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Anja Kerle, Fabian Kessl et al. (Hrsg.): Armutsdiskurse

Rezensiert von Prof. i.R. Dr. Norbert Wohlfahrt, 28.03.2025

Anja Kerle, Fabian Kessl, Alban Knecht (Hrsg.): Armutsdiskurse. Perspektiven aus Medien, Politik und Sozialer Arbeit. transcript (Bielefeld) 2024. 208 Seiten. ISBN 978-3-8394-7118-0.
Reihe: Gesellschaft der Unterschiede - 27.

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Hintergrund

An Büchern und Berichten zum Thema Armut herrscht wahrhaftig kein Mangel. Armut wird statistisch bilanziert, sie wird skandalisiert, sie wird als unausrottbarer Tatbestand kapitalistischer Gesellschaften akzeptiert und affirmiert. Der vorliegende Band will den Armutsdiskurs nicht auf die inhaltlichen Dimensionen um das Phänomen Armut beschränken, sondern eine erweiterte Perspektive einnehmen. In Anknüpfung an diskursanalytische Verfahren sollen vorherrschende Denk- und Deutungsweisen und bestimmende Macht- und Herrschaftsstrukturen thematisiert werden, deren Legitimation in der öffentlichen Debatte nur randständig infrage gestellt wird. Hierzu versammelt der Band eine Reihe von Aufsätzen, die den Diskurs zum Thema Armut in verschiedenen Zugangsweisen thematisieren.

Aufbau und Inhalt

Der Band gliedert sich in drei zentrale Kapitel, denen jeweils verschiedene Aufsätze zugeordnet sind. Im ersten Teil des Bandes werden unter der Überschrift „Politik der Armut – Politiken der Armut“ Auseinandersetzungen zum Thema gemacht, in denen die Regulierung und Rationalisierung von gesellschaftlichen Verhältnissen in Bezug auf das Phänomen Armut diskutiert wird. Im zweiten Teil des Buches steht die Frage der Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung der Armutsbekämpfung im Zentrum der Beiträge, und im dritten Abschnitt des Bandes werden mediale Inszenierungen von Armut in den Blick genommen.

In den ersten Abschnitt einleitenden Aufsatz von Franka Schäfer geht es um die Rolle der Sozialwissenschaften in der diskursiven Herstellung von Armut. Nachdem verschiedene den Diskurs strukturierende Armutsbegriffe einleitend skizziert werden, wird an Beispielen im historischen Diskurs um Armut der Nachweis geführt, dass Armut ein „erfahrungsabhängiges Wissen vereint“, sodass Armut nicht unabhängig von diskursiver Konstruktionsleistung existiert. Dieser Tatbestand eröffnet eine kritische Sicht auf sozialpolitische Positionen, in denen – so die Autorin – Erkenntnisse und Befunde über Armut auf das Ziel der Verwaltung von Armut hin operationalisiert werden und ein ungleiches Machtverhältnis zugunsten regierungsamtlicher Kategorisierungen von Armut deutlich wird (hierfür steht das Beispiel der gesetzlich verankerten Armutsberichterstattung).

Maksim Hübenthal analysiert im Anschluss daran Kinderarmutsverständnisse in der deutschen Politik auf der Basis einer Untersuchung der Plenardebatten des Deutschen Bundestages (2009 – 2011). Sein Ergebnis ist, dass es im politischen Zugriff auf Kinderarmut nicht zwangsläufig um das Wohl der Kinder geht und er plädiert für eine sozialpädagogische Armutsforschung, die sich mit den verschiedenen Facetten der Rolle sozialpädagogischer Dienste und Einrichtungen „innerhalb der öffentlichen Regulierung des Verhältnisses von arm und reich“ auseinandersetzt.

