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Timo Storck: Krisen auf der Couch

Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 19.05.2025

Cover Timo Storck: Krisen auf der Couch ISBN 978-3-608-98877-2

Timo Storck: Krisen auf der Couch. Aufgaben der Psychoanalyse in apokalyptischen Zeiten. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2025. 196 Seiten. ISBN 978-3-608-98877-2. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR.

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Thema

Timo Storck weist der Psychoanalyse Aufgaben für eine apokalyptische bzw. postapokalyptische Zeit zu; zum einen scheint sie prädestiniert für die Funktion, denn sie ist selbst von der „Vernichtung“ bedroht. Zum anderen hat sie einen geradezu privilegierten Zugang zu der Problematik, beschäftigt sie sich doch wesentlich mit destruktiven Affekten wie Hass, Neid und Wut, pathologischem Narzissmus und verwandten Phänomenen. Mit dem Todestrieb als Konzept kann sie ein Alleinstellungsmerkmal beanspruchen – und könnten nicht einige Phänomene wie die forcierte Ressourcenvernichtung durch exzessiven Konsum zumindest in den Industrieländern für die Existenz eines Todestriebes sprechen?

Autor

Timo Storck (*1980) ist seit 10/2015 Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie mit Schwerpunkt Tiefenpsychologie an der Psychologischen Hochschule Berlin. Er hat in Bremen Psychologie, Religionswissenschaft und Philosophie studiert und war wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Bremen, Kassel und Wien. 2010 legte er eine Dissertation zu künstlerischen Arbeitsprozessen an der Universität Bremen vor; 2015 habilitierte er sich mit einer Arbeit zum Verstehen von Teamprozessen in der teilstationären psychosomatischen Therapie an der Universität Kassel. Er ist Psychoanalytiker der DPV/IPV und psychologischer Psychotherapeut. Storck hat zahlreiche Bücher und Artikel publiziert; einer seiner Schwerpunkte ist die psychoanalytische Filminterpretation. Neben der Produktivität als Autor ist Storck auch Herausgeber und Mitarbeiter mehrerer Zeitschriften bzw. Buchreihen, z.B. der „Psyche“.

Entstehungshintergrund

Das Buch bildet den Ertrag der Tätigkeit des Autors im Wintersemester 2024/25 ab, als Storck Fellow am Käte Hamburger Centre for Apocalyptic and Post-apocalyptic Studies der Universität Heidelberg war.

Aufbau

Der Aufbau dieser gehaltvollen Arbeit ist in 6 Kapitel gegliedert mit teilweise recht kryptischen Überschriften. Man ahnt: Hier hat jemand etwas Neues zu sagen, abseits des mainstreams.

1 Einleitung: Kriegt die Psychoanalyse die Krise? (S. 9–33)

2 Zugänge zu Krisenzuständen und krisenhaften Prozessen (S. 41–80)

3 Subjektive Zeit und Weltuntergang in psychischen Erkrankungen (S. 82–111)

4 Das Ende des Menschen: Posthumanismus oder Postinhumenismus? (S. 115–139)

5 Zeitenwenden: Über den emanzipatorischen Auftrag der Psychoanalyse (S. 140–157)

6 Postapokalyptische Folgerungen: Vorträglichkeit (S. 158–161)

Literatur

Stichwortverzeichnis

Inhalt

Ein großer Teil dieses kompakten Textes befasst sich mit der Neubetrachtung psychoanalytischer Konzepte und Methoden als Versuch, die Psychoanalyse als Kultur- und Gesellschaftswissenschaft zu interpretieren/zu erhalten? Oder zumindest ihr eine Eignung als solche zuzuerkennen.

Storck geht dabei vom klinischen Gebrauch der Psychoanalyse aus, verwendet aber wie immer zahlreiche Illustrationen aus Filmen. Diese filmanalytische Kasuistik ist gewissermaßen sein Exempel für die Tauglichkeit der Methode. Er benutzt aber auch diverse analytische Topi außerhalb klassischer Anwendungen bzw. im Sinn von Neuinterpretationen. Das beginnt bei Freud-Texten, die unter der Bedingung des Krieges in der Gegenwart ohnehin eine neue Aktualität beanspruchen können. Im Lichte einer intersubjektiven Lesart erscheinen sie, als wären sie für ein Gegenwartspublikum geschrieben.

