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Barbara Degen, Marion Keßler et al. (Hrsg.): Ermordet in Bethel?

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 17.10.2025

Cover Barbara Degen, Marion Keßler et al. (Hrsg.): Ermordet in Bethel? ISBN 978-3-7799-8926-4

Barbara Degen, Marion Keßler, Claus Melter (Hrsg.): Ermordet in Bethel? Neue Forschungen zu Säuglingssterblichkeit und Hirnforschung in der NS-Zeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 254 Seiten. ISBN 978-3-7799-8926-4. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.

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Forschung oder Vermutung?

Es gibt wissenschaftliche Veröffentlichungen, denen apodiktisch Wissenschaftlichkeit und Solidität abgesprochen wird. Das ist im wissenschaftlichen Diskurs durchaus erlaubt und belebt den Dialog. Kritik und Klarstellung sind notwendig, vor allem dann, wenn es um Unmenschlichkeit und Verbrechen, wie bei der nationalsozialistischen Euthanasie, geht. Dass die Tötung und Ermordung von „unwertem“ Leben in der NS-Zeit politisches Programm war, sollte heute nicht mehr geleugnet werden. Werden Forschungsergebnisse präsentiert, die diese Unmenschlichkeiten an Ort und Stelle aufzeigen, besteht selbstverständlich das Recht und die Pflicht der Beschuldigten, die Anschuldigungen zu widerlegen, zumindest aber zu relativieren.

Die Bonner Juristin und Frauenaktivistin Barbara Degen, die Sozialpädagogin Marion Keßler, der Sozialarbeiter von der Hochschule Bielefeld und Mitglied der Forschungsgruppe „Bethel im Nationalsozialismus“, Claus Melter und die Geschäftsführerin des Bundes der Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten (BEZ), Margret Hamm, legen Forschungsergebnisse zu medizinischen und anatomischen Untersuchungen, Eingriffen und Tötungen von Säuglingen in Heimen und Krankenhäusern im Nationalsozialismus, ausgewählt am Beispiel des Kinderkrankenhauses „Sonnenschein“ in Bethel, vor. Soweit – so gut und wichtig! Die Veröffentlichungen veranlassen die Hauptverwaltung der Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel zu einer umfassenden, ins Netz gestellten „Klarstellung“. Darin wird bedauert, dass die Öffentlichkeit selbst bei Büchern in Wissenschaftsverlagen nicht mehr vor Falschbehauptungen und Desinformationen geschützt werden kann. Diese in die Nähe von Fake-News-Populisten gerückten Widersprüche sollen durch eine „fundierte inhaltliche Klarstellung“ zurechtgerückt werden. Dem Autorenteam wird vorgeworfen, dass es Belege, Quellennachweise oder wissenschaftlich fundierte Analysen zu den Behauptungen der Tötung von Säuglingen in Bethel nicht gebe. „Fakt ist, dass Fachwissenschaftler und Fachwissenschaftlerinnen, die seit Jahrzehnten zum Themenkomplex von Kranken- und Behindertenmorden forschen, bei all ihren Recherchen in nationalen und internationalen Archiven noch niemals auf Dokumente über 'Kindereuthanasie' in Bethel gestoßen sind“. In Bausch und Bogen wird deshalb die Veröffentlichung als „Falschbehauptung“ deklassiert und dem Autorenteam rundweg „populistische Methoden und Narrative“ vorgeworfen.

Aufbau und Inhalt

Der Titel der Studie „Ermordet in Bethel“(?) ist dem Stolperstein entnommen, mit dem an die in Bethel ermordete Hilde Sommer aus Rheda (1943) erinnert wird. Margret Hamm führt in die Dokumentation ein. Sie weist darauf hin, dass der Grund für die allzu späte Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in Bethel auch darin zu suchen sei, dass die NS-Täter „unter dem Mantel der evangelischen Institution Bethel Schutz vor Verfolgung und Anklage suchten und fanden“ – „Das Gleiche trifft aber auch für die Katholische Kirche zu“.

Im Vorwort macht das Autorenteams auf die außergewöhnlich hohen Zahlen der Säuglings- und Kindersterblichkeit in Bethel aufmerksam und zieht dabei die neuen Forschungsergebnisse nach 2016 heran. Die Sorge – nicht nur des Autorenteams – dass es durch AFD und andere rechtsextreme, faschistische Gruppierungen zu einer „weiteren Faschisierung der Gesellschaft“ kommen könnte, muss ernst genommen und aktiv entgegengetreten werden.

