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Anja Schierbaum, Miriam Diederichs et al. (Hrsg.): Kind(er) und Kindheit(en) im Blick der Forschung

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 11.04.2025

Cover Anja Schierbaum, Miriam Diederichs et al. (Hrsg.): Kind(er) und Kindheit(en) im Blick der Forschung ISBN 978-3-658-42625-5

Anja Schierbaum, Miriam Diederichs, Kristina Schierbaum (Hrsg.): Kind(er) und Kindheit(en) im Blick der Forschung. Zentrale theoretische Figuren und ihre empirische Erkundung. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2024. 367 Seiten. ISBN 978-3-658-42625-5.
Reihe: Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung - 30.

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Thema

Das Thema Kinder und Kindheiten hat seit den 1980er Jahren verstärkt Aufmerksamkeit gefunden. In den Sozial- und Erziehungswissenschaften haben sich neue Ansätze der Kinder- und Kindheitsforschung mit je eigenen Schwerpunkten und methodischen Zugängen herausgebildet. Während sich Kinderforschung auf meist ethnografische Weise einzelnen und Gruppen von Kindern widmet, bezieht sich Kindheitsforschung auf größere Zusammenhänge und die Generationenordnung. Beide setzen sich mit überkommenen Kindheitskonzepten auseinander und versuchen, sich dem Leben der Kinder aus deren Perspektive zu nähern. Kindheit wird als historisches Phänomen begriffen, das immer wieder im Wandel ist, zum Ende des 20. Jahrhunderts neue Konturen angenommen hat und die Kinder ebenso wie die Gesellschaften vor neue Herausforderungen stellt. Kinder werden als Akteur*innen verstanden, die aktiv an ihrer eigenen Sozialisation mitwirken und in ihren Gesellschaften verstärkt auf Mitsprache drängen. In diesem Zusammenhang wird auch den Rechten der Kinder große Bedeutung beigemessen.

Zielsetzung und Hintergrund

Die Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes wollen eine Plattform für aktuelle kindheitsbezogene Themen bieten und neue theoretische und methodische Zugänge und Fragestellungen in der deutschsprachigen Kinder- und Kindheitsforschung sichtbar machen. Im Sommer 2020 hatten sie an der FernUniversität Hagen mit der Planung und Organisation einer Vortragsreihe mit dem Titel „Kind(er) und Kindheit(en) im Blick der Forschung“ begonnen, die im Wintersemester 2020/21 digital stattfand. In der Vortragsreihe war deutlich geworden, dass sich Kinder- und Kindheitsforschung der Vielfalt und Vielschichtigkeit der Entwicklung kindlicher Lebensverläufe und ihrer komplexen Lebenslagen verpflichtet, sich mit Normierungen und der Institutionalisierung von Kindheit, der Gestaltung von Generationenverhältnissen, Gerechtigkeit, Ungleichheit und Differenz sowie mit Risiken von Kindheit(en) befasst. So sollte der Titel des Sammelbands, der beide – sowohl Kinder als auch Kindheiten im Plural anspricht – nicht nur die Themenvielfalt und die unterschiedlichen kinderbezogenen Problemstellungen der aktuellen Kinder- und Kindheitsforschung markieren, sondern auch auf die verschiedenen methodisch-methodologischen Betrachtungsweisen zur Erschließung von Kindheit(en) als (eigenständige) Lebensphase verweisen. Themen wie Autonomie und Handlungsfähigkeit, Chancengleichheit, Bildung und Erziehung, Partizipations- und Ressourcengerechtigkeit, Wohlbefinden, Kinderrechte oder Kinderschutz werden damit nicht mehr allein als eine Frage der Ermöglichung seitens einer Erwachsenengesellschaft diskutiert, sondern auch unter dem Aspekt der wechselseitigen Wahrnehmung, Bearbeitung und Bewältigung von Disparitäten in Auseinandersetzung mit Kindern und Kindheit(en).

