozessen essenzielle Perspektive in bildungspolitische Entscheidungen stärker einzubeziehen.

Diskussion

Anneka Beck greift mit ihrer Dissertationsschrift einen grundsätzlich naheliegenden aber dennoch in der Forschung und auch Bildungspolitik häufig vernachlässigten Aspekt auf: die Perspektive der Kinder als unmittelbar Betroffene von bildungspolitischen Reformen und zugleich ihre aktive Rolle als Gestaltende und Akteure in diesen Feldern. Durch ihre Studie setzt sie hiermit ein Zeichen, dass die Kinderperspektive auch in weiteren Studien und bildungspolitischen Entscheidungen endlich mehr Bedeutung erhalten sollte.

Der thematische Aufbau des Werkes ist klar und entspricht dem klassischen Aufbau einer empirischen Forschungsarbeit. Jedes Kapitel umfasst am Ende zudem eine kurze Zusammenfassung der zentralen Inhalte, was Leser:innen einen schnellen Überblick über das Gesamtkapitel bietet. Etwas irritierend wirkt die Darstellung der Limitation der Studie anhand einer eher quantitativen Vergleichslogik. Dieser Kritik hätte sich die Autorin mit ihrer qualitativ-rekonstruktiven Studie überhaupt nicht aussetzen müssen, hier übt sie aus Außensicht quasi zu Unrecht Kritik am eigenen Werk.

Die theoretisch-konzeptionelle Rahmung des Werks ist durchaus voraussetzungsreich, wodurch das Werk insbesondere auf Interesse von Forschenden und Lehrenden sowie Studierenden stoßen wird und diese Zielgruppe noch einmal dafür sensibilisieren wird, dass Kinder aktive ihre Umwelten (mit-)konstruieren. Der Mehrwert der Studie ist aber auch deutlich für Fachkräfte im schulischen Ganztag sowie bildungspolitische Entscheidungsträger:innen zu sehen, um auch ihnen die einflussreiche Rolle von Kindern in der Gestaltung des Ganztags zu verdeutlichen.

Mit „Kinder als Akteur*innen generationaler Raumaneignung“ legt Anneka Beck eine bedeutende qualitative Studie vor, die die aktive Rolle von Kindern in der Gestaltung schulischer Reformprozesse in den Fokus rückt. Sie zeigt auf, dass Kinder nicht nur passiv von bildungspolitischen Entscheidungen betroffen sind, sondern diese durch ihre eigenen Deutungen, Handlungen und Strategien aktiv mitgestalten.

Darüber hinaus liefert die Studie wertvolle methodologische Impulse für die Forschung mit Kindern, indem sie innovative Erhebungs- und Analyseverfahren einsetzt, die kindliche Perspektiven ernst nehmen und sichtbar machen. Besonders hervorzuheben ist die multiperspektivische Herangehensweise, die eine tiefgehende Untersuchung der Interaktion zwischen Kindern und schulischen Räumen ermöglicht.

Fazit

Das Werk leistet einen wichtigen Beitrag für die Bildungsforschung und -politik. Es regt dazu an, Ganztagsangebote an Schulen nicht nur weitergehend zu evaluieren, sondern sie gezielt an den tatsächlichen Bedürfnissen und Erfahrungen der Kinder auszurichten.

Literatur

Andresen, S. (2018): Kindheit. In: Böllert, K. (Hrsg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Springer VS, 365–379.

Beck, A. (2025): Kinder als Akteur*innen generationaler Raumaneignung. Eine qualitativ rekonstruktive Analyse zur Weiterentwicklung von Ganztagsbildung aus sozialpädagogischer Perspektive. Beltz Juventa.

Baumert J., Artelt C., Klieme E., Neubrand M., Prenzel M., Schiefele U., Schneider W., Tillmann K.-J., Weiß,. M. PISA 2000 — Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Leske u. Budrich.

Fuhrich, G., Patzel-Mattern, K., Gawlich, M. (Hrsg.): Geschichte der Kindheit im geteilten Deutschland 1949–1989. Vandenhock & Ruprecht.

Rezension von
Prof. Dr. Stephan Otto
Professor für Kindheitspädagogik
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ORCID: https://orcid.org/0000-0002-1313-8768

Es gibt 10 Rezensionen von Stephan Otto.

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ISSN 2190-9245