Roland Atzmüller befasst sich mit der Frage einer Sozialpolitik von rechts als nationale Erneuerung. Aus seiner Sicht wird der in kapitalistischen Gesellschaften geforderte Arbeitsethos in rechten Diskursen nicht nur radikalisiert, sondern zum Kriterium nationaler Exklusions- und Hierarchisierungsprozesse gemacht, welche die von Armut betroffenen Menschen zum national und volksgemeinschaftlich Anderen erklären. Radikal rechte Sozialpolitikkonzepte forcieren, so seine Bilanzierung, traditionell patriarchalische Familienstrukturen und geschlechtliche Arbeitsteilungen. Die diskursive Strategie der Rechten zielt darauf ab, Sozialpolitik zum „Hebel eines nationalautoritären Umbaus von Gegenwartsgesellschaften zu machen“ (S. 63).

Alban Knecht macht in seinem Beitrag auf eine verzerrende Darstellung der Nutzung des Sozialstaats aufmerksam. Am Beispiel verschiedener Diskurse zum Missbrauch von Sozialleistungen will er zeigen, dass sich die Missbrauchsdebatte gegenüber wissenschaftlichen und rationalen Argumenten immunisiert und wissenschaftliche Untersuchungen allen gängigen Annahmen der Missbrauchsdebatte widersprechen. Seine Schlussfolgerung ist, dass diese verzerrende Darstellung die öffentliche Aufmerksamkeit für den Missbrauch von Sozialleistungen erklärt und hierin ein „struktureller Klassismus“ sich offenbart, in dem benachteiligte Bevölkerungsgruppen als „Sündenböcke dienen“.

Im zweiten Abschnitt des Bandes macht sich Fabian Kessl Gedanken zu Armutsdiskursen in den Feldern von Bildung und Erziehung. Aus seiner Sicht ist die Erbringung sozialpädagogischer und sozialarbeiterischer Leistungen wie deren Inanspruchnahme von einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von Armutsbekämpfung und Armutsreproduktion geprägt. Mit der Figur der institutionellen Armuts(re)produktion wird – so seine Schlussfolgerung – die „intersektionale Einsicht deutlich“, dass in Bezug auf Armut „sowohl herkunftsbezogene Diskriminierungslogiken und eine entsprechende Praxis wie die Logik und Praxis klassenförmiger Ausschließung zu reflektieren sind“ (hierzu existiert allerdings eine Fülle an Literatur, die außerhalb des „sozialpädagogischen Diskurses“ zu verorten ist. Entsprechende politökonomische Analysen und die sie betreffenden Diskurse werden im vorliegenden Band nur am Rande thematisiert). Fabian Kessl plädiert in seinem Beitrag für ein kritisch-reflexives Denken, für das Kategorien und Begriffe wie institutionelle Diskriminierung und institutioneller Rassismus hilfreich sind, weil sie über die Logik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse aufklären.

Anja Kerle, Jessica Prigge und Stephanie Simon berichten in ihrem Beitrag über Ambivalenzen im Sprechen über die Handlungs(un)fähgkeit armutserfahrener Kinder in Kindertageseinrichtungen. Auf der Basis einer empirischen Erhebung demonstriert der Beitrag die Verwobenheit der Armutsdeutungen mit der Positionierung von Eltern und Kindern. Ihre Befunde verweisen auf die „Ungleichheitsrelevanz von sprachlichen Markierungen“ (S. 102) und ihr Plädoyer geht dahin, den wissenschaftlichen Armutsdiskurs nicht auf die Analyse von Armutsbewältigungsunfähigkeiten zu beschränken, sondern um die Perspektiven von Kindern als Akteur*innen von Gesellschaft zu erweitern.