Inhalt und Aufbau

Der Sammelband ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil werden Kindheiten aus historischer Perspektive betrachtet. Der zweite Teil widmet sich zentralen Theoriefiguren und theoretischen Diskursen in der Kinder- und Kindheitsforschung. Der dritte Teil behandelt den Schwerpunkt Kinderrechte, Kindeswohl und Kinderschutz und fragt nach Schutz- und Partizipationsrechten von Kindern, ihren Lebensbedingungen sowie Gefährdungen, die in einem Spannungsverhältnis zwischen staatlichen und familialen, aber auch den Interessen der Kinder stehen. Der vierte und letzte Teil des Bandes befasst sich mit empirischen Perspektiven auf Kinder und Kindheit(en) und schafft in der Auseinandersetzung mit Forschungsmethoden und vielfältigen Projekten zu kindheitsrelevanten Themen einen Zugang zum Aufwachsen und den Lebensräumen von Kindern. Neben der Erhebungs- und Auswertungsverfahren werden Ergebnisse quantitativer, triangulativ methodisch angelegter und qualitativer Studien vorgestellt. Erörtert werden methodologische Fragen ebenso wie Entwicklungen und Potenziale, aber auch Grenzen einer gegenwartsbezogenen empirischen Kindheitsforschung. Was bedeutet es beispielsweise, Kinder als Mitforschende einzubeziehen oder sie als Akteur*innen zu befragen? Welche Chancen und Herausforderungen sind damit verbunden? Welche Forschungszugänge werden im Bereich der frühen Kindheit gesucht? Inwiefern unterscheiden sich diese von denen, die zur Erforschung später Kindheit genutzt werden?

Den Auftakt im ersten Teil macht Martina Winkler mit ihrem Beitrag „Kinder, Kindheiten, Kindheitsgeschichte“, in dem sie sich historischen Fragen widmet, in denen Kinder eine zentrale Rolle spielen und Kindheit als historische Kategorie sichtbar wird. Diese dezidiert historische Perspektive setzt sich mit den Entwicklungen der Kindheitsgeschichte als eine der Modernisierung in Europa und Nordamerika auseinander, und behandelt daran anschließend aktuelle Herausforderungen der Kindheitsforschung. Sie gibt darüber hinaus einen Einblick in kontroverse historische Debatten, die sie abschließend sowohl mit dem aktuellen Forschungsstand als auch mit neuen Fragestellungen und Ansätzen in Verbindung bringt.

Der daran anschließende Beitrag von Kristina Schierbaum widmet sich ebenfalls der historischen, sozialen und kulturellen Abhängigkeit von Kindheit und behandelt das Leben von „Straßenkindern“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie arbeitet heraus, wie sich um Stadtkindheit(en) ein disziplinäres erziehungswissenschaftliches Gedächtnis herausgebildet hat und welche Vorstellungen von proletarischer und ostjüdischer Kindheit sich als aufschlussreich erweisen. Dem Topos Straßenkindheit als Form urbaner Kindheit geht sie in einigen Schriften von Janusz Korczak nach und zeigt, wie er die Lebenssituation von „Straßenkindern“ in Warschau beschrieben hat. Daran anschließend fragt sie, inwiefern die Archivierung der Kinderbeobachtungen Korczaks einen Beitrag zur Geschichte der Kindheit leistet.

Der zweite Teil des Bandes beginnt mit dem Beitrag „Kindheitsrhetorik revisited“. Darin nehmen Andreas Lange und Nicole Svorc eine kritische Position gegenüber den bisherigen englischsprachigen Childhood Studies und der soziologischen Reflexion zu Kindheit ein. Sie bauen ihre Argumentation auf die in die 1990er Jahre zurückreichenden rhetorik- und diskursanalytischen Überlegungen zur Repräsentation von Kindheit auf und nehmen eine explizit wissenssoziologisch motivierte interdisziplinäre wie integrative Perspektive auf das Sein und Werden (being und becoming) von Kindern in einer spätmodernen Gesellschaft ein. Daran anschließend analysieren sie exemplarisch ausgewählte Kindheitsrhetoriken und -diskurse und reflektieren interdisziplinäre Herausforderungen einer als „integrativ“ verstandenen Kindheitswissenschaft. Der Autor und die Autorin sprechen sich für eine sich öffnende und weniger „arkanhaft-agonal“ argumentierende Soziologie der Kindheit aus.

