Stefan Hierholzer: Angewandte Sexualwissenschaft für Care-Berufe
Rezensiert von Prof. Dr. Konrad Weller, 13.05.2025

Stefan Hierholzer: Angewandte Sexualwissenschaft für Care-Berufe. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2025. 354 Seiten. ISBN 978-3-8252-6208-2. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR, CH: 41,50 sFr.
Autor
Stefan Hierholzer, geb. 1985, ist Schulleiter der Pädagogika Fachschule für Sozialwesen in Potsdam und Hochschuldozent für Sozialdidaktik und Sexualpädagogik an verschiedenen Hoch- und Fachschulen.
Thema und Entstehungshintergrund
Da der Autor weder zu sich noch zum Entstehungshintergrund des vorgelegten Buches Informationen liefert, kann der Rezensent lediglich Vermutungen anstellen: Der im Klappentext getroffenen Feststellung, wonach Care-Fachkräfte in all ihren diversen Handlungsfeldern mit Menschen als sexuellen Wesen zu tun haben und dass das Thema Sexualität in der Ausbildung trotzdem nach wie vor oft zu kurz kommt, ist zuzustimmen. Vermutlich arbeitet der Autor in seiner Lehrtätigkeit seit Jahren gegen dieses Defizit an und vermutlich dokumentiert er im Buch Bausteine seiner Dozenten-Erfahrung im Rahmen von Curricula der Ausbildung in „Care-Berufen“.
Aufbau und Inhalt
Im ersten der 14 Kapitel liefert der Autor interdisziplinäre bio-psycho-soziale Zugänge zur Sexualität, wobei er insbesondere auf soziologisch-historische Aspekte sexualkultureller Entwicklung vom Mittelalter bis in die Gegenwart eingeht.
Das zweite Kapitel beschreibt Aspekte der Sexualentwicklung „von der Zeugung bis zur Bahre“ (44). Zunächst werden lebensjahrbezogen einige bekannte Entwicklungscharakteristika der Kindheit mitgeteilt. Hinsichtlich der Pubertät und des Jugendalters wird v.a. Bezug genommen auf Fend (2003), der zwei Entwicklungsaufgaben benennt: „den Körper bewohnen lernen“ sowie „Umgang mit Sexualität lernen“ (58f). Etwas unvermittelt wird in einem Exkurs „Sexualität und Sterben als Teil der Kinder- und Jugendhospizarbeit“ thematisiert (hier werden (sexual-)pädagogische Herausforderungen angesprochen, wie sie der Umgang mit Sexualität im Heim- oder/und Behindertenkontext mit sich bringen). Es folgt ein Abschnitt zu Sexualität im höheren Lebensalter, in dem nach einer Differenzierung von chronologischem, biologischem, psychologischem und sozialem Alter und der Darstellung gerontologischer Altersmodelle die sexuelle Entwicklung von erwachsenen Frauen thematisiert wird. Mit dieser inhaltlichen Fokusierung soll die Dominanz „patriarchaler Denk- und Deutungsmuster“ (68) durchbrochen werden.
Zu den didaktischen Besonderheiten des für die Ausbildung von Fachkräften im Bereich der Sozialen Arbeit gedachten Arbeits-Buches gehört, dass am Ende der Kapitel jeweils Reflexionsfragen und weiterführende Informationsmöglichkeiten aufgeführt werden.
Kapitel drei ist überschrieben mit „Das sexuelle Darstellungsmoment – Sexualität, Medien und Pornografie“, wobei es auf 30 Seiten lediglich um Pornografie geht. Dargestellt werden verschiedene definitorische Perspektiven (die justiziable, die alltägliche, die wertende und die inhaltlich-funktionale) sowie Pro- und Anti-Diskurse. Eingebettet in Befunde zur allgemeinen Mediennutzung von insb. Jugendlichen wird das geschlechtstypische Pornografie-Nutzungsverhalten entlang verschiedener Studien und Internet-Statistiken skizziert. Abschließend werden Fragen des pädagogischen Umgangs mit dem Thema diskutiert, v.a. bezogen auf Vorschläge von Döring (2011) zur Entwicklung vom Pornografie-Kompetenz bzw. „Pornoliteracy“.
Das kurze 4. Kapitel beschreibt die BDSM-Subkultur und entsprechende Praktiken. Der mutmaßliche Begründungszusammenhang der Erörterung besteht in der Vermittlung einer nichtpathologisierenden Sichtweise.
Kapitel 5 befasst sich ausführlich mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Der Autor liefert einen historischen Abriss von der Antike bis zur Gegenwart bezogen auf die religiöse, juristisch/​weltliche und medizinische Normierung von sexuellen Handlungen, der Frauenbewegung seit dem 19. Jahrhundert und der Entwicklung der Queer-Theorie in den letzten Jahrzehnten. In weiteren Abschnitten wird auf Befunde der Coming-Out-Forschung, eingegangen, auf Bisexualitäten, sowie auf Aspekte von trans*- und inter*-Geschlechtlichkeit.
