Christine Kirchhoff, Aaron Lahl (Hrsg.): Laplanche kritisch wiedergelesen
Rezensiert von Christopher Steffen, 07.05.2025

Christine Kirchhoff, Aaron Lahl (Hrsg.): Laplanche kritisch wiedergelesen. Beiträge zu Körper, Sexualität und Verführung.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2025.
135 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3394-9.
D: 29,90 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.
Thema und Entstehungshintergrund
Das Interesse an dem französischen Psychoanalytiker Jean Laplanche (*1924; † 2012) reißt nicht ab. In Deutschland wie auch international wird er über die Grenzen akademischer Einzeldisziplinen hinweg und seinem einstigen Anspruch gemäß, „Neue Grundlagen für die Psychoanalyse“ (2011) zu legen, als ein „Erneuerer der Freudschen Psychoanalyse“ (ICI Berlin 2024) rezipiert. Der hier besprochene, von Christine Kirchhoff und Aaron Lahl herausgegebene Sammelband „Laplanche kritisch wiedergelesen – Beiträge zu Körper, Sexualität und Verführung“tritt als Intervention in eben jenes euphorische Rezeptionsklima an. Entsprechend stellen die sechs Beiträge des Bandes zumeist Reflexionen auf verschiedene Probleme Laplanches Werk dar. Dabei wird sich nicht nur inhaltlich mit der Psychoanalyse beschäftigt, sondern dies auch auf Grundlage psychoanalytischer Methodik. Die Prämisse des Sammelbands ließe sich wie folgt formulieren: Wenn in der Rezeption Laplanches „verführerische[m] Theorieangebot“ (S. 7) [1] dieses durchweg als so ungemein ‚anschlussfähig‘ und ‚produktiv‘ erscheint, muss hier etwas verdrängt worden sein. Konfliktarmut und Eindeutigkeit gelten der Psychoanalyse als verdächtig.
Herausgeber:innen
Christine Kirchhoff ist Professorin für Psychoanalyse, Subjekt- und Kulturtheorie an der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU) Berlin und Psychoanalytikerin in eigener Praxis. Aaron Lahl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychologischen Hochschule Berlin und psychologischer Psychotherapeut in Ausbildung (TP & AP). Ihr Sammelband entstand aus der Tagung „Faire travailler Laplanche“ – zu deutsch „Laplanche arbeiten lassen“, eine Variation Laplanches Wendung „Freud arbeiten lassen“ –, die an der IPU stattfand. Zudem gingen vier der, in dem Band versammelten sechs Beiträge aus Qualifikationsarbeiten oder Promotionsprojekten an der IPU hervor.
Aufbau und Inhalt
Einleitung und die sechs Beiträge aus „Laplanche kritisch wiedergelesen“ sollen folgend nacheinander vorgestellt werden.
Aaron Lahls und Christine Kirchhoffs Einleitung, die ebenfalls den Titel „Faire travailler Laplanche“ trägt, ist hier näher darzustellen, da in dieser die Stoßrichtung des Sammelbands nicht nur programmatisch formuliert wird, sondern bereits in Aktion zu beobachten ist. Im Zentrum der Einleitung steht eine, aus Laplanches „Neue Grundlagen für die Psychoanalyse“stammende Skizze der Neufundamentierung eines antiken Tempels. Lahl und Kirchhoff geben nun nicht nur wieder, was Laplanche suchte, anhand dieser Skizzen darzustellen, nämlich das Verhältnis in der Subjektgenese von Selbsterhaltung und Sexualität als das einer Abstützung jener auf dieser. Sie weisen außerdem daraufhin, wie in Laplanches Konzeptualisierung dieses Verhältnisses, die Freuds Behauptung einer Anlehnung der Sexualität an die Selbsterhaltung doch diametral entgegenstehe, eine zentrale Tendenz Laplanches Werk im Allgemeinen ersichtlich werde: die Psychoanalyse, der doch eigentlich ein neues Fundament geboten werden sollte, lediglich eklektisch zu übernehmen und ansonsten zu revidieren. Lahl und Kirchhoff messen somit Laplanche an seinem eigenen Anspruch und folgen ihm so gemäß des Einleitungstitels „Faire travailler Laplanche“ wiederum in seiner Aufforderung, Freud arbeiten zu lassen, also Freud mit Freud zu interpretieren, indem Laplanche auf Laplanche angewandt wird.
Udo Hocks Beitrag „»Die Verführung ist die Wahrheit der Anlehnung« – Freuds Begriff der Anlehnung im Lichte der Allgemeinen Verführungstheorie betrachtet“ schließt insofern an Lahls und Kirchhoffs Beitrag direkt an, als dass jener ebenfalls der Konzeptualisierung des Verhältnisses von Selbsterhaltung und Sexualität gewidmet ist. Hock bietet eine überblicksmäßige Rekonstruktion dieser Konzeptualisierung und deren Entwicklung innerhalb des Werks Freuds, um dann darzustellen, wie Laplanche dem Pfad Freuds Gedanken folgt, wo Laplanche diesen verlässt und welche Rolle dies letztlich in seiner allgemeinen Verführungstheorie spielt.