Die folgenden Beiträge behandeln zentrale Theoriefiguren und Positionen, die das gegenwärtige Forschungsfeld bestimmen Demnach kennzeichnen Kinder als soziale Akteur*innen, „Agency“ und generationale Ordnung die „neue sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung“, die von der Soziologie und der Erziehungswissenschaft mitgetragen werden. Darüber hinaus werden Child Well-being und Konzepte von generationaler Ungleichheit als Zugänge zu Lebenswelten und Lebenslagen von Kindern erörtert und kritisch diskutiert. Zwei Beiträge bündeln die disziplinären und gegenstandstheoretischen Bezugnahmen zu Kindern als Akteur*innen und diskutieren aus soziologischer und erziehungswissenschaftlicher Perspektive das Agency-Konzept.

Dominik Farrenberg und Marc Schulz beleuchten in ihrem Beitrag „Children’s Agency“ die disziplinären Betrachtungsweisen von Kindern als Akteur*innen und fragen nach deren Wirkung und Grenzen. Es werden zwei Perspektiven dargelegt und mit Blick auf den theoretischen Diskurs systematisiert. Zum einen werden Kinder als Akteur*innen aus soziologischer Perspektive charakterisiert – hier sind vor allem die ontologische Unterscheidung zwischen „substantialistischen“ und relationalen Agency-Konzepten wegweisend. Zum anderen führen sie aus, weshalb aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive noch immer Kindheit mit dem Erwachsenwerden verknüpft wird und die (Macht-)Asymmetrie zwischen Erwachsenen und Kindern das Verhältnis von Erziehung und Bildung bestimmt. Darüber hinaus betrachten sie erkenntnistheoretische und empirische Problemstellungen einer Agency-bezogenen Forschung zu Kindern und Kindheiten.

Auch Aytüre Türkyilmaz und Rita Braches-Chyrek nähern sich Agency in der Kindheitsforschung interdisziplinär an. Sie skizzieren basierend auf aktuellen Diskursen theoretische Reflexionen und Herausforderungen in der forschungspraktischen Anwendung des Agency-Konzepts. Die Autorinnen diskutieren diese im Hinblick auf ihre Bedeutung für eine soziologische und erziehungswissenschaftliche Kindheitsforschung und behandeln die Frage nach sozialer Kompetenz und ihrer Bedeutung für Kindheit(en) und Kinderleben. Mit ihrem Systematisierungsversuch akzentuieren sie, dass sich Kinder auf verschiedene Weise ihre Welt handelnd aneignen und Akteurschaft unter Beweis stellen, die, so die Autorinnen, stets Bezüge zu ihrer Position in generationalen und gesellschaftlichen Ordnungsgefügen aufweisen.

Doris Bühler-Niederberger gibt in ihrem englischsprachigen Beitrag einen kritischen Einblick in die Geschichte „guter“ Kindheit. Sie widmet sich Vorstellungen guter Kindheit und stellt das ihr zugrunde liegende normative Muster ins Zentrum. Konkret geht sie der Frage nach, was es bedeutet, dieses Muster, welches immer auch auf Ungleichheit hin angelegt ist, global zu verbreiten. Aus ihrer Sicht ist es unbestreitbar, dass die internationale Gemeinschaft ihre Aufmerksamkeit auf die Kinder der Welt richten müsse, doch berge das normative Muster einer behüteten Kindheit zugleich Risiken, die in der Beziehung zwischen den Generationen ihren Ausdruck finden. Diese soziologische Perspektivierung regt dazu an, das Muster guter Kindheit, wie es öffentlich und wissenschaftsdisziplinär für selbstverständlich gehalten wird, zu überdenken und nicht durch die Abwertung alternativer Muster weiter zu verschärfen.