Texte wie Hartmanns (1939): „Die Ich-Psychologie und das Anpassungsproblem“, die in der Vergangenheit als Kapitulation der Ich-Psychologie vor dem Kapitalismus gelesen wurden (vgl. Jacoby 1990), befreit Storck von der Politischen Engführung und gelangt so zu einer neuen Perspektive.

Als den zentralen Text für diese neue Lesart analytischer Klassiker wählt Storck Donald Winnicotts Aufsatz (1974): „Die Angst vor dem Zusammenbruch“. In seiner Neuinterpretation des „Fear of Breakdown“ ist der Zusammenbruch bereits geschehen, liegt aber vor der Grenze der Erinnerung des Subjekts und enthält die frühe Separation des Kleinkinds. Diese verdrängte Erfahrung stelle gewissermaßen die menschliche Urkatastrophe dar und begründe die Problematik des postapokalyptischen Denkens. Im Fallen und Gehalten werden liegt nach Storck der Moment der Subjektwerdung und gleichzeitig die Möglichkeit des Scheiterns. Wie schon bei Axel Honneth (1990), der sein Anerkennungskonzept psychologisch wesentlich auf eine konsequente intersubjektive Interpretation Winnicotts stützt, kann Storck dem Text Winnicotts wesentliche methodologische Erweiterungen entnehmen, die als Gerüst für eine gesellschaftswissenschaftliche Diskussion psychoanalytischer Gedanken trägt. Er knüpft damit an den Dialog mit der kritischen Theorie an und zeigt einen Weg auf, eine kritische Theorie der Persönlichkeit mit der kritischen Theorie der Gesellschaft zu verbinden.

Auch wenn dann im weiteren Text eher traditionell auf das szenische Verstehen als Kern der Kulturanalyse im Sinne Alfred Lorenzers zurückgegriffen wird, macht Storck doch sehr deutlich, wie die Psychoanalyse als Wissenschaftstheorie und Methode gebraucht werden kann, Prozesse neuer gesellschaftlicher Verfallserscheinungen zu untersuchen und zu verstehen. Auch wenn sich die Untersuchung Storcks sehr an den erkenntnistheoretischen Grundlagen abarbeitet und zu den eigentlichen Zerstörungen noch wenig Stellung bezieht, ist diese Vor-Arbeit sehr hilfreich und sogar didaktisch für alle, die sich erstmals mit der psychoanalytischen Sozialpsychologie beschäftigen.

Schließlich bringt der Autor weitere psychoanalytische Konzepte, wie etwa das der Nachträglichkeit, in den Diskurs und zeigt auf, wie diese mit dem psychoanalytischen Störungs- bzw. Veränderungsmodell in Zusammenhang stehen, selbst bei Krankheitsbildern wie Angststörungen, Depression und Schizophrenie als Beispiele des individuellen Zusammenbruchs bzw. des Verlusts der Freiheit des Subjets. Er beschreibt diese Krankheitsformen als Möglichkeit des anthropologischen Scheiterns, nicht als biologische Fehlfunktionen mit eigenen Gesetzmäßigkeiten.

Schließlich der Sprung auf die Ebene der Gesellschaft mit kollektiven Krisen und Möglichkeiten des katastrophischen Scheiterns: Auf dieser Ebene haben wir es mit Rassismus und anderen Formen der Fremdenfeindlichkeit zu tun, aber auch mit (weiteren) Vorurteilsbildungen, kollektiven Verdrängungen, Ressourcenvernichtung, Klimazerstörung, Zerstörung der Biodiversität. Die Phänomene unterscheiden sich natürlich von individueller Pathologie, gehen aber mit kollektiven Abwehrmechanismen einher, die die Realität ähnlich massiv verzerren wie individueller Wahn.

Der Sprung vom Einzelnen in die Gesellschaft ist methodisch anspruchsvoll, aber bereits von Freud in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ in Angriff genommen worden: wenn ich es richtig sehe, schließt sich Storck den Akteuren der Kulturanalyse an (Lorenzer, Leithäuser, Vollmerk).

