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Wolfgang Benz: Exil

Rezensiert von Peter Flick, 15.04.2025

Cover Wolfgang Benz: Exil ISBN 978-3-406-82933-8

Wolfgang Benz: Exil. Geschichte einer Vertreibung 1933-1945. Verlag C.H. Beck (München) 2025. 407 Seiten. ISBN 978-3-406-82933-8. 34,00 EUR.

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Thema

„Die Geschichte des Exils ist zuerst die Geschichte einzelner Menschen“, stellt der Autor im Vorwort fest. Im Mittelpunkt seines Buchs stehen darum nicht die repräsentativen Figuren des deutschen Exils, wie Thomas Mann und Albert Einstein, sondern das Schicksal der „gewöhnlichen Menschen“, die von Hitler zur Flucht gezwungen wurden.

In ihrer Mehrheit waren das die aus Deutschland vertriebene Juden, für die das Exil neben dem Verlust ihrer Heimat auch die Vernichtung ihrer bisherigen Existenzgrundlagen bedeutete. Ohne auf das Niveau einer bloß anekdotischen Geschichtsbetrachtung abzusinken, vermitteln die zahlreichen biographischer Exkurse ein anschauliches Gesamtbild der Exilschicksale in der Zeit des Dritten Reichs, weil sie von Wolfgang Benz in den historischen Kontext einer sich radikalisierenden NS-Vertreibungspolitik und rigiden Abschottungspolitik der Einwanderungsländer eingeordnet werden.

Autor und Entstehungshintergrund

Wolfgang Benz, geboren 1941, war von 1969 bis 1990 Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in München und leitete dann von 1990 bis März 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin.

Das Buch „Exil“ basiert auf den jahrzehntelangen Forschungen des Autors zum Thema Nationalsozialismus. Mit seiner Kritik an der politischen Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs und seinem Verweis auf strukturelle Analogien zwischen dem Judenhass des 20. Jahrhunderts und heutigen Formen der Islamophobie hat sich Benz allerdings nicht nur Freunde gemacht (vgl. dazu den Sammelband „Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen“, Berlin 2020 und sein zuletzt erschienenes Buch „Zukunft der Erinnerung“, Stuttgart 2025).

Aufbau und Inhalt

Das Vorwort (9 ff.) stellt fest, dass mit einer „anschwellenden Zuwanderung“ die noch den Vätern und Müttern des Grundgesetzes präsente „Erinnerung an die Flucht deutscher Bürger vor Hitler (.) und an die zwölf Millionen deutscher Menschen, die anschließend als Folge der nationalsozialistischen Politik ihre Heimat verloren“ (12) immer mehr schwindet. Nur so sei es zu erklären, dass es die AfD heute wagt, offen die „Remigration“ deutscher Staatsbürger und der hier lebender Migranten zu propagieren (vgl.12).

1. Politische Emigration im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik (15ff)

Der Autor erinnert daran, dass der „Exodus kritischer Geister und politischer Außenseiter nicht erst mit dem Machterhalt Hitlers“ (37) begonnen hat. Er verweist auf eine Diskriminierungs- und Vertreibungspraxis im spätwilhelminischen Kaiserreich, die sich gegen die „inneren Reichsfeinde“, Sozialisten, jüdische und linksliberale Intellektuelle, richtete und sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg in einem radikalen politischen Antisemitismus fortsetzt. Benz beschreibt die wenig bekannten Fälle des Krupp-Direktors Wilhelm Muehlon (17 f.), des Juristen und Schriftstellers Richard Grelling (19 f.) und des Mediziners Georg Friedrich Nicolai (23f), deren berufliche Laufbahnen durch eine regierungskritische Haltung zerstört wurde.

2. Flucht vor der «nationalen Revolution» (39 ff.)

In Kapitel 2 geht um die der Flucht der politisch exponierten Nazigegner, der Künstler und Intellektuellen, die im Frühjahr und Sommer 1933 (40 f.) begonnen hat und sich dann in weiteren Emigrationswellen fortgesetzten, die auf die Niederschlagung des österreichischen Arbeiteraufstands 1934, der Saar-Abstimmung 1935 und dem Anschluss Österreichs 1938 (40) erfolgt sind. Das Kapitel über das „Exil als tödliche Falle“ (52 ff.) zeigt auf, dass die Verfolgung auch im politischen Exil nicht Halt machte (der Fall Berthold Jacoby, der 1941 in Lissabon auf offener Straße von Gestapoagenten entführt wurde, ). Das Schlusskapitel berichtet über den alltäglichen Existenzkampf des Emigranten am Beispiel des Architekturtheoretikers Walter Hegemann (60 ff.).