Susann Fegter und Tobia Fattore führen in die Child Well-being-Forschung ein, der sich auch die Erziehungswissenschaft in immer stärkerem Maße verpflichtet, um sich gezielt mit den Lebenslagen und Lebensräumen von Kindern mit Blick auf Vorstellungen von „guten“ Kindheiten auseinanderzusetzen. Ihr Beitrag behandelt das Forschungsfeld in seinen interdisziplinären Bezügen, steckt theoretische und methodologische Herausforderungen ab und markiert diese am Horizont der Kindheitsforschung. Überdies gehen die Autorin und der Autor exemplarisch auf Studien eines internationalen Forschungsverbundes ein, der explorativ die Fragen untersucht, wie Kinder Wohlergehen während der Corona-Pandemie erlebten, wie sie Wohlergehen für sich fassen und welche Rückschlüsse sich daraus für die Theorieentwicklung ziehen lassen. Zudem werden die Potenziale der Child Well-being-Forschung für eine ungleichheitstheoretisch informierte Erziehungs- und Bildungswissenschaft herausgearbeitet.

Der Beitrag von Anne Wihstutz fragt nach Ungleichheiten in der Kindheit. Sie führt in die Begriffssemantiken Ungleichheit, Unterschiedlichkeit und Ungerechtigkeit ein und erörtert kindheitstheoretische und intersektionale Ansätze der Ungleichheitsforschung. Bezugnehmend auf globale gesellschaftliche Krisen, wird Kindheit entlang der Kategorien Alter, Gender, Race und soziale Herkunft differenziert und nach den Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe gefragt. Exemplarisch werden Schulleistungsbewertungen betrachtet und ungleichheitsproduzierende Effekte besprochen, die anschließend an die empirische Forschung zu Kindheit und Ungleichheit rückgekoppelt werden. Die Autorin greift verschiedene Konzepte der Kindheitsforschung unter ungleichheitstheoretischen Gesichtspunkten auf und stellt intersektional orientierte Forschungsansätze zur Diskussion.

Mit dem ersten Beitrag im dritten Teil richtet Stefan Weyers seinen Blick auf Kinderrechte zwischen Paternalismus und Autonomie und das Unbehagen an der Erziehung. Der Autor diskutiert und kritisiert Paternalismus im Anschluss an Ansätze pädagogischer Ethik, die Pädagogik Janusz Korczaks und die Rechtsstruktur der Kinderrechte. Dabei postuliert er nicht nur, dass das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht des Kindes auf Selbst- und Mitbestimmung und der Verpflichtung Erwachsener, das Kindeswohl zu schützen, nicht aufzulösen sei, sondern auch, dass der Umgang mit der Macht der Erwachsenen in Erziehungsfragen unabdingbar sei.

Im zweiten Beitrag bringt Tobias Franzheld Kindheitsforschung und Kinderschutz miteinander ins Gespräch. Dabei misst er dem Begriff des Kindeswohls eine zentrale Rolle bei, setzt sich mit der Defizitorientierung in der Kinderschutzpraxis auseinander und unternimmt den Versuch, Kinderschutz und Kindheitsforschung zum Begriff des Kindeswohls zu befragen. Damit will er ausloten, inwiefern Berufungen auf Theoriefiguren des Kindeswohls einen Austausch zwischen beiden Forschungsfeldern anstoßen können.

Im dritten Beitrag thematisiert Lars Alberth die Unsichtbarkeit der Kinder im Kinderschutz und erörtert den Befund, dass Kinder in Kinderschutzverfahren weder als Adressat*innen noch Empfänger*innen von Dienstleistungen wahrgenommen werden. Er verweist auf eine Wissenslücke in der Kinderschutzpraxis, die dazu beitragen kann, die Gefährdungslagen von Kindern zu verstetigen. Diese nimmt er zum Ausgangspunkt, wie zentrale Forschungsprogramme zum Kinderschutz die Unsichtbarkeit von Kindern reproduzieren, und skizziert dazu Alternativen.

Der vierte und letzte Teil des Bandes beginnt mit einem Beitrag von Iris Nentwig-Gesemann, in dem sie die Herausforderungen und Methoden zur Erforschung von Kinderperspektiven markiert. Ihr zufolge verlangt die Erforschung von Kinderperspektiven ein multimethodisches Vorgehen. Die Autorin gibt einen Einblick in die von ihr durchgeführten Studien in Kindertagesstätten, die in der Tradition einer praxeologisch-rekonstruktiven und dokumentarischen Kindheitsforschung stehen. Kinder werden als „Gewordene“ adressiert, deren Orientierungen in vielfältigen konjunktiven Erfahrungsräumen verwurzelt sind. Dies kann, so die Autorin, zu einer kinderperspektivisch sensibilisierten, professionalisierten frühpädagogischen Praxis beitragen.

