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Svenja Heck: Partnerschaft, Sexualität und geistige Behinderung

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Gerspach, 08.04.2025

Cover Svenja Heck: Partnerschaft, Sexualität und geistige Behinderung ISBN 978-3-17-039540-4

Svenja Heck: Partnerschaft, Sexualität und geistige Behinderung. Professionelles Handeln und Verstehen in der Heilpädagogik. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2024. 166 Seiten. ISBN 978-3-17-039540-4. 32,00 EUR.

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Thema

Nach langen Jahren der Tabuisierung, Stigmatisierung und Diskriminierung gilt inzwischen die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit geistiger Behinderung als deren angestammtes und unverbrüchliches Recht. Partnerschaft und Sexualität werden jetzt als integraler Bestandteil einer positiv erlebten Lebensqualität angesehen. Nicht zuletzt die Schrift der Autorin von 2012 „Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung. Perspektiven der Psychoanalytischen Pädagogik“ (noch unter ihrem Geburtsnamen Bender erschienen) trug mit zu dieser erfreulichen Entwicklung bei. Gleichwohl sind die Vorbehalte in Öffentlichkeit wie Fachgesellschaften noch lange nicht verschwunden. Insofern erscheint es sehr verdienstvoll, ausgestattet mit viel Empathie und auf der Basis eines umfassenden Wissensfundus mit der jetzt vorgelegten, im wahrsten Wortsinne aufklärerischen Schrift weiter dazu beizutragen, dem schamvollen Verschweigen oder gar aggressiven Verleugnen der Wünsche von Menschen mit geistiger Behinderung nach Sexualität und Partnerschaft entgegenzutreten. Zunächst wird ein Überblick über den aktuellen Fachdiskurs und die damit gesetzten Anforderungen an professionelles Handeln gegeben. Darauf aufbauend werden Leitlinien für die unmittelbare heilpädagogische Praxis entwickelt, die in eine verstehende und haltende Rahmung einmünden. In diesem Sinne erscheint es als großer Vorteil, dass über die Darstellung von Forschungsergebnissen, Einbeziehung von Fallvignetten, Aussagen von Menschen mit geistiger Behinderung und die wissenschaftliche Begleitung einer Partnervermittlung die unmittelbare Relevanz des vorgestellten Konzepts veranschaulicht wird.

Autorin

Professorin Dr. Svenja Heck ist Erziehungswissenschaftlerin und lehrt seit 2015 Behinderten- und Heilpädagogik am Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Ihre Lehrgebiete sind heilpädagogische Zugänge in der Sozialen Arbeit, Inklusion sowie ethische Grundlagen der Sozialen Arbeit. Zu ihren Forschungsgebieten zählen professionelles Handeln in der Heilpädagogik, Inklusion und Sexualität, Partnerschaft und Lernschwierigkeiten. Außerhalb der Hochschule ist sie Mitglied in der Sektion Sonderpädagogik und der Kommission Psychoanalytische Pädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften sowie in der bundesweiten Arbeitsgruppe „Psychoanalyse und geistige Behinderung“

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in sechs Kapitel untergliedert. In der einleitenden Diskussion über die zu verwendende Begrifflichkeit – aus der Perspektive der Interessenvertreter*innen soll die Formulierung von Lernschwierigkeiten an die Stelle der geistigen Behinderung treten – wird sogleich auf das Dilemma verwiesen, dass ein wie auch immer geratener Wechsel zu keiner konsequenten Auflösung von Zuschreibungen und Kategorisierungen wird führen können. Und auch in den neueren Klassifikationsmodellen wie dem von der WHO verwendeten ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) ist nach wie vor eine deutliche medizinische Orientierung erkennbar. Hier zeigt sich der immense Verdienst der Schrift, sich eines psychodynamischen, der Psychoanalyse entlehnten Modells zum Verstehen der auch unbewussten Implikationen zu bedienen. Denn damit wird der Gefahr einer monokausalen und biologistischen Lesart von geistiger Behinderung effektiv vorgebeugt. Nun werden namhafte Vertreter*innen dieser fachlichen Orientierung, wie Sinason, Jonas Mattner oder Pforr, herangezogen, um auf die psychosoziale Dimension eingeschränkter Kommunikations- und Teilhabemöglichkeiten hinzuweisen. Die aus Enttäuschung und Kränkung geborene Eintrübung der frühen Eltern-Kind-Beziehung ist immer auch als Ausfluss gesellschaftlicher Ausgrenzungs- und Entwertungstendenzen zu lesen. Beides lässt sich nur genau entziffern, wenn die Unbewusstmachung dieser Wirkfaktoren unter die Lupe genommen wird.

