Gerhard Stapelfeldt: Warum Krieg? - Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und das Ende der Globalisierung
Rezensiert von Prof. Dr. Björn Oellers, 28.02.2025

Gerhard Stapelfeldt: Warum Krieg? - Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und das Ende der Globalisierung.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2024.
789 Seiten.
ISBN 978-3-339-14226-9.
D: 149,80 EUR,
A: 154,00 EUR.
Schriftenreihe Kritik und Reflexion - Band 25.
Thema
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine dauert seit drei Jahren und ein Ende ist nicht abzusehen. Von den in Deutschland lebenden Menschen, die vor Krieg flüchten, kommen derzeit mehr als 1,2 Millionen allein aus der Ukraine. Die Unterstützung dieser Menschen ist eine Aufgabe der Sozialen Arbeit wie auch der Kinder- und Jugendhilfe und stellt vielfache Anforderungen, von der Sprachvermittlung bis zu psychosozialen Angeboten. Jedoch ist es nicht nur in sozialer, sondern auch in politisch-ökonomischer Hinsicht wichtig, die Entstehung dieses Krieges zu verstehen, der nicht nur die Gefahr der Eskalation zum Atomkrieg birgt, sondern auch eine epochenhafte Veränderung der globalen Verhältnisse markiert.
Dieser Aufgabe widmet sich Gerhard Stapelfeldt. Der Titel des Buches gibt den Zusammenhang und den Kontext des Themas an. Es gilt, den Krieg Russlands gegen die Ukraine aus dem historischen Kontext zu erklären, aus der gesellschaftlichen Entwicklung. Der Kontext ist, nach dem Ende des Systemgegensatzes 1989/91, die Epoche der Globalisierung, d.h. der ab den 1970er Jahren von westlichen Industrienationen ausgehenden Entwicklung des Neoliberalismus zum globalen Dogmensystem. Zu den Grundlagen des Neoliberalismus gehört die Logik des Krieges. Der Krieg ist in der neoliberalen Lehre nur scheinbar pazifiziert als Wettbewerbskampf, denn diese Lehre kennt im Wettbewerb nur Gewinner und Verlierer, d.h. Sieg oder Niederlage. So lautet eine zentrale These des Buches, dass „die Globalisierung des Neoliberalismus (…) den Kalten Krieg radikalisiert“ (S. 361). Dargestellt wird, dass in der Zeit nach 1989/91 keine Friedensordnung existiert, sondern dass der den Systemgegensatz bestimmende Kalte Krieg in veränderter Form fortdauert. Dargelegt wird, dass „die Globalisierung mit ihrer Selbstzerstörung schwanger“ geht (S. 420).
Autor
Prof. Dr. Gerhard Stapelfeldt ist Gesellschaftstheoretiker und Soziologe und lehrte bis 2009 am Institut für Soziologie der Universität Hamburg. Er hat ein umfangreiches Werk zu soziologischen Themen, zu Philosophie und zur Kritik der Politischen Ökonomie veröffentlicht. Zu seinen Publikationen gehören Schriften über kapitalistische Weltökonomie und Neoliberalismus sowie Studien zu Dialektik.
Entstehungshintergrund
Der Anlass des vorliegenden Buches ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Es ist der Versuch, die Entstehung dieses Krieges aus gesellschaftskritischer Perspektive zu erklären. Das Programm lautet: „Der Krieg ist aus den Strukturen einer Weltgesellschaft des globalen Unfriedens aufzuklären“ (S. 735), als ein „verdeckter Weltkrieg“ (S. 747).
Aufbau
Der Aufbau des Buches beginnt mit den aktuellen Ereignissen und theoretischer Reflexion. Eine tagebuchartige Skizze des Kriegsbeginns und der folgenden Wochen und Reaktionen (Kap. I) sowie Überlegungen über den Unterschied zwischen informierter und aufklärender Erinnerung (Kap. II) bilden die Einleitung ins Thema. Es folgt ein chronologisch aufgebauter Hauptteil (Kap. III – VI) mit eingehender Kritik zeitlicher Abschnitte: Entstehung (1945 – 1971/81, Kap. III) und Transformation (1971/81 – 1990, Kap. IV) des Kalten Krieges, Vollendung (1990 – 2021, Kap. V) und Selbstzerstörung (2022 ff., Kap. VI) der Globalisierung. Im Epilog (Kap. VII) wird die im Titel genannte und in der Einleitung entwickelte und reflektierte Frage „Warum Krieg?“aufgegriffen.
Inhalt
In der Zeit nach 1945 stehen im Ost-West-Konflikt zwei Systeme einander gegenüber. Diese repräsentieren zwar gegensätzliche Organisationsprinzipien (Staatskapitalismus und Staatssozialismus), bilden aber eine „Einheit im Gegensatz“ (S. 332). Denn beide Seiten folgen einer instrumentellen Rationalität und sind per Feindbild aufeinander bezogen.
