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Hans Füchtner: Geschichte der Psychoanalyse in Brasilien

Rezensiert von Prof. Dr. Hannes Stubbe, 02.06.2025

Cover Hans Füchtner: Geschichte der Psychoanalyse in Brasilien ISBN 978-3-8379-3403-8

Hans Füchtner: Geschichte der Psychoanalyse in Brasilien. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2025. 350 Seiten. ISBN 978-3-8379-3403-8. D: 46,90 EUR, A: 48,30 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.

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Thema

Eine durch aristotelisches „Θαυμάζειν“ (Staunen) ausgelöste, neugierige Frage lautet: wie war es möglich, dass die Psychoanalyse Sigmund Freuds (ähnlich wie die brasilianische Kaiserin Leopoldina, 1797–1826), aus dem schneereichen Österreich in das tropische Brasilien kam und wie ging es mit ihr weiter?

Im Jahre 1914 war die Psychoanalyse Sigmund Freuds (1856-1939) bereits weltweit bekannt: z.B. in außereuropäischen Ländern wie Argentinien (J. Ingenieros, J.A. Agrelo), Chile (G. Greve), Kuba (Salvador y Massip), Russland (Ossipov, Ermakow), USA (Brill), Brasilien (Moreira, Austregésilo) und sie expandierte weiter zu einem „kleinen Weltreich der Psychoanalyse“ (vgl. Stubbe, 2021:358 ff). Dennoch ist es verwunderlich, dass bereits im Jahre 1914, zu Beginn des I. Weltkrieges (1914-1918) in Brasilien eine medizinische Dissertation von Genserico Aragão de Souza Pinto (1889-1958) über „Da psicoanalise (a sexualidade nas nevroses)“ erschien, die erste psychoanalytische Dissertation in der portugiesischsprachigen Welt (vgl. Stubbe, 2011; S:29-33). Dies war möglich, weil Pintos Doktorväter, der international bekannte Psychiater Juliano Moreira (1872-1933) (vgl. S:21-29) und der Neurologe Antônio Rodrigues Lima Austregésilo (1876-1961) (vgl. S:33-35) sich für die Psychoanalyse interessierten.

Nur sehr wenige Menschen sind heute weltweit dazu in der Lage, eine fundierte Geschichte der Psychoanalyse in Brasilien zu schreiben. Hans Füchtner ist hier an erster Stelle zu nennen.

Autor

Prof. Dr. phil. Hans Füchtner ist ein emeritierter Professor für Sozialisation mit dem Schwerpunkt Sozialpsychologie an der Universität Kassel. Als Lateinamerika-Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung und als Entwicklungshelfer des Deutschen Entwicklungsdienstes lebte und arbeitete er mehrere Jahre in Rio de Janeiro und lehrte auch an der Universidade Federal de Minas Gerais in Belo Horizonte. Hans Füchtner hat wichtige Bücher über Brasilien geschrieben z.B. „Die brasilianischen Arbeitergewerkschaften, ihre Organisation und ihre politische Funktion“ (1972) oder „Städtisches Massenelend in Brasilien“ (1991) und viele Aufsätze über die Psychoanalyse in Brasilien. Er ist also mit Kultur, Gesellschaft und Politik in Brasilien bestens vertraut.

