Corinna Scherwath, Sibylle Friedrich: Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung
Rezensiert von Dr. Richard Hammer, 04.04.2025

Corinna Scherwath, Sibylle Friedrich: Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2025. 5., überarbeitete Auflage. 248 Seiten. ISBN 978-3-497-03303-4. D: 33,00 EUR, A: 34,00 EUR.
Thema
Das Thema „Traumatisierung“ gehört in vielen sozialen und pädagogischen Arbeitsfeldern untrennbar zum Alltag. Nicht immer besteht dabei ausreichend Handlungssicherheit. Dieses Überblickswerk zeigt, wie pädagogische Fachkräfte stabilisierend und ressourcenorientiert mit traumatisierten Menschen arbeiten können.
Erkenntnisse aus Trauma-, Hirn- und Bindungsforschung machen die Entstehung von Traumafolgen verständlich – sowohl nach Extremsituationen wie Gewalterfahrungen oder Flucht, als auch bei anhaltenden Bindungs- oder Entwicklungstraumatisierungen.
Neben Symptomen, Risiko- und Schutzfaktoren, Handlungsleitlinien, Methoden und konkreten Verhaltenstipps behandelt das Buch auch das Thema Selbstschutz für Helfende.
Autorinnen
Corinna Scherwath, Dipl.-Sozialpädagogin, Kinder/​Jugendsozialtherapeutin, Fachberaterin für Psychotraumatologie und Traumapädagogik, freiberuflich als Fortbildnerin tätig, leitet das Institut für verstehensorientierte Pädagogik (IversoPaed) in Hamburg.
Dr. Sibylle Friedrich, Dipl.-Psychologin, ist Psychologische Psychotherapeutin und psychologische Beraterin in eigener Praxis, unter anderem in Kooperation mit dem Jugendamt (Adoption und Pflegschaft). Als freiberufliche Dozentin für Traumapädagogik im Bildungsbereich tätig.
Aufbau
Im 1. Kapitel des Buches geht es vor allem um die Erweiterung des Fachwissens zur Gesamtthematik.
Im größten Teil des Buches, dem Kapitel 2 werden Informationen angeboten, welche das Handlungsgeschick im Umgang mit traumatisierten Menschen erhöhen sollen.
In Kapitel 3 geht es um den Selbstfürsorgeaspekt, der zugleich auf die selbstreflektorischen Aspekte in der traumapädagogischen Arbeit hinweist.
Der abschließende Teil des Buches geht vor allem auf gesellschaftspolitische Aspekte zum Thema ein.
Im Anhang finden wir Schaubilder, Tabellen und Vorlagen für Übungen für die traumapädagogische Arbeit.
Inhalt
Nach einer ausführlichen Einleitung, in der die Autorinnen ihre Position deutlich machen, stellen sie im 1. Kapitel zunächst ihr Verständnis von Trauma dar. Es geht über die klinisch-diagnostische Deskription (nach ICD 11 und DSM 5) hinaus. Es wird geleitet von der Devise des kanadischen Arztes und Traumaexperten Gabor Maté: „Trauma is not what happens to you, but what happens inside you“ (S. 22). Deshalb plädieren sie dafür, dem subjektiven Erleben des Menschen in der Konfrontation mit traumatischen Erfahrungen eine höhere Bedeutung zu schenken. „Im Vordergrund steht die Frage, wie jemand das Geschehen subjektiv erlebt hat, und nicht ausschließlich der Aspekt, womit jemand konfrontiert war“ (S. 22).
Im Folgenden gehen die Autorinnen ein auf differenzierte Aspekte im Kontext der Begrifflichkeit „Trauma“. Zunächst auf die Psychobiologischen Reaktionen auf ein Trauma (die traumatische Zange, die Traumatisierung aus der Perspektive des Nervensystems), dann die Symptombildung als Traumafolge (posttraumatische Belastungsstörungen, Entwicklungsverzögerungen als Folge traumatischer Erschütterungen, Instabile Bindungsentwicklung als traumabasierte Folgeerscheinungen, Schuld- und Schamgefühle sowie dissoziative Phänomene) und dann auf die Herausbildung unterschiedlicher Symptome, welche auf ein traumatisches Erleben zurückzuführen sein können.
Die unterschiedlichen Ursachen traumabasierter Symptome zu erkennen, verlangen nach einer differenzierten Anamnese, hier „Biografische Erkundungen“ genannt. Dies ist erforderlich, um einer „inflationären Benutzung und Vereinfachung des Traumabegriffes entgegenzuwirken“ (S. 52). Die Methode dazu wird ausführlich aufgezeigt und – mit Blick auf die Umwelt – es wird auch dargelegt, welche Risiko- und Schutzfaktoren die Entstehung von Traumata verhindern oder anbahnen können.