Wiebke Waburg und Alexandra Haustov untersuchen in ihrem Beitrag das Aufwachsen in heterogenen Familien der Migrationsgesellschaft. Dazu greifen sie die migrationsgesellschaftliche Realität heterogener Familien zwischen Anerkennung und Defizit-Zuschreibung auf und betrachten den pädagogischen Umgang mit jener Vielfalt in Kindertagesstätten. Die Autorinnen geben damit nicht nur einen Überblick über Prozesse der Normierung von Kindheit in Familien, sondern gehen auch auf die Wirkmacht von Normen „guter“ Elternschaft ein. Sie schließen an die intersektionale Pädagogik an, die sie als einen möglichen Ansatz zum Umgang mit pluralen Familienformen in Kindertagesstätten vorstellen. Im Rahmen einer eigenen empirischen Analyse untersuchen und diskutieren sie exemplarisch ausgewählte Bilderbücher, fragen nach der Wahrnehmung von Normierungen im Umgang mit Pluralität und Ungleichheit. Die Autorinnen regen an, eigene Privilegien und Benachteiligungen zu reflektieren.

Der Beitrag von Alexandra König und Jessica Schwittek behandelt das Thema Flucht, Ankommen und Integration. Auf einem multimethodischen Zugang aufbauend, rekonstruieren sie die Perspektiven geflüchteter Kinder auf den Prozess ihres Ankommens in Deutschland. Sie arbeiten in ihrer Forschung zu und mit geflüchteten Kindern mit egozentrierten Netzwerkinterviews, Gruppendiskussionen und gesprächsbegleitenden Zeichnungen. In ihrem Beitrag stellen die Autorinnen erste Befunde vor und diskutieren, inwieweit durch die Methodenwahl je spezifische Adressierungen der Schüler*innen vorgenommen und unterschiedliche Daten, aber auch Befunde produziert werden. Daran anschließend, setzen sie sich mit der Frage auseinander, ob und wodurch die jeweiligen methodischen Zugänge zu einer Entschärfung von Machthierarchien in den Erhebungssituationen beitragen können.

Nicoletta Eunicke nimmt in ihrem Beitrag zu generationalen Ordnungen zwischen Familie, Wohnung und Schule bildungspolitische Debatten in den Blick. Sie zeichnet nach, wie Aufmerksamkeiten und Sichtbarkeiten von Familie am Beispiel des schulischen Hausbesuchs aus der Position von Kindern und Lehrkräften verhandelt werden. Sie kritisiert, dass kindliche Erfahrungen mit schulischen Hausbesuchen und die Positionen von Kindern zu diesen bislang nicht untersucht wurden, da nur die Wirkung von Hausbesuchen auf schulische Leistungen von Interesse war. Ausgehend von dieser Beobachtung fragt die Autorin, wie sich die Situierung von Kindern im Verhältnis von Familie und Schule ändern kann, wenn Lehrkräfte in ihr Zuhause kommen, und wie Aufmerksamkeiten für Familie und Sichtbarkeiten von Familie am Beispiel des Hausbesuchs im Verhältnis von Familie und Schule verhandelt werden.

Florian Eßer, Sylvia Jäde und Judith von der Heyde setzen sich mit partizipativer Forschung auseinander und fragen, wie partizipative Forschungsansätze für eine generational reflexive Kindheitsforschung produktiv genutzt werden können. Sie blicken in ihrem Beitrag auf intergenerationale Forschungsbeziehungen, denen sie sich mit dem Konzept der commons annähern. An einem konkreten Beispiel aus ihrer eigenen Forschung zu Kindern als commoners im Feld der Scooter-Fahrer*innen-Szene arbeiten sie heraus, wie es Kindern und Erwachsenen aufgrund ihrer je spezifischen generationalen Positionierungen gelingen kann, gemeinsam einen Beitrag zu partizipativer Forschung zu leisten und Veränderungen anzustoßen. Dabei loten sie auch die eigene Position im Forschungsprozess aus und hinterfragen sie selbstkritisch.