Im 6. Kapitel werden verschiedene sexualitätsbezogene Rechtsnormen dargestellt, beginnend bei internationalen Vereinbarungen zu sexuellen und reproduktiven Rechten (IPPF-Charta 1995, den Yogyakarta-Prinzipien der World Association for Sexual Health/1999) über die Paragrafen des deutschen StGB zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung bis hin zu relevanten Paragrafen des seit Anfang der 1990er Jahre geltenden KJHG.
Das 7. Kapitel widmet sich dem Spannungsfeld von Sexualität zwischen Gesundheit und Krankheit mit dem Fokus auf sexuell übertragbaren Infektionen und ihrer Verhütung.
Die historische Entwicklung der Sexualpädagogik bzw. sexuellen Bildung sind Gegenstand des 8. Kapitels. Es werden unter Bezug auf Valtl (2008) und Sielert (2000) Prinzipien, Ziele, Perspektiven moderner Konzepte in der Tradition der emanzipatorischen Sexualpädagogik erläutert. Hintu kommen Ausführungen zu Didaktik und Methodik sexualpädagogischen Arbeitens sowie die Charakterisierung verschiedener Wirkungsfelder (Elementarpädagogik, Schule, außerschulische Jugendarbeit, Sonder-, Heil- Behindertenpädagogik u.a.). Das Kapitel schließt mit einer kleinen Auswahl konkreter Methoden für verschiedene Zielgruppen.
Unter Kapitel 9 werden historische Entwicklungslinien der Sexualtherapie von Masters und Johnson über Kaplan bis hin zum „Hannover-Ansatz“ von Hartmann (2018) gezogen.
Das 10. Kapitel trägt den merkwürdigen Titel „Sex an Crime – Verbote im Kontext des Sexuellen“ und widmet sich sexuellem Missbrauch und sexualisierter Gewalt. Geboten werden rhapsodische Ausführungen zu Formen sexueller Gewalt, Hell- und Dunkelfeld, Tatkontexten, Risikofaktoren, Folgen und Präventionsstrategien.
Sexualitätsbezogene Normen und Gebräuche in verschiedenen Religionen (frühe Sippen- und Stammesreligionen, Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus) sind Gegenstand des 11. Kapitels.
Im 12. Kapitel wird auf Prostitution eingegangen. Der Bogen wird geschlagen von der Tempelprostitution im Altertum über die Antike und das Mittelalter bis zur Sexarbeit der Gegenwart. Es erfolgt eine kritische Reflexion der gesetzlichen Regelungspraxis in Deutschland und anderen europäischen Ländern der letzten drei Jahrzehnte.
Das letzte Kapitel des Buches widmet sich der Sexualität im institutionellen Kontext. In sehr instruktiver Weise werden die Schritte zur Erstellung sexualfreundlicher Konzeptionen und ihrer Bestandteile im Rahmen eines allgemeinen Qualitätsmanagements erläutert. Ein extra Abschnitt befasst sich mit der Entwicklung von Schutzkonzepten vor sexualisierter Gewalt am Beispiel des Vorgehens unter dem Dach der Diakonie, die seit 2018 anhand eines Rahmenhandbuchs arbeitet und Einrichtungen, die ein entsprechendes Konzept erarbeiten, prüft und mit einem Gütesiegel zertifiziert.
Diskussion
Die Gliederung des Buches, die Themenauswahl und insbesondere deren Abfolge wirken mitunter zufällig und unbegründet. Eine Rahmung, Substrukturierung der Themen, curriculare Bezugnahme, Zielgruppenadressierung hätte gut getan.
Zu einzelnen Aspekten:
Der ontogenetische Blick auf psychosexuelle Entwicklung gerät etwas oberflächlich beschreibend und zu starr auf Lebensjahre bzw. Phasen bezogen. Die psychosozialen Charakteristika der in einer bestimmten biografischen Abfolge auf den Plan tretenden Phänomene bzw. Modi werden nur ansatzweise herausgearbeitet (z.B. die prägende Bindungserfahrung der frühen dyadischen (oralen) Phase, die Autonomieentwicklung der analen Phase; die ödipale Phase, das Einüben des Begehrens, die Triangulierung in Bezug zu erwachsenen Bezugspersonen und der Aufbau einer Inzestschranke tauchen gar nicht auf. Ganz unerwähnt bleibt auch eine prinzipielle Charakteristik kindlicher Sexualität, also ein Eingehen auf die Freud'sche Idee von der Zweizeitigkeit der Sexualentwicklung, woraus sich die qualitative Unterscheidung kindlicher und erwachsener Sexualität ableitet (homologe vs. heterologe Sichtweisen, vgl. Schmidt 2014). Das wiederum ist aus Sicht des Rezensenten die zentrale theoretische Basis zur Orientierung in den aktuellen sexualpädagogik- und kinderschutzbezogenen Debatten (Vorwürfe der „Frühsexualisierung“), in denen sich bewahrpädagogische und sexualfreundliche Sichtweisen unversöhnlich gegenüberstehen.