Alexandra Klein und Bettina Ritter haben unter der Überschrift „Die schlechten Mütter“ vergeschlechtlichte Thematisierungen von Kinderarmut zum Thema. Aus ihrer Sicht lassen sich Diskursfiguren identifizieren, in denen Klasse und Geschlecht in solcher Weise verschränkt werden, dass armutsbetroffene Eltern als „sogenannte Risikomütter“ sichtbar werden. Dieser geschlechtsspezifische Bias wird auch in der präventiven Neuausrichtung sozialer Dienste deutlich, sodass Mütter in Armutslagen in besonderem Maße in den Verdacht geraten, eine Gefahr für die Kinder darzustellen. Ihre Einsichten verweisen auf die Notwendigkeit einer Mutterschaftenforschung, die sowohl Mechanismen auf der Ebene der Interaktion von Fachkräften und Adressat*innen ín der Sozialen Arbeit als auch solche auf institutioneller Ebene der Strukturierung von Hilfen und Maßnahmen einbezieht.

Markus Griesser thematisiert Armutsdiskurse der populistisch-radikalen Rechten am Beispiel der Mindestsicherungsdebatte in Österreich. Nachdem in Form einer theoretischen Rahmung der Aufstieg von Populist*innen anhand verschiedener wohlfahrtschauvinistischer Projektionen (demonstriert am Beispiel Migration) dargestellt wird, wird auf der Basis einer Diskursanalyse dreier österreichischer Tageszeitungen die Verschränkung meritokratischer und wohlfahrtschauvinistischer Argumentationen in den Blick genommen. Die hierbei identifizierten Frames „Stopp der Zuwanderung in den Sozialstaat“ und „Gerechtigkeit für die Leistungsträger“ charakterisieren am Beispiel der Debatte um die Mindestsicherung die Unterstellung eines ungerechtfertigten Leistungsbezugs, der auf Leistungs- bzw. Arbeitsverweigerung basiert. Migration und Flucht erscheinen in dieser diskursiven Konstruktion als Bedrohung für den Wohlfahrtsstaat.

Jana Kavermann wendet sich einem „anderen Blick“ auf Armut zu. In diesem geht es nicht um Abwertung, sondern um Analysen von Armut, die dem abwertenden Blick etwas entgegensetzen. Am Beispiel der Zeitschrift „Widersprüche“, in der in verschiedenen analytischen Diskursen der Versuch unternommen wird, im Rahmen einer „zunächst objektiven Deskription von Klassenverhältnissen“ gesellschaftliche Zustände zu interpretieren, ohne eine damit einhergehende Abwertung vorzunehmen., erkennt sie einen „wertschätzenden Blick“. Soziale Arbeit wird, so Kavermann, als eine Arbeit am Sozialen verstanden, die sich über ihre politische Orientierung von der Fixierung auf das Defizitäre befreien kann. Die Betonung sozialstruktureller Vertikalität dient der Stärkung der kritischen Position, „sie ermöglicht den Klassenkampf“ (S. 143).

Mediale Inszenierungen von Armut werden in dem Buch im dritten Abschnitt näher betrachtet. Sebastian Friedrich greift dabei einleitend auf die Gammler-Debatte in Westdeutschland 1965 -1968 zurück. Er identifiziert dabei „verschiedene Diskursverschränkungen“ (Kriminalitäts- Gender – Drogendiskurs u.a.), in deren Zentrum allerdings der Diskurs um Lohnarbeit und Leistungsbereitschaft steht. Der Gammler wird nicht vor dem Hintergrund des Armutsdiskurses thematisiert, sondern durch den Leistungsdiskurs markiert.

Andreas Hirseland und Stefan Röhrer widmen ihren Aufsatz dem Thema, wie der mediale Diskurs von den Betroffenen wahrgenommen wird. Anhand von Beispielen aus der Bild-Zeitung und von Talkshowformaten wird die inszenierte Andersartigkeit der Armen deutlich gemacht (Stichwort: Sozialporno). Armutsbetroffene müssen sich – so ihre Kritik – mit einem Zerrbild ihrer selbst auseinandersetzen. Dabei wird auf der einen Seite der Integrationswillen der Betroffenen bezweifelt, auf der anderen Seite ein essenzialistisches Bild armutsbetroffener Menschen verfestigt.