Henning Lampe folgt in seinem Beitrag „Triebtheorie und Metaphysik – Über Laplanches »Heimführung« metaphysischer Begriffe in die Metapsychologie“ der oben dargestellten Stoßrichtung des Sammelbands wiederum ganz explizit. Unter Bezugnahme auf Klaus Heinrichs Projekt, Philosophie als Konflikt- und Verdrängungsgeschichte zu denken, sowie Theodor W. Adornos Kritik der (Heidegger’schen) Metaphysik, unterzieht Lampe Laplanche einer symptomatischen Lektüre. Es werden die Fährten zunächst unscheinbar wirkender Formulierungen aufgenommen und ihre begriffsgeschichtlichen Assoziationen zurückverfolgt. Hierüber wird dann die umso weitreichendere Frage aufgeworfen, ob Laplanche Freud’sche Kernbegriffe, wie den des Triebs als einem „Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem“ (Freud 1915c, S. 214), in allzu abstrakte „Verstandeskategorie[n]“ (S. 47) überführe und dabei den Körper aus der theoretischen Reflexion verdränge.
Christine Kirchhoff liefert in ihrem Beitrag „Die Negativität des Ursprungs – Oder: Zur Repräsentation des Körpers in den Theorien Jean Laplanches und Melanie Kleins“ eine Gegenüberstellung zweier psychoanalytischer Größen und weist dabei Beiden Probleme in Bezug auf ihr Denken von Körperlichkeit nach. Klein schenke mit ihren drastischen Darstellungen der Erlebniswelt des Säuglings der „Unmittelbarkeit des Körperlichen“ (S. 69) eine adäquate sprachliche Form, reflektiere aber nicht auf den erkenntnistheoretischen Status dessen. Laplanches Kritik Kleins und des kleinianischen Diskurses gibt Kirchhoff zwar Anlass zur Auseinandersetzung mit jenen erkenntnistheoretischen Fallstricken, verlöre selbst aber wiederum den Bezug zu der von Klein sprachlich eingefangenen unvermittelten Körperlichkeit. Letztlich schlägt Kirchhoff vor, mit Hegel Körperliches als immer schon „nachträglich“ (S. 68, Herv. i. O.) rekonstruiert und so theoretisch nie ganz einzuholendes zu denken und argumentiert so für eine „Negativität des Anfangs“ (ebd.) des Psychischen aus dem Körperlichen heraus, ohne dass deswegen eine Identität zwischen diesen bestünde.
Auch Hauke Kromminga liest in seinem Beitrag „Übersetzungsreste – Zur Kritik von Jean Laplanches Verdrängungsmodell“ Laplanche symptomatisch, das aber weniger aus Richtung des Körpers als vielmehr aus der der Gesellschaft. Gesellschaft als gewaltvollem Herrschaftszusammenhang sowie die Verstrickung psychischer und subjektgenetischer Prozesse wie dem der Verdrängung mit jenem ignoriere Laplanche laut Kromminga nämlich. Ferner lasse sich die zentrale Bedeutung, von der Kommunikation in Laplanches Theorie sei, in den Kontext spätkapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse ab Ende des 20. Jahrhunderts rücken, in denen individuelle Kommunikationskompetenzen fürs obligatorische ‚Networken‘ unerlässlich geworden sind. Laplanches seichte Formulierungen und sprachliche Metaphern verschleierten gar die gewaltvolle Dimension von Vergesellschaftung unter diesen Bedingungen des Spätkapitalismus. Demnach sei Laplanche sich gesellschaftlicher Herrschaft nicht nur abstrakt nicht bewusst, er wisse auch im konkreten nicht um die konstellierte Allianz, in der sich seine Theorie mit jener befände.
Anna-Myrte Palatini widmet sich in ihrem Beitrag „Über das Negative bei Laplanche – Probleme und Potenziale für einen kritischen Sexualitätsbegriff“ zunächst der impliziten Negativität Freuds und der expliziten Laplanches Sexualtheorie. Negativität meint die Annahme eines unverfügbaren Anteils, Rests oder Kerns, hier von Sexualität. Über einen kurzen Diskurs zu Adornos Aufnahme gesellschaftskritischer Momente Freuds Werk wird dann dazu übergegangen, aktuelle post-Laplanche’sche (und -Butler’sche) Diskurse um Sexualität zu kritisieren. Zwar werde in diesen häufig die Negativität von Sexualität behauptet. Durch die abstrakte Voraus-Setzung der Negativität werde diese aber nicht länger am Grunde von Konflikten zwischen Individuum und Gesellschaft vorgefunden, sondern quasi als unerschöpfliches Reservoir nicht-identischen Begehrens verdinglicht, was wiederum aktuelle gesellschaftliche Aufforderungen zur Flexibilität und zum ständigen ‚Sich-Neuerfinden‘ affirmiere.
