Thomas Piketty, Michael Sandel: Die Kämpfe der Zukunft
Rezensiert von Peter Flick, 26.02.2025

Thomas Piketty, Michael Sandel: Die Kämpfe der Zukunft. Gleichheit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert. Verlag C.H. Beck (München) 2025. 158 Seiten. ISBN 978-3-406-83247-5. 20,00 EUR.
Thema
Über die politischen Folgen der wachsenden sozialen Ungleichheit in den USA und Europa diskutieren der US-amerikanische Philosoph Michael J. Sandel und der in Paris lehrende Ökonom Thomas Piketty.
Interessant wird der Diskurs immer dann, wenn er, allen Übereinstimmungen im egalitären Freiheitsbegriff zum Trotz, unterschiedliche strategische Perspektiven einer demokratischen Linken erkennen lässt. Um diese Differenzen zu verdeutlichen:
- Thomas Piketty priorisiert die Fragen der Steuergerechtigkeit und der Wirtschaftspolitik (also Inflation, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot),
- Michael J. Sandel rät der demokratischen Linken hingegen, stärker auf eine Reformpolitik zu setzen, die die liberalkonservative bürgerliche Mitte nicht mit Forderungen nach mehr Verteilungsgerechtigkeit verschreckt, sondern an ihre republikanische Gemeinwohlorientierung appelliert.
Autoren und Werk
Wer mit dem Werk beider Autoren vertraut ist, darf nicht mit großen Überraschungen rechnen. Die Problembeschreibungen und Lösungsvorschläge des an der Pariser School of Economics lehrenden Thomas Piketty zu einer Begrenzung der Macht der Finanzmärkte liegen schon länger auf dem Tisch („Das Kapital im 21. Jahrhundert“, 2010; „Eine kurze Geschichte der Gleichheit“, 2024).
Auch der an der Harvard University lehrende Philosoph Michael J. Sandel hat seine Überlegungen zum Thema Gleichheit in vielbeachteten Werken dargelegt (zuletzt in seinem Buch „Vom Ende des Gemeinwohls“, 2020). Darin hat er ein kommunitaristisches Konzept des „guten Lebens“ vertreten, das sich scharf vom individualistischen Ansatz einer neoliberalen und libertären Richtung der politischen Philosophie abgrenzt.
Aufbau und Inhalt
Die Diskussion der verschiedenen Aspekte der Ungleichheit sind in 9 Kapitel gegliedert.
1 Weshalb muss uns Ungleichheit Sorgen bereiten? (7 ff.)
Der Diskurs beginnt mit der Frage Sandels, ob die „Sorge um die wachsende Ungleichheit“ übertrieben sei; er spielt darauf an, dass es dabei nicht nur um die ökonomische Seite des Problems gehe, dass „in Europa die reichsten 10 Prozent mehr als ein Drittel allen Einkommens und die reichsten 10 Prozent mehr als die Hälfte allen Vermögens auf sich vereinen“ (9), sondern vor allem um die damit verbundene Dimension sozialer Anerkennung.
Piketty stimmt mit ihm darin überein, dass die Frage der Gerechtigkeit nicht nur auf den materiellen Aspekt reduziert werden dürfe. In einem längeren strukturgeschichtlichen Exkurs verweist er darauf, dass es in dieser Hinsicht in den vergangenen Jahrhunderten nach langen sozialen Kämpfen doch gelungen sei, eine Tendenz zu mehr Gleichheit in der westlichen Moderne durchzusetzen. Gerade sie aber sei gegenwärtig wieder im Rückschritt begriffen. Das betrifft zum einen die Chancengerechtigkeit und den Zugang aller zum Bildungssystem, aber auch das fortbestehende ökonomische „Nord-Süd-Gefälle“ (15). Nur ein auf transnationaler Ebene neu zu definierendes sozialdemokratisches Reformprojekt sei in der Lage, der globalen Tendenz zu mehr Gleichheit wieder soziale Geltung zu verhelfen.