Auch der daran anschließende Beitrag von Miriam Sitter widmet sich partizipativer Forschung mit Kindern und formuliert entlang kindheitstheoretischer und forschungsethischer Reflexions- und Abwägungsprozesse ein Plädoyer für partizipatives Forschen. Sie thematisiert die Informationsvermittlung und Aufklärung von Kindern im Kontext von Sterben, Tod und Trauer. Den frei gewählten Tod eines Familienangehörigen nimmt sie als Ausgangspunkt, um zu beschreiben, inwiefern sich (hinterbliebene) Erwachsene besorgt und hilflos fühlen, einem Kind wahrheitsgemäße Erklärungen für das suizidale Verhalten zu liefern. Daran anschließend setzt sich die Autorin mit der Schwierigkeit auseinander, mit Kindern die todesbezogene Wahrheit zu kommunizieren. Sie zeigt, wie partizipatives Forschen die Themen und Anliegen trauernder Kinder sichtbar machen kann.

Der Band schließt mit einem Beitrag von Miriam Diederichs und Marc Fabian Buck zur ethnomethodologisch-videographischen Kindheitsforschung. Ausgehend von Überlegungen zum Stand der Forschung, fragen sie nach der Bedeutsamkeit videographischen Forschens in der Kinder- und Kindheitsforschung und verbinden Videographie, Akteurstheorien und ethnomethodologisches Forschen miteinander. An einer Szene aus einer Junior-Universität loten sie diese Kombination der Betrachtungsweisen empirisch aus und erörtern, wie im Rahmen ethnomethodologisch-videographischer Kindheitsforschung die Beziehungen zwischen Akteurschaft und sozialer Ordnung sichtbar werden können.

Diskussion

Der Sammelband gibt einen umfassenden Überblick über den heutigen Stand der sozialwissenschaftlichen Kinder- und Kindheitsforschung. Der Akzent liegt auf der deutschsprachigen Diskussion, einige Beiträge stellen aber auch Bezüge zur internationalen, vorwiegend englischsprachigen Diskussion her. Manche Beiträge sind eher soziologisch, andere eher erziehungswissenschaftlich ausgerichtet, einige wenige versuchen beide Zugänge zu integrieren. Die Beiträge umfassen ein weites thematisches Spektrum, wobei manche eher von praktischen Fragestellungen (z.B. der Unsichtbarkeit der Kinder im Kinderschutz) ausgehen, während andere sich innerhalb der Theoriedebatten der Kinder- und Kindheitsforschung bewegen (z.B. der Rhetorik ihrer Diskurse). Die thematischen Schwerpunkte sind in dem Band so angeordnet, dass ein Thema meist an das zuvor behandelte Thema anschließt, was in Sammelbänden sonst eher selten geschieht. Dadurch gewinnt der Band trotz der Fülle der Themen an Übersichtlichkeit und erleichtert die Orientierung.

Die Beiträge unterscheiden sich in ihrem Grad an Positionierung. Manche Beiträge beschränken sich weitgehend darauf, verschiedene Forschungsansätze und Theorien abzubilden, ohne deutlich selbst Stellung zu nehmen, was ein ermüdendes Einerseits-andererseits zur Folge hat. Andere Beiträge formulieren deutlich ihre Kritik an bestimmten theoretischen Diskursen und Argumentationsmustern oder Praktiken z.B. in der Sozialen Arbeit und der Frühpädagogik und präsentieren eigene Alternativen. Diese Beiträge sind wesentlich spannender zu lesen und regen eher zum eigenen Nachdenken an. Die Beiträge unterscheiden sich auch in ihrem Maß an Konkretion und dem Bemühen um Verständlichkeit. Um ein Beispiel zu nennen: Andreas Lange und Nicole Svorc kritisieren in ihrem Beitrag zu „Wissen, Diskurs und Praxis als konzeptionelle Pfeiler einer integrativen Kindheitswissenschaft“ (S. 51–66) zwar zurecht die „arkanhaft-agonale“, soll heißen verständnishemmende Rhetorik mancher Diskurse der Kindheitssoziologie, tun dies aber in einer nicht minder „arkanhaft-agonalen“ Weise (ich nenne diesen Beitrag hier, weil ich mich gerade wegen der Wichtigkeit des Thema besonders darüber geärgert habe). Die forschungs-methodologischen Beiträge im letzten Teil des Bandes zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit Beispielen aus der eigenen Forschung unterfüttert und konkretisiert werden.