Inhalt

Allein in den Jahren von 1899 (Die Traumdeutung) bis 1939 (Freuds Tod) liegen in Brasilien über 100 schriftliche Hinweise auf Sigmund Freud vor (vgl. S: 11, 21–79; Stubbe, 1997). Es waren naturgemäß anfangs vor allem Ärzte (Psychiater, Neurologen), die sich für die Psychoanalyse interessierten. Die Rezeption der Psychoanalyse in Brasilien folgt einem Ablaufschema, das wir in vielen außereuropäischen Ländern beobachten können: Betrachtet man wissenschaftshistorisch und vergleichend die Geschichte der Psychoanalyse in verschiedenen außereuropäischen Ländern im 20. Jh. z.B. Brasilien, Indien, Mexiko, Portugal oder der Türkei kann man grob folgendes Entwicklungsschema erkennen: den Ursprung bildet ein Modernisierungsprozess der Psychiatrie, in dem jüngere Psychiater (oftmals aus der gehobenen und gebildeten „europäisierten“ Mittelschicht) nach neuen Methoden suchend, die Psychoanalyse entdecken. Nun beginnt ein Rezeptionsprozess und die ersten Übersetzungen (manchmal auch Dissertationen wie z.B. Brasilien: 1914) werden vorgenommen. Manchmal beginnen jetzt auch Korrespondenzen direkt mit Sigmund Freud (vgl. S. 291ff). Die eigentliche Institutionalisierungsphase und klinisch-psychoanalytische Professionalisierung beginnt nachdem entweder Einheimische sich im Ausland ausbilden lassen oder europäische Exilés Analysen im Land durchführen und Ausbildungsinstitutionen und klinisch-psychoanalytische Einrichtungen schaffen (vgl. Stubbe, 2021:470). In der Rezeptionsgeschichte der Psychoanalyse in Rio de Janeiro, der damaligen Hauptstadt Brasiliens, beschreibt Füchtner eine Vielzahl von Biografien bedeutender Ärzte, die sich für die Psychoanalyse interessierten bzw. darüber publiziert haben (S: 21–79), wie Juliano Moreira (1872-1933), den schon genannten Genserico Pinto (1889-1958), Antônio Rodrigues Lima Austregésilo (1876-1961), Júlio Pires Porto-Carero (1887-1937), Deodato de Morães (1895-?), José Carneiro Ayrosa (188?-1969), Murillo de Souza Campos (1887-1968), Henrique de Brito de Belford Roxo (1877-1969), Inaldo de Lyra Neves-Manta (1903-2000) (den ich noch persönlich kennen gelernt habe), Maurício Campos de Medeiros (1885-1966), José Joaquim de Campos da Costa Medeiros e Albuquerque (1867-1934), Adauto Botelho (1895-1963), Leme Lopes (1904-1990) (den ich persönlich kannte), Arthur Ramos de Araújo Pereira (1903-1949) und Gastão Pereira da Silva (1897-1987). In São Paulo ist die Rezeption der Psychoanalyse anders verlaufen als in Rio de Janeiro, wo die meisten Psychiater der „Sociedade Brasileira de Neurologia, Psiquiatria e Medicina Legal“ bzw. der “Liga Brasileira de Higiene Mental“ angehörten und sich für die Psychoanalyse interessierten oder darüber publizierten, während in São Paulo die Medizin institutionell noch in ihren Anfängen steckte (Universitätsgründung im Jahre 1934, USP) und man der Psychoanalyse ablehnend und teilweise feindselig gegenüber stand. In den turbulenten politischen und kulturellen 20-er Jahren fand in São Paulo die „Semana de Arte Moderna“ (1922) statt, eine wichtige kulturelle Zäsur in Brasilien, die man auch als „modernismo brasileiro“ bezeichnet (vgl. S. 81ff; Stubbe, 2018: 82ff). Die für die Psychoanalyse aufgeschlossenen Künstler wie Mário de Andrade (1893-1945) oder Oswald de Andrade (1890-1954) interpretierten sie in eigenwilliger und unorthodoxer Weise und sahen in ihr „vor allem eine Theorie, die es ihnen erlaubte, ihren avantgardistischen Subjektivismus theoretisch zu begründen“ (S: 84). In der Psychiatrie São Paulos war es zuerst Franco da Rocha (1864-1933), der Leiter