2 Sollte Geld weniger wichtig sein? (19 ff.).
Auch wenn Geld bzw. die Höhe des Einkommens „nicht alles“ sei, sondern Wertschätzung und Anerkennung wichtig blieben, der vielbeschworene „Respekt“ vor der Arbeit wird auch in den Augen Sandels gerade in Sozialberufen leicht zur Phrase, wenn sich Wertschätzung nicht in einer auskömmlichen Entlohnung und Rente widerspiegelt. Sandel und Piketty betonen die Bedeutung der Entlohnung, aber auch der Chancengerechtigkeit, die durch einen allgemeinen Zugang zu den Grundgütern wie Gesundheit und Bildung garantiert werden muss. Voraussetzung dafür sei allerdings ein funktionierendes „progressives Steuersystem“ (Piketty, 29 f.).
3 Die moralischen Grenzen des Marktes (33 ff.)
Sandel und Piketty teilen die Sorge über eine wachsende Marktorientierung, die alle Lebensbereiche durchdringt. Vor allem im US-Bildungssystem hat sich nach Sandels Auffassung eine Haltung etabliert, die jeden Sinn für den „Eigenwert des Lehrens und Lernens“ (36) vermissen lässt. Die Tendenz zur Monetarisierung von sozialen Grundgütern wie Gesundheit und Bildung sei die Folge eines „schwachen Staat“, meint Piketty, und eines von den Neoliberalen vorangetriebenen Projekts zur Schwächung und Unterminierung des Sozialstaats (46 ff.).
4 Globalisierung und Populismus (49 ff.)
In diesem Teil des Gesprächs kritisiert Piketty einen verwaschenen Begriff von Populismus, wie er auch von Sendel gebraucht werde, wenn er den angeblich linken Populismus von US-Demokraten wie Bernie Sanders und Elizabeth Warren mit dem rechten Populismus der US-Republikaner gleichsetzt (vgl.55 f.).
5 Meritokratie (67 ff.)
„Den Aufstieg durch Leistung kann jeder schaffen“ – diese verbreitete Version des meritokratischen Prinzips macht für das Problem der Ungleichheit seine Kritiker verantwortlich, die nicht akzeptieren wollen, dass in einer freien Marktgesellschaft die wachsenden Diskrepanzen der Einkommen und Vermögen allein auf die erbrachte Leistung der Einzelnen zurückzuführen seien (vgl.71 ff.). Je größer die soziale Ungleichheit, umso größer die Angst des Bürgertums vor dem sozialen Absturz und dementsprechend die Erhöhung ihres monetären Einsatzes, der darauf abzielt, die eigenen Kinder im Bildungssystem gut zu platzieren. Im meritokratischen Denken wird „der Gewinner gefeiert“ und „der Verlierer an den Pranger gestellt“ (Piketty,75). Sandel und Piketty sehen beide die Bedrohung, die aus dem meritokratischen Prinzip für die Demokratie erwächst, wenn zum Schutz von Privilegien die Spielregeln der Demokratie verändert werden.
6 Lotterien: Sollten sie bei der Hochschulzulassung und der Bestellung von Abgeordneten eine Rolle spielen? (81 ff.)
Bekanntlich erfolgt in den USA der Zugang zu einem der begehrten Colleges durch alles andere als objektive Auswahltests. Um die Hochschulzulassung an den sog. Elitehochschulen zu demokratisieren, stellt Sandel einen Lotterievorschlag zur Diskussion. Eine bestimmte Anzahl der Studienplätze soll in Form einer Lotterie aus einem Pool gleich qualifizierter Studienbewerber ausgelost werden, um auf diese Weise mehr Fairness bei der sozialen Zusammensetzung herzustellen (83 ff.). Piketty verweist noch ergänzend auf andere Vorschläge zur „Veränderung der Klassenstruktur der Eliteuniversitäten“ (88 ), wie die von Daniel Markovits (vgl. 86 f.), und verweist auch bei der Auswahl von Abgeordneten auf Verfahren, die eine bestimmte Quote an Sitzen für Personen ohne einen akademischen Abschluss reservieren könnten(89 ff.)
7 Besteuerung, Solidarität, Gemeinschaft (99 ff.)
Wenn es um Fragen der Wiederherstellung einer progressiven Besteuerung der hohen Einkommen und Vermögen geht, setzen die Gesprächspartner unterschiedliche Akzente. Sandel appelliert an „die starken Gefühle“ eines republikanischen Patriotismus, um so für die Akzeptanz erhöhter Steuerlasten zu werben. Dabei grenzt er sein Konzept des „guten Lebens“ und einer solidarischen Gemeinschaft von den Gerechtigkeitsprinzipien eines John Rawls ab (107 ff.). Piketty insistiert auf mehr Konfliktbereitschaft und die Bereitschaft zu „Steuerprogression und den Abbau von Lohngefällen“ (111).