Martin Schenk diskutiert Widerstände gegen Armutsmythen am Beispiel „Lebensskizzen“ und dem „Journalistenpreis von unten“. Bei letzterem bilden Armutsbetroffene die Jury. In verschiedenen Ländern wird der Versuch unternommen, „Eigensinn“ sichtbar zu machen. Diese Form „umgedrehter Medienbeobachtung“ korrespondiert mit der Ausarbeitung von Leitfäden für respektvolle Armutsberichterstattung.

Der Abschluss des Bandes ist den Stimmen der Betroffenen gewidmet. Helen Dambach und Holger Schoneville interpretieren die Stimmen der Betroffenen als „Gegenrede und Verteidigung“ gegen den moralisierenden und stigmatisierenden öffentlichen Diskurs um Armut. Die Beschreibung von Alltagserfahrungen unter den Bedingungen von Armut lassen sich – so ihre pointierte Zusammenfassung – „auch als explizite oder implizite Beschreibungen von Missachtungserfahrungen lesen“ (S. 181).

Diskussion

Der vorliegende Band ist von dem Anliegen getragen, über Armutsdiskurse den Blick auf Armut in ihren verschiedenen Dimensionen zu schärfen, andere Perspektiven auf Armut zu verdeutlichen und Forschungsdefizite insbesondere mit Blick auf sozialpädagogische und sozialarbeiterische Handlungsfelder aufzuzeigen. Ein gesellschaftskritischer Blick auf sozialpolitische und mediale Thematisierungen von Armut ist allen Beiträgen zu entnehmen. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass politökonomische und sozialstaatskritische Thematisierungen von Armut nicht im Zentrum der Zugangsweise des Bandes liegen, wäre eine analytische Klärung, was die Beiträger*innen eigentlich unter Armut verstehen, wünschenswert gewesen. So wird nicht immer deutlich, was den Diskurs um Prekarität von dem um Armut eigentlich unterscheidet. Der Verweis darauf, dass Armut nicht nur materielle, sondern auch sozial-kulturelle Dimensionen aufweist, hilft da nicht viel weiter. Die Abhängigkeit des Ausmaßes und der Intensität der Armut von Arbeits- und anderen Märkten wirkt sich ja, das kann man den Armutsdebatten der vergangenen Jahrzehnte entnehmen, in nicht zu unterschätzendem Maße auch auf Armutsdiskurse aus.

Auch wenn einige Beiträger*innen des Bandes vor einem moralisierenden Blick auf Armut warnen – es bleibt die Frage, was jenseits einer moralischen Betrachtung von Armut (vor der zu Recht gewarnt wird) ein kritisch-analytischer Blick auf Armut in kapitalistischen Gesellschaften (der diese nicht einfach als quasi-natürlichen Tatbestand registriert), an Schlussfolgerungen zu bieten hat. Das Spektrum der in dem Band sichtbar werdenden Konsequenzen reicht von (gegen-)medialer Skandalisierung, der Notwendigkeit gesellschaftlicher Mobilisierung bis hin zur Forderung nach mehr Forschung. Eine zusammenfassende Gesamtbetrachtung am Schluss des Bandes wäre wünschenswert gewesen.

Fazit

Der Band „Armutsdiskurse“ greift ein wichtiges Thema auf und stellt gängige Sichtweisen auf Armut und ihre Thematisierung infrage. Er liefert dabei eine Reihe empirischer und theoretischer Analysen, die selektive Zugangsweisen zu dem Thema deutlich machen und auf Alternativen aufmerksam machen. Den Herausgebern ist ein lesenswerter und die Armutsdiskussion bereichernder Sammelband gelungen, der zeigt, was das 'Reden über Armut' für Implikationen haben kann. Seine Lektüre ist deshalb in jeder Hinsicht zu empfehlen.

Rezension von
Prof. i.R. Dr. Norbert Wohlfahrt
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Es gibt 48 Rezensionen von Norbert Wohlfahrt.

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ISSN 2190-9245