und Gründer des psychiatrischen „Hospício de Juquery“ (gegr. 1898), der in seinem Werk „O pan-sexualismo na doutrina de Freud“ (1920) die Freudsche Lehre, wenn auch teilweise missverständlich, verbreitete. Andere Psychiater wie an zentraler Stelle Durval Marcondes (1899-1981) haben dann psychoanalytisch orientiert gearbeitet und publiziert (S: 88–95). Am 24. November 1927 wird die erste „Sociedade Brasileira de Psychanalyse“ gegründet (mit einem Ableger in Rio de Janeiro), zugleich die erste psychoanalytische Gesellschaft Lateinamerikas (S: 90). Sie publiziert im Juni 1928 auch die „Revista Brasileira de Psychanalyse“, die S. Freud zugeschickt wurde (S: 91). Marcondes erhielt auch den Lehrstuhl für Psychoanalyse an der „Escola Livre de Sociologia e Política“ (SP) im Jahre 1939. Er war in seiner wissenschaftlichen Arbeit „ein orthodoxer Freudianer“ und gilt als eigentlicher Begründer der ersten IPV-Gesellschaft, der SBPSP, in Brasilien“ (S:95). Eine entscheidende Wende in der Geschichte der Psychoanalyse begann mit der Ankunft der deutsch-jüdischen Exilé Adelheid Koch (1896-1980) als Lehranalytikerin am 15.11.1936 in Brasilien (S:96-100). Waren es bisher Rezipienten und Autodidakten, die sich in Brasilien mit der Psychoanalyse befassten, begann nun Adelheid Koch mit Lehranalysen brasilianische Ärzte auszubilden. Man orientierte sich in dieser Institutionalisierungsphase an dem Berliner Institut für Psychoanalyse (gegr. 1920). Nun beginnt das eigentliche „goldene Zeitalter der Psychoanalyse in Brasilien“ mit der Gründung der „Sociedade Psicanalítica de São Paulo“ (SBPSP). Später folgte auf Koch noch der Lehranalytiker Theon Spanudis (1915-1986), sodass man im Jahre 1951 Mitglied der IPV werden konnte. Wichtig sind auch die kunstpsychoanalytischen Schriften von Osório Thaumaturgo César (1895-1979), die von Hans Prinzhorn (1886-1934) inspiriert sind (S. 95–112). Es kommt nun aus den beiden Diffusionszentren Rio de Janeiro (z.B. Werner Kemper, S: 116ff, 262ff, Mark Burke, S:117ff) und São Paulo (z.B. Paulo Lentino, Darcy de Mendonça Uchôa, Anibal Silveira) auch zu psychoanalytischen Entwicklungen und Institutionen (Círculos Brasileiros de Psicanálise,S:147-150; Sedes Sapentiae, S. 165–167), in Porto Alegre (S. 141–146) oder Belo Horizonte (z.B. Karl Weissmann) (S: 151–158) und in anderen Regionen, zu vielen Zersplitterungen, Konflikten und hässlichen Rivalitäten zwischen den Gruppen, außerdem war die Feindschaft gegen die Psychoanalyse noch beträchtlich (S: 141–158). Eine besondere Aufmerksamkeit widmet Hans Füchtner zu Recht der Situation der Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen (z.B. Hélio Pellegrino, S:220-223, 246ff) und ihrer Institutionen während der 20 Jahre dauernden Militärdiktatur in Brasilien (1964 -1985) und vor allem dem „Fall“ Amílcar Lobo im Jahre 1980, über den er mehrfach publiziert hat (S. 171f, 227–279). Die Militärdiktatur wurde aktiv von der BRD unterstützt und westdeutsche (Groß-)Unternehmen in Brasilien denunzierten politisch missliebige Arbeiter (vgl. z.B. Stefanie Dodt, Tagesschau, 14.11.2017, 6 Uhr; WIKIPEKDIA: VW do Brasil). Ein spannendes, sehr gut recherchiertes, luzides Kapitel der „traurigen Psychotropen“! Auch in anderen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen z.B. in den USA oder in der damaligen portugiesischen Kolonie Mosambik ist eine Zusammenarbeit von Psychoanalytikern bzw. eine missbräuchliche Verwendung der Erkenntnisse der Psychoanalyse für kolonialistische oder militärisch-geheimdienstliche Zwecke erfolgt (vgl. Stubbe, 2008; Müller, 2017).