So wird die Überleitung hin zu den Herausforderungen professionellen Handelns im zweiten Kapitel durch die Aussage Datlers eingeleitet, dass das Verstehen von Beziehungsprozessen denzentralen Aspekt der Pädagogik schlechthin abgebe. Gerade in der Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung steht deren Konfrontation mit belastenden Erlebnisinhalten im Mittelpunkt. Insofern verwundert es nicht, so der Tenor des dritten Kapitels über Partnerschaftswünsche und -suche, dass die pädagogischen Fachkräfte diesbezüglich immer noch von einer großen Verunsicherung umfangen sind, die am Ende eine Distanznahme und Regelmentierung dieser Wünsche zur Folge hat. Gleichzeitig stellt sich die professionelle Aufgabe, bei der Beziehungsanbahnung der Adressat*innengruppe zur Wahrung der eigenen Grenzen und die der Partnerin oder des Partners im Sinne der Wahrnehmung von Eigenständigkeit beizutragen. Dass hier häufig zu hören ist, Menschen mit einer geistigen Behinderung sehnten sich vornehmlich nach „netten Partner*innen“, wird von der Autorin mit dem unbewussten Hang zur Infantilisierung in Verbindung gebracht, der gesellschaftlich internalisierten Tendenzen unterliegt.

Das vierte Kapitel wirft einen differenzierten Blick auf die Entwicklung der Sexualität vom ersten Lebensjahr bis hin zur Adoleszenz. Auch hier erweist sich die Einbindung dieser Prozesse in den Interaktionsrahmen mit den primären Objekten wie Vater und Mutter als überaus plausibel. Körper, Körpererfahrungen, Genitalität und ihre affektiven Besetzungen werden in diesen Abschnitten als Beziehungsmomente sichtbar. Steht der pflegerische Auftrag im Vordergrund – aufgrund des Angewiesenseins des Kindes auf dessen Verrichtung durch seine Bezugspersonen –, so ist die sexuelle Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und die daran geknüpfte narzisstische Befriedigung erschwert. Wird zudem der Körper vornehmlich in therapeutischen und anderen Pflegesettings erfahren, kann dies zu einer Entfremdung vom eigenen Körper führen. Besonders in der Adoleszenz werden dann gravierende Probleme sichtbar. Gemeinhin, so Fonagy, wird jetzt der Wunsch nach weiterer Abgrenzung von den primären Bezugspersonen immer drängender. Die damit gesetzte Verschiebung der Befriedigung vom Selbst auf andere ist aber für Jugendliche mit einer geistigen Behinderung kaum möglich. Peer-Group-Erfahrungen sind eher selten, die immer deutlicher zutage tretende Sichtbarkeit der Beeinträchtigung führt schnell dazu, dass sich Personen aus der näheren Umgebung zunehmend distanzieren. So entsteht leicht Hass auf sich selbst. Und die von Erdheim betonte zweite Chance der Adoleszenz, in dieser Lebensphase präödipale und ödipale Wünsche und Konflikte durcharbeiten und sich so davon emanzipieren zu können, fällt aus.

Aus dieser Gemengelage heraus ist die Frage zu beantworten – so das Hauptthema im fünften Kapitel, das die handlungsleitende Rolle der Psychoanalytischen Pädagogik im Kontext des Phänomens einer geistigen Behinderung herausarbeitet –, wie affekt- und entwicklungsfreundliche Unterstützungsangebote zu strukturieren seien, um den skizzierten Dilemmata vorzubeugen oder ihnen abzuhelfen. Hierzu wird auf die Methodik des szenischen Verstehens Bezug genommen. Damit wird ein Zugang gefunden, um zu verstehen, wie die Reproduktion früher konflikthafter Interaktionserfahrungen, die als bedrohlich erlebt wurden und fortan dem bewussten Zugang verborgen bleiben, in neuen Beziehungskonstellationen über heftiges Agieren auf der Verhaltensebene aktualisiert werden. So lässt sich ein Dialog mit den Klient*innen gestalten, der der Erarbeitung neuer Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten dient. Wie dies gelingen kann, wird anhand eines Fallbeispiels beredt illustriert. Im Weiterdenken dieser Idee wird auf das Konzept des Mentalisierens – eine Vorstellung von sich und andere Menschen als denkenden und fühlenden Wesen zu entwickeln – eingegangen. Vor dem Hintergrund noch immer eher paternalistischer Interventionspraktiken anstelle jener zur Unterstützung von Selbstbestimmung ist es kaum verwunderlich, dass die Erfahrung von Abhängigkeit dominant bleibt und so diese Fähigkeit nicht oder nur bruchstückhaft ausgebildet werden kann. Nun wird der dort verankerte Topos des epistemischen Vertrauens herangezogen, der besagt, dem Gegenüber ohne Zweifel an dessen Gutwilligkeit begegnen zu können. Wo dies nicht ausreichend gelingen konnte, ist jetzt die Pädagogik gefragt, eine vertrauensvolle Beziehung zu fördern, um auf deren Grundlage die fehlende Entwicklung nachzuholen. Gerade im Konzept des Empowerments wird ein verändertes fachliches Selbstverständnis eingefordert, welches zu einer an möglichst viel autonomer Entwicklung interessierten Praxis beitragen wird.