Am Ende steht nun die Frage: Bedarf es noch der Psychoanalyse und wenn ja, wozu? Unter 5.2. postuliert Storck unter der Überschrift „Die gesunde Gesellschaft und die vier Aufgaben der Psychoanalyse“

  • Die Anerkennung von Verunsicherung und Ängsten
  • Das Aufnehmen einer Trauerarbeit
  • Die Betrachtung des Ungewissen als Offenheit
  • Das Etablieren einer dialogisch-differenten Reson

Diskussion

Ob diese Themen die signifikanten Aufgaben der Psychoanalyse sein werden, muss hier offen gelassen werden. Immerhin hat die Gesellschaft offenbar eine Art von Bedrohung erkannt und z.B. an staatlichen Hochschulen innerhalb von Wochen drei neue Professorenstellen für Psychoanalytiker ausgeschrieben, u.a. die renommierte Professur Alexander Mitscherlichs an der Universität Frankfurt, eine Position, die die dortigen Psychologen vor kurzem noch mit allen Mitteln zu verhindern suchten.

Dass die Psychoanalyse so viel mehr ist als nur eine antiquierte verstehende Psychologie, auch wenn sie der kognitiven Neurowissenschaft und der Molekularbiologie nicht verschließt, macht Timo Storck in seinem aktuellen Essay gut nachvollziehbar deutlich.

Ob die umfangreiche didaktische Herleitung zur Psychoanalyse als Wissenschaft nötig ist, sei dahingestellt. Doch ist es heute zweifellos dringend notwendig, die Bedeutung und den Anspruch der Psychoanalyse als Humanwissenschaft und als eine zentrale Basisdisziplin der qualitativen Sozialforschung neu zu begründen. Das ist um so notwendiger, als sich die Psychotherapieforschung immer mehr auf klinische Fragen verengt und die Rolle der Sozialisation als Kulturerwerb und Affektsozialisation immer mehr aus dem Wahrnehmungsfeld der Medizin/​klinischen Psychologie verschwindet.

Auch dieses Buch Timo Storcks kommt zur richtigen Zeit und trägt zur überfälligen Renaissance der Psychoanalyse als kritische Theorie von Subjekt und Gesellschaft bei. Sie muss sich dabei nicht mehr hinter der Tatsache verstecken, dass sie zum großen Teil interpretative Sozialforschung ist. Ihre alte Arroganz sollte aber verschwunden bleiben.

Fazit

Ein ermutigender Beitrag zur Auseinandersetzung mit der globalen Krise der Gegenwart. Lesenswert für alle Angehörigen helfender Berufe und die von der Krise entmutigten Unterstützer eines Humanen Weltuntergangs.

Literatur

Amy Allen (2013): Kritik auf der Couch, Frankfurt: Campus

Russell Jacoby (1990, orig. 1983): Die Verdrängung der Psychoanalyse oder der Triumph des Konformismus, Frankfurt: Fischer

Sigmund Freud (1921): Massenpsychologie und Ich-Analyse

Sigmund Freud (1933): Warum Krieg, in Studienausgabe Band IX, Frankfurt: Fischer

Heinz Hartmann (1939): Die Ich-Psychologie und das Anpassungsproblem, 3. unveränd. Aufl., Stuttgart: Klett, 1975

Axel Honneth (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt: Suhrkamp

Axel Honneth (2018): Anerkennung: Eine europäische Ideengeschichte, Berlin Suhrkamp

Alfred Lorenzer (1974):Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Ein historisch-materialistischer Entwurf. S Suhrkamp

Alfred Lorenzer (1986): Alfred Lorenzer: Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In: Alfred Lorenzer (Hrsg.): Kultur-Analysen. Frankfurt am Main: Fischer 

Jan Philipp Reemtsma (2008): Wie weiter mit Freud, Hamburger Edition

Donald W. Winnicott (1974): Die Angst vor dem Zusammenbruch, in Psyche, Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen; 45. JG. 1991, S. 235–259, Stuttgart: Klett-Cotta

Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Es gibt 44 Rezensionen von Ulrich Kießling.

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ISSN 2190-9245