Es kommt ab der 70er Jahre, der Zeit des „Psychobooms“ bzw. „Psychoanalysebooms“ (S:171-181) in Brasilien, zu vielfältigen Anwendungen der Psychoanalyse z.B. in den Sozialwissenschaften, im Justizwesen, in der Werbung, in den Medien (S:199-202), in der Pädagogik, in der Literatur und Kunst etc. und zur „Psychologisierung der sozialen und intimen Beziehungen“ (S:193). Die Psychoanalyse beginnt alle Bereiche des brasilianischen Lebens zu durchdringen und es bildet sich eine eigene „Kultur der Psychoanalyse“ heraus (S:203-206). Ab 1976 flohen auch einige argentinische Psychoanalytiker (z.B. Gregorio Baremblitt) nach Brasilien und bereicherten die Psychoanalyse, vor allem theoretisch und politisch. Eine Vielzahl von neuen Psychotherapieformen werden nun eingeführt z.B. Morenos Psychodrama, Rogers Encountergruppen, Körpertherapien, Verhaltenstherapien etc. (S:174; vgl. Stubbe, 1980:79-93), sowie neue (manchmal kurzlebige) psychoanalytische Institutionen geschaffen. In diese Zeit fällt auch eine einschneidende Reform des Psychologiestudiums (S:174ff). Ab 1969 wird der französische Lacanismus in Brasilien bekannt und es bilden sich viele Lacangesellschaften (S:183-192). Mit dem Einströmen evangelikaler Sekten in Brasilien (ca. 1/3 der Bevölkerung) wird Psychoanalyse eine Glaubenssache und protestantische Ausbildungsinstitutionen bilden sich heraus (S:193-198). Ein hübsches Schluss-Kapitel des Buches stellt „Freud und seine brasilianischen Briefpartner“ (1924-1938) dar: „Abgesehen von einige Postgartengrüßen hat Freud ein Dutzend Briefe, in der Regel in deutscher, gelegentlich auch in englischer Sprache, nach Brasilien geschickt.“ … „schlechte Nachrichten hat Freud aus Brasilien nie bekommen“ (S:291, 294)