Erfreulich finde ich, dass in manchen Beiträgen kritisch auf die eurozentrische Beschränkung der deutschsprachigen Kindheitsforschung hingewiesen wird. In anderen Beiträgen wird auf die bisher unterschätzte Bedeutung des Werks von Janusz Korczak als Orientierungsperspektive für die Kinderforschung aufmerksam gemacht. Dies geschieht besonders eindringlich in dem Beitrag von Kristina Schierbaum zum „Topos Straßenkindheit“ (S. 31–50), in dem sie bisher wenig beachtete Schriften von Korczak vorstellt. In differenzierter Weise wird auch in mehreren Beiträgen die kontroverse Debatte um den Begriff der „Agency“ von Kindern aufgegriffen.

Ich kann hier nicht auf alle 17 Beiträge des Bandes eingehen, sondern will nur einige benennen, die mich am stärksten berührt haben, sei es, weil ich ihre Argumentation besonders problematisch finde, sei es, weil ich sie für besonders gelungen und wegweisend halte.

Strefan Weyers macht in seinem Beitrag „Kinderrechte zwischen Paternalismus und Autonomie“ zurecht auf die Ambivalenzen des Kinderrechtediskurses aufmerksam. Doch wenn er die Machtasymmetrie zwischen Erwachsenen und Kindern zu einem „anthropologischen Faktum“ erklärt und damit den Paternalismus zumindest in seinen „weichen“ Formen rechtfertigt, vernachlässigt er die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die diese Machtasymmetrie immer wieder reproduzieren und den paternalistischen Umgang mit Kindern unausweichlich erscheinen lassen. Statt die scheinbar naturnotwendigen Begrenzungen der Autonomie und Partizipation von Kindern zu beschwören, käme es darauf an, die Machtstrukturen der Gesellschaft so zu verändern, dass auch junge Kinder autonom handeln können, ohne sich zu gefährden. Dies bedeutet für Erwachsene keineswegs, sich aus der Verantwortung für das „Kindeswohl“ davon zu stehlen und sie den Kindern aufzubürden, sondern im Gegenteil ihrer Verantwortung gerecht zu werden, für menschenwürdige Verhältnisse zu sorgen, die auch Kindern zugutekommen. Dies geht über den Horizont pädagogischen Handelns und erst recht von „Erziehung“ hinaus und erfordert vor allem, die eigene Macht über Kinder in Frage zu stellen.

Eine solche Perspektive kommt in dem Beitrag von Lars Alberth zur „Unsichtbarkeit der Kinder im Kinderschutz“ zum Tragen. In seiner Auseinandersetzung mit der Forschung zum Kinderschutz macht er darauf aufmerksam, dass die bisher dominierenden Praktiken des Kinderschutzes die Perspektiven von Kindern ignorieren und so sogar zur Reproduktion der Gewalt gegen Kinder beitragen. Der generational marginalisierte Status von Kindern sei eng mit einem entsprechenden Nicht-Wissen über ihren Zustand verbunden. Wenn die Forschung Genese und gesellschaftliche Bearbeitung von Gewalt gegen Kinder angemessen untersuchen und erklären wolle, so könne dieses Nicht-Wissen um Kinder im Kinderschutz nicht länger ignoriert werden. Ein effektiver Kinderschutz hänge nicht zuletzt davon, inwieweit die Forschung dazu bereit sei, „die generationale Ordnung ihrer Selbstverständlichkeit zu entheben und kindbezogenes Wissen zu berücksichtigen oder gar zu generieren“ (S. 221).