3. Vertreibung durch Diskriminierung. Jüdische Auswanderung 1933–1938 (67 ff.)

Das Kapitel beschreibt die Etappen der nationalsozialistischen „Judenpolitik“ bis zu den Novemberpogromen von 1938 (67 ff.). Es erklärt die Gründe für die anfängliche „Illusion jüdischer Selbstbehauptung“ (72 ff.) und das verständliche Zögern vieler deutscher Juden beim „schweren Entschluss zur Auswanderung“ (76 ff.). Ein „Kurswechsel“ erfolgte „nach den Nürnberger Gesetzen“ (78 ff.). Die im Oktober 1938 stattfindende „Deportation von Ostjuden“ (86 ff.) und die sog. „Reichskristallnacht“ (888 ff.) stellten eine weitere Zäsur dar. Die Porträts von Hertha Neuhoff (92 ff.) und Ernst Loewy (vgl. 101 ff.), zweier „Aktivisten“ der zionistisch inspirierten jüdische Auswanderung, machen die Spannungen innerhalb des Zionismus deutlich.

4. Orte des Exils (107 ff.)

Um eine Ahnung über die weltweite Zerstreuung zu vermitteln, beschränkt sich das Kapitel auf ausgewählte Beispiele. Es beginnt mit „Saarbrücken“ (im bis 1935 noch autonomen Saargebiet), „Wien und Amsterdam“ (107ff); es folgen als weitere Fluchtorte die „Schweiz“ (110 ff.), „Prag und Brünn“ (115 ff.), „Paris und Marseille“ (123 ff.), „Mexiko“ (135 ff.), „London“ (143 ff.), „Moskau“ (147 ff.), „New York“ (153 ff.), „Ibibobo und Buenos Aires“ (168 ff.) „Shanghai“ (174 ff.) und „Sydney und Melbourne“ (190 ff.).

5. Kindertransporte (201 ff.)

Das Kapitel informiert über landwirtschaftliche und handwerkliche Ausbildungsprojekte für auswanderungswillige jüdische Jugendliche („Vorbereitung auf Erez Israel. Die Jugend-Alijah“, 201), über den geglückten Transfer eines Frankfurter Waisenhauses nach Palästina (203 f.) und den „Umzug“ eines Erziehungsheims ins britische Waddesdon (207 ff.). Es folgen Darstellungen der „Kindertransporte nach Großbritannien“ 1938/39 (209 ff.) und eines gescheiterten Rettungsversuchs jüdischer Kinder („Tragödie in Annemasse“, 223 ff.). In „Corporal Gene O’Brian“ (218 ff.), „Fred Jordans Karriere: Zionist in Wien, Metalldreherin London, Verleger in New York“ (221 ff.) und „Recha Freier, die streitbare Retterin“ (228 ff.) zeichnet der Autor drei eindrucksvolle Porträts von Exilanten bzw. Helferinnen und Helfern der „Jugend-Alijah“.

6. Alijah Bet. Verbotene Wege nach Palästina (235 ff.)

Alijah Bet war das zionistische Codewort für die illegale jüdische Einwanderung in das britische Mandatsgebiet Palästina, um die strikte Quotenregelung der Briten zu umgehen. In den Kapiteln „Unerreichbares «Gelobtes Land»“(236 ff.), „Sonder-Hachschara“ (238 ff.) und „Gestrandet in Kladovo“ (246 ff.) schildert der Autor die Geschichte verschiedener illegaler Einwanderungsversuche, die häufig ihr Ziel nur auf Umwegen erreichten, wenn sie nicht, wie im Fall des Kladovo-Transports, zum Scheitern verurteilt waren. Auch das Kapitel „Der lange Weg nach Israel“ (250 ff.), das den Lebensbericht des Münchner Druckers Alfred Heller behandelt, hinterlässt trotz seines glücklichen Endes einen bitteren Nachgeschmack, was die Schikanen der britischen Behörden angeht. Die „Irrfahrt der «Exodus»“.(60 ff.) wurde später zum Symbol dieser Hartherzigkeit.