Marion Keßler setzt sich mit dem Beitrag „Säuglings- und Kindersterblichkeit im Nationalsozialismus“ am Beispiel des Kinderkrankenhauses „Sonnenschein“ in Bethel auseinander. In zahlreichen statistischen Auswertungen und Quellenmaterialien zeigt die Autorin auf, dass auch in Bethel die von der NS-Führung und Ideologie ausgegebene Parole praktiziert wurde, dass „ein idiotisch geborenes Kind“ keines Persönlichkeitsschutzes bedürfe. „Die Natur würde dieses lebensunwürdige Geschöpf verhungern lassen. Wir dürfen humaner sein und ihm einen schmerzlosen Gnadentod bereiten“. Die dokumentierten Informationen über die Zustände und Auswirkungen in den anderen Anstalten im Reichsgebiet werden immer wieder auf die Politik und Praxis in Bethel gespiegelt; etwa wenn von Bodelschwingh 1933 vor dem Nazareth-Brüderrat feststellte, dass „für die Erhaltung des Staates die Diktatur die einzige Lösung“ wäre.

Barbara Degen erforscht mit dem Beitrag „Ermordet in Bethel: Säuglings- und Kinder-Euthanasie“, wie mit Hirnforschung und tödlichen Medizinexperimenten gearbeitet wurde. Sie vermisst die objektive Auseinandersetzung der Leitung der Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel mit der Vergangenheit, obwohl in den hausinternen Informationen „das Wissen über das Böse“ zu lesen war: „In die schrecklichen Verbrechen während der Nazi-Herrschaft an psychisch kranken und behinderten Menschen (Zwangssterilisation und 'Euthanasie') war das Personal der Anstalt tief verstrickt“. Die Forschungsnachweise und Dokumente, die sowohl als Originale wie als Zweit-, Drittschriften in Archiven und Bibliotheken auffindbar sind, zeigen auf, dass Leitung und Personal in Bethel der nationalsozialistischen Ideologie anhingen und in ihrer beruflichen Praxis „vorauseilenden Gehorsam“ ausübten. „Auslese“ und „Ausmerze“ waren Vokabeln, die in den hauseigenen Anordnungen immer wieder auftauchen. Vergleiche mit anderen Anstalten, Heimen, Pflegestationen und Krankenhäusern zeigen, dass das Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ ein Selektionsort von Lebenswerten und Lebensunwerten war. Mit dem „Nitsche-Schema“ – 3 x täglich Luminal – wurden die Patienten getötet.

Klaus Melter dokumentiert mit dem Beitrag – „Die nationalsozialistische Ermordung von jüdischen Säuglingen, den Säuglingen von Rom*nja und Sinti*zze, den Säuglingen von Zwangsarbeiterinnen vor allem aus Osteuropa und die Ermordung von als 'erbkrank/​schwach' kategorisierten Säuglingen im Rahmen der 'Euthanasie' in Bethel“- die verbrecherischen und abscheulichen Taten. Als Überblick formuliert er die arische, rassistische NS-Gesetzgebung und geht mit der Frage: „Was geschah im Kinderkrankenhaus 'Sonnenschein' in Bethel in der Zeit des Nationalsozialismus?“ auf die Zustände dort ein. Die Kindersterblichkeit im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ hat sich nach der NS-Machtergreifung verdoppelt. Die Gründe und Ursachen dafür werden, wie Barbara Degen in ihrem Buch „Bethel in der NS-Zeit“ (2014) feststellt, von der Einrichtung bis heute verschwiegen („Bethel-affin“). Melter legt zahlreiche Belege und Dokumente vor, in denen deutlich wird, „dass im Kinderkrankenhaus ‚Sonnenschein‘ in Bethel in der Zeit des Nationalsozialismus Säuglinge systematisch getötet wurden“. Um diese Aussage definitiv zu verifizieren oder zu falsifizieren ist es notwendig, dass das Betheler Hauptarchiv vollständig für weitere unabhängige Forschungen geöffnet wird.

Diskussion

Das Autorenteam weist immer wieder darauf hin, dass die Studie nicht den Zweck habe, nach Schuldigen zu suchen, sondern eine ehrliche, objektive, systematische Aufarbeitung und Aufklärung über die allzu lange, bewusst verschwiegenen Zustände – auch in Bethel – zu verwirklichen. Diese ideologischen und politischen Einflüsse sind nicht Vergangenheit und vergessenswürdig; sie sind auch für heute und morgen bedeutsam.

Fazit

Die in der von der Hauptverwaltung in Bethel aufgeführte virtuelle „Klarstellung“ ist keine; vielmehr vermittelt sie den Eindruck: „Wasch‘ mich, aber mach‘ mich nicht nass!“

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1723 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245