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Florian Elliker, Niklaus Reichle: Zukunft Cannabis

Rezensiert von Prof. Dr. Stephan Quensel, 30.06.2025

Cover Florian Elliker, Niklaus Reichle: Zukunft Cannabis ISBN 978-3-03777-309-3

Florian Elliker, Niklaus Reichle: Zukunft Cannabis. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2025. 104 Seiten. ISBN 978-3-03777-309-3. D: 12,00 EUR, A: 12,00 EUR, CH: 12,00 sFr.
Reihe: Unexplored Realities.

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Thema und Autoren

In den letzten zehn Jahren begann man in Europa das etwa 100-jährige gesetzliche Cannabisverbot – in Deutschland seit dem Opium-Gesetz von 1929 verboten – zu lockern und der Wirklichkeit der Millionen Cannabis-User anzupassen. Nachdem man schon seit den 80ger Jahren in Holland in Coffeeshops den Erwerb von 5 Gramm Cannabis pro Tag ‚duldete‘, erlaubte die Ampelregierung in Deutschland 2024 in ihrem Cannabis-Konsum-Gesetz (KCanG) den Besitz von bis zu 25 Gramm, den privaten Anbau von bis zu drei Cannabispflanzen und den nicht gewerblichen Eigenanbau in sog. Anbauvereinigungen. Offen blieb jeweils die Legalisierung des gewerblichen Anbaus: Das back-door-Problem in Holland, das dort den Schwarzmarkt beflügelte, um erst seit Ende 2023 im Rahmen eines Regierungsprojektes für ca 80 Shops den Zugang zu staatlich lizensierten Händlern zu öffnen. [1] In Deutschland erlaubte die neue CDU-SPD-Regierung zwar grundsätzlich entsprechende ‚Modell-Projekte‘ zur kontrollierten Abgabe von Cannabis, die nunmehr von der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) gem. § 2 Abs. 4 des Cannabisgesetzes (KCanG) genehmigt werden könnten. Bisher wurde jedoch keiner der gestellten 49 Anträge genehmigt. [2]

In der Schweiz, die den Hauptgegenstand dieser Schrift bildet, waren bisher lediglich Cannabisprodukte erlaubt, wenn sie weniger als ein Prozent THC enthielten. Seit einer Änderung des BetmG von 2021 werden seit 2023 gem. § 8a in 7 Regionen – unter Anleitung des Bundesgesundheitsamtes (BAG) – für zehn Jahre entsprechende wissenschaftliche Pilotversuche mit unterschiedlichen Betriebs-Systemen realisiert. [3]

Die beiden Herausgeber, Dozent und Lehrbeauftragter am Seminar für Soziologie der Universität St. Gallen, Teilnehmer eines Advisory Boards des BAG, der diese Pilotprojekte berät, betonen in ihrer Streitschrift die Notwendigkeit, bei diesen Projekten auch stärker Aspekte sozialwissenschaftlicher Grundlagenforschung zu berücksichtigen.

Aufbau und Inhalt

In einem Vorwort unterstreicht Toni Berthel, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Suchtmedizin, genüber dem dominierenden ‚pathologisierenden Blick‘ die Notwendigkeit und Chancen einer sozialwissenschaftlichen Sicht, die etwa auch ‚salutogenetische Aspekte‘ mit einbezieht: „Stärken gewisse Konsumformen jugendliche Peergroups, elterliche Ablösungsprozesse und gesellschaftliche Übergänge? In welchen settings und Gruppen gelingt ein konstruktiver Umgang mit Cannabis?“ „Fragen, die auch als Wegweiser für die Forschung zu anderen psychoaktiven Substanzen gelesen werden.“ (S. 11 f.).