In „»das Geschlecht, und dessen säkularer Arm, könnte man sagen, der Kastrationskomplex« – Überlegungen zu Geschlecht und Kastration nach Jean Laplanche“ widmet Aaron Lahl Laplanches Wendung vom Kastrationskomplex als säkularem Arm des Geschlechts eine Ausdeutung. Hierzu rekonstruiert Lahl zunächst Freuds Verständnis des Kastrationskomplexes und dann Laplanches Geschlechtertheorie. Dabei wird auch darauf hingewiesen, an welchen Stellen Freuds Theorie Probleme aufweise, wie Laplanche diese konfrontiere und löse sowie mit welchen Vorteilen und Problemen wiederum seine Theorie daherkäme. Über einen Exkurs zur früh-neuzeitlichen Hexenverfolgung in Europa „als Episode der kulturhistorischen Durchsetzung einer binären und kastrativen Symbolisierung von Geschlechterdifferenz“ (S. 130) kann Laplanches Wendung letztlich als Verweis auf diese Episode als historischem Hintergrund des Kastrationskomplexes verstanden werden.
Diskussion
Die Beiträge aus „Laplanche kritisch wiedergelesen“ ergänzen einander mit ihren klaren Rekonstruktionen sowie innovativen Interpretationen und Kritiken. Insbesondere in Hocks und Lahls Beiträgen kommt Laplanche selbst zu Wort. Seine Begriffe und Theorien sowie deren Entwicklungen werden nachvollziehbar dargelegt, was überaus erhellende Einsichten aus den Tiefen Laplanches Werk fördert. Jene Beiträge dürften so sowohl für Lesende, die noch weniger vertraut mit Laplanche sind, als auch für Laplanche-Kenner*innen sehr erkenntnisreich sein. In den Beiträgen Lampes, Kirchhoffs, Krommingas und Palatinis rückt die ausdeutende Rekonstruktionsarbeit tendenziell in den Hintergrund, sodass umso innovativeren Interpretationen und Kritiken eine Bühne geboten werden kann. Obwohl es sicher hilfreich ist, mit der, von Kritischer Theorie und insbesondere dem Denken Theodor W. Adornos inspirierten Lesart der Psychoanalyse, wie sie den letzteren Beiträgen unschwer erkennbar zugrunde liegt, vertraut zu sein, ist dies keine unbedingte Voraussetzung für ihr Verständnis.
Doch ohne Widersprüche kommt der Sammelband nicht aus. So scheinen sich die Autor*innen in ihren Interpretationen und Einschätzungen Laplanches Werk gar nicht so einig. Während nämlich Palatini die einseitige Affirmation „neosexueller Begehrensökonomien der Fluidität, Flexibilität, Multiplizität“ (S. 110) im Anschluss an Laplanche als Symptom entsprechender gesellschaftlicher Verhältnisse kritisiert, betont Lahl positiv, dass Laplanche Geschlecht weder „als harte[n], identitsche[n] Kern“ (S. 126) denke, noch einer „postmoderne[n] Lobpreisung der Fluidität“ (ebd.) verfalle. Auch Lahls Rekonstruktion Laplanches Verweis auf die geschichtliche Genese des Kastrationskomplexes aus der Etablierung einer binären Geschlechterordnung heraus widerspricht wiederum Krommingas Kritik an Laplanche, dass er gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse nicht beachte. Lassen wir uns aber von der eingangs geschilderten, genuin psychoanalytischen Denkbewegung des Sammelbands erfassen, brauchen wir weder Widerspruch noch Kontroverse zu fürchten und können diese Vielstimmigkeit im Gegenteil als anregend und erkenntnisfördernd begrüßen.
Fazit
Der Sammelband „Laplanche kritisch wiedergelesen“, herausgegeben von Christine Kirchhoff und Aaron Lahl, bietet kritische Auseinandersetzungen mit Jean Laplanches Werk. Die teils stark rekonstruktiven teils sehr kritischen Beiträge halten sowohl für Lesende, die mit Laplanches Werk noch weniger vertraut sind als auch für Laplanche-Kenner:innen spannende Einsichten bereit. Sie regen zum kritischen Nachdenken und womöglich die ein oder andere Kontroverse an.
Quellen
Freud, S. (1915c). Triebe und Triebschicksale. GW 10, S. 209–232.
Institute for Cultural Inquiry ICI Berlin (2024). Erneuer der Freudschen Psychoanalyse – 100 Jahre Jean Laplanche – Vortrag von Hélène Tessier. https://www.ici-berlin.org/events/100-jahre-jean-laplanche/
Laplanche, J. (2011). Neue Grundlagen für die Psychoanalyse – Die Urverführung. Psychosozial.
[1] Wenn nicht anders ausgewiesen, beziehen sich Seitenverweise auf den besprochenen Sammelband.
Rezension von
Christopher Steffen
Masterstudent und Mitarbeiter von Prof. Dr. Phil C. Langer (Psychoanalytische Sozialpsychologie) an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin
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