Diese Notwendigkeit wird auch in anderen Beiträgen des Bandes betont, in denen für eine Forschung plädiert wird, die Kinder nicht nur als Informationsquelle oder Randfiguren einbezieht, sondern in der sie in allen Stadien des Forschungsprozesses als Mitforschende agieren können. Besonders eindringlich und mit Beispielen unterlegt geschieht dies in dem Beitrag von Florian Eßer, Sylvia Jäde und Judith von der Heyde, in dem partizipative Forschung mit dem Gedanken der „Commons“ verbunden wird. Darin plädieren sie dafür, die generationale Differenz nicht nur zu minimieren, wie es in partizipativen Forschungsansätzen üblicherweise versucht wird, sondern sie ausdrücklich als Erkenntnisquelle einzubeziehen. Ihnen geht es dabei „um die gemeinsame Verantwortung für einen geteilten Prozess, in dem die Beteiligten ihre Unterschiedlichkeit jeweils anerkennen“ (S. 310). Erst hierdurch werde ein Forschungsprozess auf Augenhöhe möglich, in dem sich für beide Seiten neue Einblicke und Erkenntnisse gewinnen lassen. Indem Forschung analytisch als commons gefasst wird, in der sich commoners mit akademischem und nicht-akademischem Hintergrund begegnen, könne man „der Relationalität des Forschungsprozesses ebenso gerecht werden wie den Ansprüchen der jeweiligen commoners an den Forschungsergebnissen“ (S. 321).

Besonders berührt hat mich das von Miriam Sitter vorgetragene „Plädoyer für das partizipative Forschen mit trauernden Kindern“. Sie kritisiert, dass Studien, die sich auf kindliche Perspektiven konzentrieren, nicht unbedingt bei den genuin eigenen Themen und Anliegen der Kinder ansetzen. Dagegen verbindet sie mit dem Wort „Perspektive“ die Überlegung, was es für trauernde Kinder bedeuten könnte, wenn sie sich forschend und eigenwillig einer auf Trauer bezogenen Thematik mit all ihren gemachten oder auch nicht gemachten Erfahrungen, Gefühlen (auch der anderen) sowie ihren Bedarfen und ungeklärten Fragen, widmen. Für ein partizipatives Forschungsprojekt mit trauerden Kindern sei das deshalb bedeutsam, „weil es die latente Kraft der generationalen Machtungleichheitsverhältnisse, mit denen Kinder in ihrem Trauerprozess auf nachhaltige Weise konfrontiert sein können, als epistemische Dimension ins Visier rücken kann“ (S. 332). Kindern müsse der Raum gegeben werden, ihre eigene Forschungsagenda auf Basis ihrer Lebenserfahrungen zu kreieren. Für ein partizipatives Forschungsprojekt mit trauernden Kindern sollte daher auch im Sinne des epistemischen Potenzials der generationalen Differenz eine Strategie gewählt werden, in der sich Kinder für ihre Teilnahme als Mitforschende „ganz aus ihrer eigenen Überzeugung heraus, d.h. jenseits von zu wenig reflektierten Beeinflussungen durch Erwachsene entscheiden können“ (S. 340).

In manchen Beiträgen des Bandes, die für eine partizipative Kinderforschung plädieren, ist davon die Rede, dass „Kinder beteiligt werden“ müssen. Diese passivierende Ausdrucksweise widerspricht dem Anspruch, Kinder als eigenständige Mitforschende zu verstehen, die ihre eigenen Sichtweisen und Problemdefinitionen zur Geltung bringen können.

Fazit

Der Sammelband gibt einen verlässlichen, übersichtlich strukturierten Überblick über den Stand der deutschsprachigen Kindheits- und Kinderforschung. Die Beiträge thematisieren die Machtdifferenzen zwischen Erwachsenen und Kindern auf verschiedene Weise und beleuchten deren Bedeutung für eine Forschungspraxis, die sich als partizipativ versteht und den Perspektiven der Kinder gerecht werden will, auf je besondere Weise. 

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Prof. a.D. für Soziologie an der Technischen Universität Berlin, Unabhängiger Kindheits- und Kinderrechtsforscher
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ISSN 2190-9245