Ein forschungskritisches Grundthema, das die Herausgeber in ihrer Einleitung (1. Kapitel) weiter vertiefen, indem sie zunächst die beiden dominierenden einseitigen Forschungsperspektiven der ‚Ökonomisierung und Medikalisierung‘ kritisieren: „Cannabis wird zu Zwecken der Profitmaximierung als Wirtschaftsgut oder medizinisch als Heil- oder Suchtmittel betrachtet,“ ein Blick, der sich auch im Anfrage-Interesse aus der Wirtschaft, wie in der teilweisen Forschungsfinanzierung zeige: [4] „Die Spannbreite des Beforschbaren wird im Korsett von Wirtschaft, Politik, Verwaltung und den in diesem Feld dominanten wissenschaftlichen Disziplinen und Forschungstraditionen oft zu eng.“ (S. 19). Demgegenüber müsse auch die ‚Alltags-Realität‘, die ‚Lebenswelt der Konsumierenden‘, sowie „Hanf als heimische Kultur- und Nutzpflanze, die nicht nur zu bewusstseinsverändernden Zwecken angebaut wurde und wird“ (S. 22), in den Fokus genommen werden.

Die ‚Kluft zwischen der rechtlich-institutionellen Realität und der gelebten Alltagsrealität stehe einer unvoreingenommen Forschung im Wege‘, die auf eine möglichst umfassende und facettenreiche Untersuchung des gesellschaftlichen Umgangs mit Cannabis auszurichten sei‘, „ungeachtet dessen, ob diese als legal oder illegal gerahmt wird.“ (S. 30 f.) (2. Kapitel). Zumal, wie Matías Dewey, Universität St. Gallen, (S. 34) ergänzend ausführt, „eine neue Gesetzgebung nur dann wirksam und effektiv ist, wenn sie von einem gründlichen Verständnis dieser bereits bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Situation informiert ist.“

Im dritten Kapitel wird zunächst die Entwicklung der schweizerischen Pilotprojekte mit ihrer ‚Tendenz zur Medikalisierung und problematisierenden Deutung‘ geschildert, die sich insbesondere auch in der Unterstellung unter das BAG zeige (S. 44). Henning Schmidt-Semisch, Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften der Universiät Bremen, beschreibt sodann das oben angeführte, bei der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung angesiedelte deutsche Modell mitsamt den möglichen Themenbereichen aus einem vorausgegangenen (2023) ‚Whitepaper zur Evaluation der Einführung der regulierten Cannabisvergabe an Erwachsene zu Genusszwecken in Deutschland‘ (S. 52 f.).

Caspar Hirschi, Universität St. Gallen analysiert, dem amerikanischen Politikwissenschaftler Roger Pielke (2007) folgend, die Diskussion über diese Projekte als ‚polarisierend blockierten, fundamentalen Wertekonflikt‘, der durch ‚Einbezug der Wissenschaft das Risiko einer weiteren Eskalation erhöhe‘: „Wird ein blockierter Wertekonflikt mit den Waffen der wissenschaftlichen Expertise aufmunitioniert, nimmt er Züge eines ‚Wissenskonfliktes‘ an [vor allem], wenn sie ihre Parteinahme hinter der Fassade einer vermeintlichen neutralen Wissenschaft verbergen.“ (S. 58 f.), was er am Beispiel von David Nutts Drogen-Gefährlichkeits-Skala (2007/2009) verdeutlichen will (S. 61 ff.). Sozial- und politikwissenschaftliche Expertise müsse stattdessen als Teil einer ergebnisoffenen Moderation deblockierend wirken (S. 68 f.).

In ihrem 4. Kapitel formulieren die Herausgeber „jene Bereiche, die es zu untersuchen gilt, wenn Cannabis als bewusstseinsverändernde Substanz verwendet wird.“ (S. 71). Eine breite Palette an Forschungsfeldern, „die Rückschlüsse darauf [erlauben], wie eine passende Neuregulierung von Cannabis aussehen könnte.“ (S. 72). Unter der Prämisse ‚Cannabis als Kultur-Phänomen‘ benennen sie als Untersuchungs-Felder: die Welt der Konsummotivation, die Handlungspraxis des Konsummierens, die Lebenswelt und gesellschaftliche Lage der Konsumierenden, aber auch die Art der Produktion und des Handels – „dieses Forschungsfeld ist insbesondere auch für die allfällige Ausgestaltung künftiger Regeln für einen legalen Cannabismarkt von Belang“ (S. 83) – Populärliteratur und Diskurse, Akteur:innen und Institutionen der Regelung, und, zuletzt und nur angedeutet: „Hanf als Kulturpflanze“ (S. 88, 90).