7. Fiktion und Realität: Literatur im Exil (263 ff.)

Das Kapitel befasst sich mit „Themen und Karrieren“ (265ff) der deutschen Exilliteratur und der Situation der untereinander zerstrittenen politischen Gruppen des Exils. Dabei fällt der Blick auf den Moskauer Schriftstellerkongress im Jahr 1934 (270 ff.), der deutlich macht, wie Teile der linksliberale Schriftsteller den propagandistischen Sirenengesängen Stalins erlegen sind (einen gewissen Höhepunkt stellt dabei der Reisebericht des weltweit geachteten Romanciers Lion Feuchtwanger dar, vgl. „Audienz bei Stalin“, 281 ff.).

Eigene Abschnitte sind dem Roman „Das siebte Kreuz“ als dem erfolgreichsten deutschen Roman der Exilzeit und seiner Autorin Anna Seghers (284 ff.) und der lange Zeit vergessenen Grete Weil und ihrem Roman „Der Weg zur Grenze“ (289 ff.) gewidmet; der letztere ist ein Buch, das inzwischen, neben dem Werk Seghers und Oskar Maria Grafs „Flucht ins Mittelmäßige“, zu den Klassikern der deutschen Exilliteratur gezählt wird.

8. Rückkehr aus dem Exil (293 ff.)

Der heute manchmal zur Schau getragene Stolz auf die deutsche Erinnerungskultur verkenne, so Benz, „die Realität der ersten Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches vollständig“ (327). Von Empathie für die zurückkehrende Juden konnte damals in beiden deutschen Staaten keine Rede sein (vgl. „Juden und andere Emigranten unerwünscht“, 327 ff.). Im Kapitel „Willkommen bei richtiger Gesinnung“ (300 ff.) fällt ein kritischer Blick auf Behandlung von Remigranten in der DDR, die im Sinne der Partei keine staatstragende Gesinnung an den Tag legten oder, wo sie es taten, doch, wie das Porträt der jüdischen Kommunistin Lilli Segal (314 ff.) nahelegt, ihren Preis dafür zahlen mussten.

9. Wann endet das Exil? (343 ff.)

Das Exil endet gewöhnlich im Ankommen in der neuen Gesellschaft des Gastlands (was sich über Generationen erstreckt) oder in der Rückkehr ins Ursprungsland (vgl. 354). Manchmal aber will das Exil nicht enden und verfestigt sich zum dauerhaften „Dasein in der Diaspora“ (354). Viele Exilierte entwickeln ein fatalistisches Gefühl, das sich mit dem Stigma des „Besiegten“ abfindet. Vielen sehen sich zum Eingeständnis gezwungen, dass „das Versagen ein Bestandteil ihrer Existenz ist“ (354), wie die vom Autor zitierte Dichterin Etel Adnan bekennt.

Diskussion

Eine historische Darstellung der Flucht vor dem Hitler-Regime und die weitgehende Gleichgültigkeit der internationalen Staatenwelt hat eine aktuelle Dimension, wie Wolfgang Benz zu Recht hervorhebt. Wenn heute die Parteien der politischen Mitte, insbesondere Sozial- und Christdemokraten, Korrekturen an Verfahren zum Umgang von Asylsuchenden und Bürgerkriegsflüchtlingen vornehmen wollen, um rechtsextreme Kräfte nicht weiter erstarken zu lassen, ist das in Ordnung. Nicht in Ordnung ist es, wenn diese „Korrekturen“ auf eine faktische Abschaffung des Grundrechtes auf Asyl abzielen und in Deutschland unter Berufung auf die im geltenden EU-Recht verankerte „Notstandsklausel“ dazu benutzt wird, um auf eine dauerhafte Zurückweisung von Schutzsuchenden hinzuarbeiten. Damit würde sich Deutschland nicht nur über geltendes Recht und den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hinwegsetzen, sondern aktiv an der Zerstörung eines geordneten und humanen Asylrechts in der EU mitwirken.

Fazit

Wolfgang Benz Buch „Exil“ ist eine eindringlich erzählte Geschichte des deutschen Exils in der Zeit des Nationalsozialismus. In seinen biographischen Exkursen werden die Erfahrungen der Exilanten nachvollziehbar: von der erzwungenen Flucht und Vertreibung, über die Ausbürgerung und Ausplünderung bis hin zum Ankommen in einem fremden Land, in dem man nicht unbedingt willkommen war. Im Blick auf die Gegenwart, in der der Ruf nach rigoroser Abschottung immer lauter wird, ist das Buch auch ein Appell für einen rechtstaatlichen und humanen Umgang mit den vor Diktaturen und Armut geflüchteten Menschen, die in Europa Schutz suchen.

Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Es gibt 37 Rezensionen von Peter Flick.

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ISSN 2190-9245