8 Grenzen, Migration, Klimawandel (113 ff.)
Was die Migrationspolitik und internationale Klimaabkommen angeht, stellt sich Sandel die Frage, ob sie als „transnationale Formen der Umverteilung“ (115) und einer „Teilung von Ressourcen“ (115) ohne ein Fundament in lokalen und nationalen Identitäten durchsetzbar seien. Piketty antwortet mit dem Hinweis auf schon existierende Ansätze einer „transnationalen Demokratie und transnationaler Gerechtigkeit“ (116), die von den „Mitte-links-Regierungen“ in der vergangenen Jahrzehnten allerdings zugunsten eines liberalen Globalismus vernachlässigt worden seien (116 ff.). Er erneuert seine Forderungen nach einer „globalen Steuer für die reichsten Milliardäre und multinationalen Unternehmen“, die „direkt an Länder im Süden fließen“ (131) sollte.
9 Die Zukunft der Linken: Identität und Wirtschaft (137 ff.)
Der Schlussteil befasst sich mit der Frage, was die demokratische Linke in Europa und den USA dem wachsenden Einfluss eines rechten Autoritarismus entgegensetzen will. Wenig, meint Piketty, wenn sie in der sich ausbreitenden Hysterie über unkontrollierte „Migrationsströmen nach Europa“ (135 f.) damit beginnt, mit einer autoritären Rechten über einfache Lösungen zu wetteifern. Während Sandel eine linke Identitätspolitik befürwortet, die „die machtvollsten politischen Gefühle wie Patriotismus, Gemeinschaft und Zugehörigkeit“ (139) anspricht, um der Rechten dieses Feld nicht allein zu überlassen, hält Piketty das für wenig aussichtsreich, da auf dem Feld der Identitätspolitik eine autoritäre Rechte einfach „überzeugender“ wirke (141).
Stattdessen sollten sich die Mitte-Links-Parteien besser auf wirtschaftliche Themen konzentrieren, die den Menschen in den abgehängten ländlichen Räumen und in den vom globalen Wettbewerb bedrohten Industriesektoren auf den Nägeln brennen. Hier hätte eine demokratische Linke die Aufgabe, Stimmen ehemals linker Wähler:innen zurückzugewinnen, die zuletzt für Trumps und Le Pen votiert haben.
Diskussion
Auch wenn die Themen im Laufe eines solchen Gesprächs nur angerissen werden und sich das Gespräch teilweise, wie beim Thema Bildung, zu sehr auf die US-amerikanischen Verhältnisse bezieht (zur deutschen Diskussion: Tim Engartner: Raus aus der Bildungsfalle, 2024), so wird die Kritik der meritokratischen Ideologie doch prägnant herausgearbeitet.
Die Einsicht, dass die immer weiter wachsenden Lohn- und Vermögensunterschiede und die politische Dominanz einer Finanzoligarchie zusammen mit der Monopolisierung von Medienmacht zu einer Gefahr für die Demokratie geworden ist, wird durch das Agieren der Trump-Regierung überdeutlich. Auch wenn, verglichen mit den USA, in Deutschland momentan vielleicht weniger Anlass zur Sorge um die Demokratie bestehen mag, die Zeichen einer demokratischen Regression sind auch in Deutschland unübersehbar (vgl. Peter Niesen (Hrsg.): Zur Diagnose demokratischer Regression, 2023).
Fazit
Eine demokratische Linke, so das Ergebnis, sollte wieder lernen, die materiellen Fragen der Gerechtigkeit offensiv zu vertreten. Nur die Durchsetzung eines mit der Einkommenshöhe steigenden Steuersatzes und eine Besteuerung der Vermögenden kann nach Piketty die finanziellen Mittel freisetzen, um die notwendige Sanierung der staatlichen Infrastruktur, Investitionen in vernachlässigte Wirtschaftsräumen und in Bildungssysteme in Angriff zu nehmen. Sandel setzt hingegen stärker auf die politische Teilhabe und die „patriotische Pflicht“ der Bessergestellten, etwas zum Gemeinwohl ihres Landes beizutragen.
Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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