Entscheidende Kernfrage sei, so ihr Fazit im 5. Kapitel, was in der Alltagsrealität „Cannabis für die Konsumierenden und Nichtkonsumierenden eigentlich ist respektive in Zukunft sein darf “ um es „nicht auf die Bedeutung eines Medikaments oder Wirtschaftsguts zu reduzieren.“ (S. 92 f.).

Diskussion

So sehr man als Sozialwissenschaftler dem ‚Alltags-realen‘ Anliegen der Herausgeber folgen kann, so fällt doch ihr verengter Blickwinkel auf, und zwar gleichermaßen in der Kritik – Gesundheit und Ökonomie – wie in ihrem grundlegendem ‚ethnographischen‘ Ansatz, der allzuleicht – wie etwa beim Thema ‚Produktion und Handel’ – unter den gegenwärtigen Umständen (zumindest in bayerischer Sicht) ‚polizeilich‘ missraten könnte. Im Grunde fehlt mir ein ‚polit-soziologisch‘ kritischer Ansatz, der im Rahmen der Umsetzung dieser Projekte, von den Herausgebern zwar kurz benannt, besonders nahe läge: Wie, wer, was behindert, fördert diese Projekte, welches Licht werfen sie auf die unerwünscht-erwünschten sozialen Folgen unterschiedlicher ‚Politiken‘, und wie und wo wirkt sich gesellschaftlich die noch immer dominante Sicht der Drogen-‚Gefahr‘ mitsamt der ihr verbundenen Repressions-Perspektive aus. Ein Blickwinkel, der in gleicher Weise die ökologische Bedeutung des ‚Hanf als Kultur-Pflanze‘, [5] wie den von den Herausgebern betonten ‚gesellschaftlichen‘ Wert immer wieder ausblenden kann (und soll?).

Fazit

Es wäre schön, wenn diese – nicht immer ‚wohl-geordnete‘ – kleine Streitschrift bei den jetzt anlaufenden Evaluations-Projekten „als Teil einer ergebnisoffenen Moderation deblockierend wirken“ könnte.


[1] (https://www.dinafem.org/de/blog/die-niederlande-starten-in-die-letzte-phase-ihres-pilotprojekts-legaler-cannabisverkauf/ vom 22.4.2025)

[2] (https://fragdenstaat.de/anfrage/antraege-nach-ss-2-abs-4-kcang/#nachricht-1006840 vom 6.6.2025). S. auch: Mila Grün: Modellregionen in Deutschland: Aktuelle Projekte und Pläne. (https://cannabib.de/schlagzeilen/modellregionen-in-deutschland/ vom 15.1.2025)

[3] (https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/gesund-leben/sucht-und-gesundheit/cannabis/pilotprojekte.html vom 12.3.2025)

[4] Vgl. zum großen Potenzial des „Cannabis in der Schweizer Volkswirtschaft“, die im gleichen Verlag erschienene Schrift von Oliver Hoff (2022), die, ähnlich wie die Arbeiten von Justus Haucap & Leon Knoke (2021) „Fiskalische Effekte der Cannabis-Legalisierung“ untersuchte (https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2021/heft/12/beitrag/fiskalische-effekte-der-cannabis-legalisierung.html)

[5] S. dazu jüngst: Jonas Westphal: Einsatz von Nutzhanf in Deutschland. Plädoyer für eine rechtliche, ökonomische und ideologische Neubewertung. Springer 2024

Rezension von
Prof. Dr. Stephan Quensel
Jurist und Kriminologe
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Es gibt 80 Rezensionen von Stephan Quensel.

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ISSN 2190-9245