Diskussion

Auf welche Quellen und Methoden kann sich eine „Geschichte der Psychoanalyse in Brasilien“ stützen? Quellen können u.a. die Sigmund-Freud-Archive, die Library of Congress und in Brasilien die Psychoanalyse betreffenden Schriften und Dokumente (S: 295–311), Biografien (z.B. J. Moreira; S: 21–29), historische Darstellungen der Psychoanalyse (z.B. Ellenberger, Perestrello; Rocha; Kutter; Stubbe; Roudinesco & Plon etc.), Interviews mit Psychoanalytikern und Psychoanalytikerinnen und Zeitzeugen (S:312), sowie methodisch teilnehmende Beobachtungen und Interpretationen sein (vgl. für den deutschsprachigen Raum z.B. Cremerius, 1981:7-29). Füchtners breitangelegte, tiefgründige Recherchen verwenden alle o.g. Quellen meisterlich und erstreckten sich über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren (S:9) und er kann heute somit als ein „lebendiges Archiv der Psychoanalyse in Brasilien“ gelten.

Ein wichtiges, immer noch wenig beachtetes Problem ist die Übersetzung psychologischer und psychoanalytischer Texte (vgl. Stubbe, 2021:494-498) aus dem Deutschen ins Brasilianische. Dem Problem des Übersetzens psychologischer Schriften haben PsychologInnen und Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen bisher nur eine sehr geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Wer jedoch einmal eine längere Zeit in einer fremden Kultur, d.h. nicht in Europa, Australien oder Nordamerika Psychologie gelehrt hat, wird die besonderen Schwierigkeiten im Umgang mit psychologischen Texten nicht hoch genug einschätzen. Schon die Begriffe „Erleben“ und „Verhalten“ lassen sich nicht ohne weiteres in andere Sprachen übersetzen. Die brasilianischen Studierenden des Autors in Rio de Janeiro konnten z.B. nicht verstehen, warum es im Deutschen z.B. „das“ Kind heißt, also (wie das „Es“) ein Neutrum ist. Die Übersetzungsschwierigkeiten lassen sich anhand der Übersetzung des Freudschen Werkes ins Brasil-Portugiesische gut demonstrieren: Sigmund Freud's Werke, die seit 1923 ins Spanische übersetzt wurden (das Gesamtwerk erschien im Brasilianischen zum ersten Mal 1969: „Edição Standard Brasileira das Obras Psicológicas Completas de Sigmund Freud“), basieren auf der englischen Übersetzung. Viele Nuancen des Originals gehen aber auch in der besten Übersetzung verloren. Es ist ein Verdienst Erik H. Erikson's, dies im Hinblick auf die Übersetzung der „Traumdeutung“ ins Englische gezeigt zu haben. Die „Traumdeutung“ aber auch andere Werke Sigmund Freud's sind voll von Anspielungen auf Ereignisse, mit denen der (zeitgenössische) europäische Leser vertraut war, die aber heute für einen Leser z.B. aus den USA oder Brasilien ohne Kommentar unverständlich sind. Das gleiche gilt für die (Traum-) Assoziationen und -symbole, die sich im deutschen Sprach- und Kulturraum bewegen. Die europäisch-abendländische Dimension der Psychoanalyse wird (auch in ihrem Bezug auf die griechisch-römische Antike, die Klassik z.B. Goethe, Shakespeare, das Judentum und die europäische Philosophie und Literatur) hierin besonders sichtbar, dies ist ja auch einer der Gründe, warum sich die Psychoanalyse z.B. in dem hochindustrialisierten Japan, in Indien oder in Afrika kaum entwickelt hat. In seinem Werk „Freud und die Seele des Menschen“ vertritt Bruno Bettelheim sogar die These, dass die meisten Missverständnisse und Polemiken im Umfeld der Psychoanalyse in der englischsprachigen Welt eine Folge von Fehlübersetzungen und Entstellungen seien, die nicht rational erklärt werden können. Bettelheim zeigt, wie die Psychoanalyse aus dem kulturellen Klima Wiens hervorgegangen ist und wie die Praxis der Psychoanalyse in Österreich von der in Amerika damals und heute geradezu abweichen musste. Er beschreibt, wie die englischen Übersetzer wieder und wieder mit einer Reihe verschiedener Wortbedeutungen konfrontiert waren und schließlich die ihrer Meinung nach am stärksten wissenschaftsorientierte auswählten. Dies hatte u.a. zur Folge, dass Freud's Humanismus und sein Interesse für die „Seele“ heruntergespielt wurden. Die Feinheiten der Konzepte von „Eros“ und „Psyche“ und des „Mythos vom Ödipus“ (die jedem österreichischen Gymnasiasten vertraut waren), wurden in Nordamerika und Brasilien leicht zu seelenlosen Abstraktionen. Einige Beispiele für die nachlässige und willkürliche Übersetzung Freudscher Begriffe ins Angloamerikanische mögen genügen: „Seele“ wird mit „mental“ oder „mind“ übersetzt, aus „Das Ich und das Es“ wird „The I and the it“, „die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit“ wird zu „The anatomy of the mental personality“, „Fehlleistung“ wird in „parapraxis“ und „Besetzung“ in „cathexis“ verwandelt. Alle diese Mängel und noch viele andere mehr haften somit auch der brasilianischen Übersetzung an, die aus dem Englischen vorgenommen wurde. Soll man von „Trieb“ (sic!) oder „Instinkt“ (instinto, so in der Übersetzung) sprechen? Man spricht in der brasilianischen Psychoanalyse vom „id“, „self“ und „ego“, von „civilização“ (Kultur) und „psicologia de grupo“ (Massenpsychologie), „afeção“ (Hysterie), „compreensão (Einsicht), „autores imaginosos“ (Dichter) etc. ohne sich zu bemühen Übersetzungen zu finden, die dem deutschen Urtext gerecht werden. Die Anglo-Amerikanisierung der brasilianischen Gesellschaft erstreckt sich demnach nicht allein auf den äußeren technologischen und ökonomischen Bereich, sondern erfasst auch die innerpsychische Topologie der Persönlichkeit. Eine Grenze des Unübersetzbaren bleibt aber immer bestehen. Ein psychologisches Forschungsdesideratum! Sie wurde von Goethe bereits klar erkannt, wenn er in einem Brief an F. von Müller (20.9.1827) schreibt: „Beim Übersetzen muss man sich ja nur nicht in unmittelbaren Kampf mit der fremden Sprache einlassen. Man muss bis an das Unübersetzbare herangehen und dieses respektieren; denn darin liegt eben der Wert und der Charakter einer jeden Sprache.“