Das Schlusskapitel präsentiert ausgewählte Felder, um paradigmatisch aufzuzeigen, wie den zuvor ausformulierten Ansprüchen an eine gelingende Lebensgestaltung unter Einschluss von Sexualität und Partnerschaft von Menschen mit einer geistigen Behinderung zugearbeitet werden kann. Es beginnt mit substanziellen Überlegungen zur sexuellen Bildung, die einhergehen mit der Befähigung, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Wie es ermöglicht wird, in den noch immer dominant vorzufindenden Großeinrichtungen die eigene Sexualität zu leben, beleuchtet die nächste Problemzone, geht es doch auch und gerade um die Bereitstellung von Explorationsräumen, um Sexualassistenz und um den Kinderwunsch. Die beiden letztgenannten Punkte werden, nachdem das schwer lastende Tabu sexueller Gewalt und die damit zusammenhängenden Gefährdungsdimensionen gründlich durchleuchtet wurden, anschließend noch eigens behandelt. Kann es tatsächlich um eine Dienstleistung gehen, bei der der Mensch mit geistiger Behinderung als Arbeitgeber auftritt, wenn doch die Sehnsucht nach Partnerschaft so groß ist und Gefühle ins Spiel kommen? Kann man zulassen, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung Eltern werden, wo doch wider besseres und sehr gründlich recherchiertes Wissen, so Pforr & Schab, eine „verbotsgleiche Unmöglichkeitsvermutung“ im Raum steht? Gerade in diesen Abschnitten zum Ende der Lektüre zu offenbart die Autorin neben ihrem ausgefeilten Argumentations- und Reflexionsvermögen eine empathiegestützte Kompetenz, solche heiklen Fragen mit großem Bedacht einer zufriedenstellenden Antwort zuzuführen.

Diskussion

Wie kaum eine Zweite hierzulande ist die Autorin eine ausgewiesene Kennerin der Materie am Schnittpunkt von geistiger Behinderung und Sexualität. Dies gilt nicht nur mit Blick auf ihren immens großen Wissensfundus, sondern auch hinsichtlich ihrer langjährigen Erfahrungen bei der Einrichtung und wissenschaftlichen Begleitung von Erfahrungsräumen der Partner*innenvermittlung für Menschen mit körperlichen, seelischen und geistigen Beeinträchtigungen. Nicht nur in einer unaufgeklärten Öffentlichkeit, sondern auch in einschlägigen Fachkreisen bestehen noch immer eine Unzahl von Vorurteilen und Vorverurteilungen, wenn es um dieses Thema geht, existieren weiterhin anhaltende Einschränkungen der autonomen Entscheidungsbefugnisse der Adressat*innengruppe über ihre eigene Lebensgestaltung. Die Autorin belässt es nicht bei moralischen Appellen, die es ja bereits zahlreich gibt, sondern setzt sich sehr behutsam mit unser aller Projektionen auseinander, welche am nachhaltigsten zu den sattsam bekannten Reglementierungen gereichen. Damit ist die entscheidende Voraussetzung gegeben, Menschen mit einer geistigen Behinderung darin zu unterstützen, ihr angestammtes Recht auf Sexualität und Partnerschaft zu verwirklichen. Es ist dieser Schritt, der erst den nötigen Perspektivwechsel im institutionellen Alltag stabil zu implantieren weiß.

Dieses Buch gewährt einen überaus anschaulichen und unaufgeregten Einblick in ein lange vermiedenes Thema in der pädagogischen Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung. Vor allem ist es sehr verständlich geschrieben, sodass auch Leser*innen, die bislang nicht vertraut waren mit den Grundzügen psychoanalytisch orientierten Verstehens und Handelns, ein sehr gut fasslicher und vor allem praxistauglicher Zugang geboten wird. Vor dem Hintergrund sehr aktuellen und gut recherchierten Quellenmaterials überzeugt die Schrift auf ganzer Linie, was nicht zuletzt an ihrem klaren logischen Aufbau liegt. Sie ist deshalb so hervorragend geeignet, an der Auflösung von Vorurteilen gegenüber Menschen mit einer geistigen Behinderung im Allgemeinen und ihrem Recht auf Sexualität und Partnerschaft im Besonderen mitzuwirken, als sich der Leser/die Leser*n unaufdringlich eingeladen sieht, die eigenen unbewussten Aus- und Verblendungen selbstreflexiv zu betrachten.

Fazit

Das Buch ist ein Gewinn sowohl für eine besser gelingende, am Prinzip der Selbstbestimmung orientierte heilpädagogische (Beziehungs-)Praxis als auch für die professionstheoretische Debatte zum subjektorientierten Umgang mit Menschen mit einer geistigen Behinderung.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Gerspach
lehrte bis 2014 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Schwerpunkte: Behinderten- und Heilpädagogik, Psychoanalyti­sche Pädagogik sowie die Arbeit mit so genannten verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen. Seit 2015 lehrt er als Seniorprofessor am Institut für Sonderpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt.
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Es gibt 38 Rezensionen von Manfred Gerspach.

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ISSN 2190-9245