Der Gegensatz der einander entsprechenden Systeme kommt mit den Ereignissen um 1989/91 zu einem vermeintlichen Ende. Der zuvor, im Kalten Krieg, existente latente und offene Kriegszustand verschwindet jedoch nicht, sondern existiert in neuer Form fort. Dies belegen zahlreiche Kriege, die in der Zeit zwischen 1990 und 2022 geführt werden, u.a. in Kuwait, in Ruanda, in Eritrea, auf dem Balkan, in Tschetschenien, in Aserbaidschan, im Kongo, im Tschad, in Afghanistan, im Jemen, in der Ukraine.
In die Zeit nach 1989/91 fällt auch die Entwicklung des neoliberalen Kapitalismus zur weltumspannenden Ordnung. Der Neoliberalismus ist eine auf Dogmen beruhende Gesellschaftslehre. Diese Lehre behauptet, dass die Gesellschaft nicht erkennbar ist, und sie fordert, dass alle sich der Wettbewerbsordnung als übergreifendem Prinzip anpassen und unterordnen. Sie beinhaltet damit, wie der Autor anhand der Schriften von F. A. von Hayek, einem der führenden Autoren des Neoliberalismus, ausführt, die Einteilung der Menschen in Gewinner und Verlierer, in Überlegene und Unterlegene, in Sieger und Besiegte. Diese Sichtweise und Logik werden nach 1989/91 global bestimmend. Globalisierung meint folglich „die Verallgemeinerung des Neoliberalismus zur Weltform“ (S. 459).
Die Phase der Globalisierung kommt, wie der Titel des Buches angibt, zu einem Ende, indem die Konsequenzen des globalen Neoliberalismus hervortreten. Es entsteht ein globaler Kriegszustand, der nicht mehr durch zwei Systeme (Westen gegen Osten, Staatskapitalismus gegen Staatssozialismus) strukturiert ist, sondern durch ein multipolares Gegeneinander, das, wie zuvor, auch mit militärischen Mitteln ausgefochten wird. Hinzu kommt, dass Russland aus dem Kalten Krieg als Verlierer hervor geht, jedoch über ein erhebliches Potenzial an Atomwaffen verfügt und nun als Aggressor in der neuen Weltordnung auftritt.
Aus der autoritären Tradition Russlands resultiert das völkisch-nationalistische Auftreten des russischen Präsidenten. Aus diesen Gründen ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine zum einen Ausdruck und Konsequenz der globalen Verhältnisse, der als Globalisierung auftretenden Entwicklung des Neoliberalismus zur Weltstruktur. Aus diesen Gründen ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine zum anderen nicht durch ökonomische Sanktionen lösbar. Sie treffen nicht den Grund des Krieges, „weil der Angriff nicht aus ökonomisch-rationalen, sondern aus völkisch-irrationalen Gründen erfolgte“ (S. 605).
Aus diesen Gründen erhellt zudem, warum dieser Krieg, wie ebenfalls im Titel formuliert ist, ein Vernichtungskrieg ist: Die Aggressionen werden auf den äußeren Feind gerichtet, am äußeren Feind muss die Möglichkeit einer inneren Entwicklung zu Demokratie und Freiheit unterdrückt werden. Um diese Möglichkeit ganz zu verunmöglichen, muss sie aus der Welt geschafft, muss sie vernichtet werden.
Diskussion
Das Buch ist mehrerlei in eins. Zum einen ist es der Versuch einer Erklärung des Ukrainekriegs durch Aufklärung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Krieg hervorbringen. Hierzu ist die umfangreiche Darstellung der politisch-ökonomischen Geschichte der letzten Jahrzehnte nötig. Es ist zudem eine Gesellschaftskritik, eine Kritik der gesellschaftlichen Veränderungen der Globalisierung, verstanden als Entwicklung des Neoliberalismus zum weltumfassenden Dogmensystem. Es ist darüber hinaus eine Kritik des Rechtspopulismus und des zunehmenden völkischen Denkens. Letztere werden als Phänomen der Logik von Freund und Feind erkennbar, die sich global durchsetzt.
Die Darstellungsform des Buches ist zirkelhaft. Zahlreiche Formulierungen sind vermeintlich redundant, doch sie kehren in verschiedenen Erklärungskonstellationen wieder und erlangen damit verschiedene Bedeutungen. Dadurch wird der Autor dem Anspruch gerecht, der aus der Thematik resultiert. Die Erklärung der Entstehung des Krieges Russlands gegen die Ukraine geschieht in Verbindung mit der Aufklärung der Strukturen der Weltgesellschaft. Die den Titel leitende Frage Warum Krieg? zeigt an, dass es darum geht, den Weg zu einem Weltzustand des Friedens zu ermöglichen. Das Buch ist mithin ein Dokument einer Kritik der Weltgesellschaft, in dem die Kritik der Verhältnisse und die begründete Hoffnung auf einen „ewigen Frieden“ (Kant) zusammengehen.
Fazit
Gerhard Stapelfeldt erklärt, wie der Titel angibt, den Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine als das Ende der Globalisierung. Dargestellt wird, dass dieser Krieg eine Konsequenz aus der Gewaltgeschichte der Weltgesellschaft ist und die Phase eines globalen Kriegszustands einleitet. Diese Kritik ist ernüchternd und versucht doch, der Hoffnung auf Frieden einen Grund zu geben.
Rezension von
Prof. Dr. Björn Oellers
Professor für Soziale Arbeit, IU Duales Studium, Campus Hamburg
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