Das Brasil-Portugiesische, das aus portugiesischen, afrikanischen und indigenen Sprach-elementen hervorgegangen ist, verfügt über eine Fülle unübersetzbarer Worte, insbesondere wenn es sich um Emotionen, Träume, religiöse Erlebnisse, Krankheitsbilder, Hautfarben- und ethnischen Bezeichnungen etc. handelt. Die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten der Psychologie und Psychoanalyse sind also begrenzt. Wer darf heute überhaupt noch übersetzen? Gegenwärtig ist bzgl. eines Gedichtes einer jungen Afroamerikanerin (Amanda Gorman) ein Streit darüber entstanden, ob ihre Gedichte ausschließlich junge Afroamerikanerinnen übersetzen dürfen. Man kritisiert „Sprach- und Gedankenpolizei“ (Fourest) und fragt, ob dann nur ein blinder, weißer, griechischer Mann mit mythischen Erfahrungen Homers „Odyssee“ übersetzen dürfe. Betrifft diese Diskussion auch die Übersetzungsarbeit in der Psychologie und Psychoanalyse? Die westliche Psychologie und Psychoanalyse ist bekanntlich fast nur männlich und „weiß“! Thomas Bauer beklagt die zunehmende „Vereindeutigung der Welt“ und den Verlust an Vielfalt und Mehrdeutigkeit in der Gegenwart. Totalitaristische Züge!

Die US-amerikanische Psychologie und Psychoanalyse ignoriert meistens alles, was nicht in englischer Sprache publiziert wird, dabei ist der Mensch eigentlich vielsprachig angelegt. Dass in einer Sprache eine ganze Weltsicht und -anschauung enthalten ist, wusste bereits Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und Sapir und Whorf haben den Zusammenhang von Sprache und Denken geklärt. Die Vorherrschaft der USA in der Psychologie führt auch zum Export ihres psychologischen Wissens und ihrer Lehrbücher, Tests etc. sozial- und kulturunangepasst in die sog. Dritte Welt. Sie werden dort dann entweder in englischer Sprache oder in schlechten Übersetzungen verbreitet. Dies bedeutet, dass oftmals die „innerpsychische Wirklichkeit“, die Wahrnehmung, das Denken und Fühlen, d.h. das Erleben und das Verhalten des Menschen in einer fremden Sprache vermittelt werden, was, wie man behaupten könnte, zu einer Art „seelischer Enteignung“ bzw. „Entfremdung“ führt. Handelt es sich wirklich um einen Erkenntnisfortschritt der Psychologie, dass man nur Englisch spricht?

Obwohl Arthur Ramos (1903-1949) als ein früher „Ethnopsychoanalytiker“ in Brasilien gelten kann, hat sich diese Richtung der Psychoanalyse in Brasilien leider nicht weiterentwickelt (vgl. Reichmayr, 2003). Verwunderlich ist auch, dass das Werk Wilhelm Reichs (1897-1957) scheinbar in Brasilien wenig bekannt ist, obwohl der Zugang zur psychoanalytischen Behandlung immer noch sehr beschränkt ist (vgl. S:214f).