Trotz aller Zielgruppenerweiterung sind Jugendliche nach wie vor Hauptadressaten sexualpädagogischer Aktivitäten. Insofern gerät die Erörterung des Jugendalters etwas karg und weitgehend empiriefrei. Bezogen auf Mediennutzung fällt auf, dass sich der Autor ganz auf Pornografienutzung fokusiert und den in den letzten 20 Jahren stark entwickelten Formen interaktiver medienvermittelter Sexualität (Dating, Sexting …) keinerlei Beachtung schenkt.
Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches steht neben der Vermittlung diverser sexualwissenschaftlicher Fakten v.a. die sexuelle Bildung. Hier werden einerseits unter Bezug auf Valtl (2008) und Sielert (2000) Prinzipien, Ziele, Perspektiven moderner Konzepte in der Tradition der emanzipatorischen Sexualpädagogik gut zusammengestellt. Andererseits erfolgen z.T. nicht nachvollziehbare, weil argumentativ nicht untersetzte Aussagen, die deshalb allenfalls verwirren, anstatt Erkenntnisgewinn zu liefern, z.B. die Aussage, dass das Konzept der Sexuellen Bildung ein Ergebnis des ‚Pisa-Schocks‘ sei oder dass erst dadurch Sexualwissenschaft und -pädagogik politisiert wurden (195). …
Den Ausführungen zur Sexualtherapie hätte eine Einordnung in den sich historisch vollziehenden Wandel von den Funktionsstörungen zu den Luststörungen gut getan, ebenso wie Hinweise zu Konzepten und Strukturen der Paar- und Sexualberatung, die ja für die Zielgruppe des Buches – i.w.S. SozialpädagogInnen – relevanter sind, als die klinisch eingebundenen therapeutischen Schulen.
Hinweise auf Aus-, Fort- und Weiterbildungskonzepte und -institutionen zu sexuelle Bildung und Beratung und die eigene Verortung innerhalb dieser Strukturen wären sinnvoll gewesen, ebenso eine Erklärung zur Frage, was der Autor mit „Angewandter Sexualwissenschaft“ meint (und ob er die an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Merseburg seit Jahrzehnten dazu entwickelten ausführlichen Erörterungen kennt und teilt).
Mit der Aussage „Sexueller Missbrauch bzw. sexualisierte Gewalt ist streng genommen kein klassisches Thema der Sexualpädagogik …“ (248) liegt der Autor nach Ansicht des Rezensenten völlig daneben. Die Prävention sexualisierter Gewalt und allgemeiner die Thematisierung geschlechtlicher und sexueller Verhältnisse als Macht-, Abhängigkeits- und eben auch Gewaltverhältnisse steht seit Jahrzehnten auf der sexualpädagogischen Agenda. Umgekehrt trifft allerdings zu, dass Prävention sexualisierter Gewalt/​Kinderschutzarbeit häufig nicht sexualpädagogisch eingebunden ist, sondern bewahrpädagogisch agiert, Kinder zu a- oder präsexuellen Wesen erklärt und Schutzkonzepte gegen Entwicklungsförderung stellt. Wenngleich ohne expliziten Bezug zu diesen aktuellen fachpolitischen Konflikten, liefert der Autor allerdings im letzten Kapitel seines Buches eine fachlich profunde Sichtweise, da er die Einbettung von Schutzkonzepten gegen sexuelle Gewalt in sexualfreundliche pädagogische Konzepte fordert.
An sich nicht Thema einer inhaltlichen Rezension, ist kritisch hinzuweisen auf diverse formale Flüchtigkeiten; u.a. werden verschiedene Autor*innen oder Literaturquellen im Text und/oder Literaturverzeichnis falsch geschrieben. Um nur ein Beispiel zu nennen: der Herausgeber der GeSiD-Studie heißt einmal Birken (190) und einmal Bierken (322) und, bezogen auf einen anderen Text dann tatsächlich auch mal richtig Briken.
Fazit
Das vorliegende Buch liefert einen Einstieg zur Entwicklung interdisziplinärer Sichtweisen auf menschliche Sexualität. Es behandelt in unterschiedlicher Qualität verschiedene sexualwissenschaftliche und -pädagogische Themen, die für Fachkräfte in psychosozialen Arbeitsfeldern von Belang sind.
Rezension von
Prof. Dr. Konrad Weller
Professor i.R. für Psychologie und Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg, Diplom-Psychologe (Universität Jena), Analytischer Paar- und Sexualberater (pro familia)
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