Wir können konstatieren, dass die Psychoanalyse in Brasilien mit all ihren Höhen und Tiefen sehr erfolgreich gewesen ist. Hat sie die Brasilianer und Brasilianerinnen reifer, gerechter, friedlicher, humaner, gesünder gemacht?

Brasilien ist nicht nur das artenreichste Land der Erde, was die Pflanzen- und Tierwelt angeht (vgl. Naturhistorisches Museum Wien, 2022), sondern auch durch eine sehr große ethnische und linguistische Vielfalt gekennzeichnet (vgl. z.B. Nimuendajú, 1981; B. Ribeiro, 1983:24-28; Kausen, 2020:951ff). Dadurch ist es gleichsam repräsentativ für die gesamte Menschheit und dies hat auch die Psychoanalyse in Brasilien geprägt. Da die Psychoanalyse sich vor allem mit dem Erleben der Menschen in allen ihren Formen beschäftigt, ist eine „Geschichte der Psychoanalyse in Brasilien“ so bedeutsam. Es gibt jedoch „keine eigenständige brasilianische Psychoanalyse, aber von der vielschichtigen brasilianischen Mentalität geprägte Psycho-analysevarianten“, konstatiert Hans Füchtner (S:17). Wir lernen in Füchtners wissenschaftshistorischem Werk viel über die Kultur-, Sozial- Wirtschafts- und politische Geschichte Brasiliens, wie auch über das brasilianische Denken (z.B. S: 15f, 84).

Fazit

Das lebendig geschriebene, gut lesbare und sehr empfehlenswerte, mit einer reichhaltigen Bibliografie versehene Buch ist gegenwärtig die beste und präziseste Geschichte der Psychoanalyse in Brasilien weltweit und sollte übersetzt werden.

Literatur

Cremerius, Johannes (1981): Die Rezeption der Psychoanalyse in der Soziologie, Psychologie und Theologie im deutschsprachigen Raum bis 1940. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Müller, Knuth (2017): Im Auftrag der Firma. Geschichte und Folgen einer unerwarteten Liaison zwischen Psychoanalyse und militärisch-geheimdienstlichen Netzwerken der USA seit 1940. Gießen: Psychosozial

Reichmayr, Johannes et al. (Hrsg.) (2003): Psychoanalyse und Ethnologie. Biographisches Lexikon der psychoanalytischen Ethnologie, Ethnopsychoanalyse, und interkulturellen psychoanalytischen Therapie. Gießen: Psychosozial

Santos-Stubbe, Chirly dos et al. (Hrsg.) (2015): Psychoanalyse in Brasilien. Historische und aktuelle Erkundungen. Gießen: Psychosozial

Stubbe, A. Noëmi (2018): Kleine Kunstgeschichte Brasiliens. Aachen: Shaker

Stubbe, Hannes (1980): Psychotherapie in Brasilien. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, 26, p.79-93

Stubbe, Hannes (1997): Sigmund Freud in den Tropen (I). Zur Frühgeschichte der Psychoanalyse in Brasilien. Kölner Beiträge zur Ethnopsychologie und Transkulturellen Psychologie, Jg.3, N° 3

Stubbe, Hannes (2008): Sigmund Freuds „Totem und Tabu“ in Mosambik. Göttingen: V&Runipress

Stubbe, Hannes (2011): Sigmund Freud in den Tropen (II). Die erste psychoanalytische Dissertation in der portugiesischsprachigen Welt (Rio 1914). Aachen: Shaker

Stubbe, Hannes (2021): Weltgeschichte der Psychologie. Eine Einführung. Lengerich: Pabst

Rezension von
Prof. Dr. Hannes Stubbe
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ISSN 2190-9245