Der ausführliche 2. Teil des Buches befasst sich mit den Leitlinien traumabezogener Interventionen im sozialpädagogischen Alltag. Hier wird es praktisch, wobei schon das Motto einen warnenden Hinweis gibt: „Erst verstehen – dann handeln“ (P.Moor).
In mehreren Fallbeispielen machen die Autorinnen deutlich, dass der Versuch, den Klienten zu helfen zum Scheitern verurteilt ist, wenn verhaltensorientiert gearbeitet, also versucht wird, die Symptome zu beseitigen. Hilfreich ist ein verstehensorientierter Zugang, der durch folgende Handlungs- und Zielrichtungen gekennzeichnet ist (S. 80):
- Herstellen von Sicherheit
- Reduzierung und Vermeiden von Stress
- Unterstützung von sicheren Bindungsentwicklungen
- Unterstützung von positiven Selbstbildern
- Ressourcenorientierung
Eine wesentliche Grundlage für die traumasensible Arbeit ist die Bereitstellung eines „Sicheren Ortes“, der durch das Wohnumfeld, aber auch durch die Beziehungsgestaltung gestaltet wird. Hilfreich ist hier das Erstellen von klaren Regeln, Rahmenstrukturen und Ritualen. Individuelle Lösungen und Anforderungen in den Alltagsstrukturen beugen einer Überforderung vor und nehmen den Stress, der als größter Risikofaktor für traumatisierte Menschen gilt. Hilfreiche Leitfragen zur Erstellung von Regeln könnten sein (S. 86):
- Fühlt sich das Kind als Teil der sozialen Gemeinschaft?
- Kann es den Sinn der Regel aus einem positiven Blickwinkel erfassen?
- Entsprechen die Anforderungen der Regeln dem Entwicklungsstand und der Stresskompetenz des Kindes?
- Besitzt das Kind ausreichend Steuerungsfähigkeit, um eine Regel zu berücksichtigen?
- Sind die Konsequenzen mit positiven und heilsamen Erfahrungen, statt mit Androhungen und Beängstigung verbunden?
Neben den inhaltlichen Rahmenbedingungen müssen auch die äußeren einen Schutzraum bieten. Wohnräume müssen behaglich gestaltet sein und den Bewohner*Innen muss eine Möglichkeit zur Privatsphäre bereitgestellt werden. Auch die Kontakte zum familiären und persönlichen Umfeld müssen mitberücksichtigt werden.
Eine gute pädagogische Beziehung ist eine weitere Grundlage für eine erfolgreiche Bewältigung des Traumas. Die Fachkraft sollte der „sichere Hafen“ sein, der dem Klienten Sicherheit gibt. Orientiert an der Bindungstheorie schlagen die Autorinnen das Konzept der Feinfühligkeit, Präsenz, Resonanz, Unterstützung bei der Stressregulation und Nähe, Trost und Körperkontakt vor. Gelingt die Beziehungsgestaltung, kann bei den traumatisierten Menschen durch korrigierende Erfahrungen die emotionale Sicherheit im inneren System wiederhergestellt werden.
In der Folge zeigen die Autorinnen konkrete Schritte zur praktischen Arbeit in der Traumapädagogik. Es geht um die Stabilisierung der Persönlichkeit des Klienten und um die konsequente Ressourcenorientierung in der Praxis also um die Gestaltung der Schatzkarte des pädagogischen Alltags, das Wecken von Hoffnung und Optimismus.
Bei der konkreten Arbeit mit dem Trauma geht es darum, „das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen“ und „die Veränderungen von dysfunktionalen Einstellungen und Überzeugungen“ (S. 133). Dies kann in drei Feldern geleistet werden:
- Die Psychoedukation als Unterstützung der Selbstakzeptanz um negativen Selbstbildern entgegenzuwirken, neue kognitive Bewertungen zu schaffen und die Handlungsfähigkeit gegenüber der Symptomatik zu erhöhen
- Die Entlastung traumatisierter Menschen durch Enttabuisierung. Gewalt und Missbrauch ist ein breites gesellschaftliches Problem. Damit kann der Blick geweitet und betroffenen Personen das Gefühl von Schuld genommen werden.
- Und schließlich als drittes Feld die traumasensible Biografiearbeit. In der Beschreibung der Vergangenheit lässt sich das Erlebte in einen Gesamtkontext integrieren und die eigene Leistung zur Lebensbewältigung bewusst machen. Um keine Trigger auszulösen, empfiehlt es sich, Betroffene auf ihre gesamte Lebensgeschichte schauen zu lassen und sie nicht einem wiederholten Erleben der traumatischen Erfahrung auszusetzen.
In den folgenden Kapiteln werde praktische Methoden – unterstützt durch Fallbeispiele – vorgestellt für die Behandlung traumabasierter Störungen der Affekt- und Impulskontrolle. Dazu gehören (162 ff):
- Präventive Entschärfungsmaßnahmen
- Stressbarometer/​Stressskala
- Katastrophenschutz – Strategien zur Distanzierung und Selbstberuhigung
- Skills, Notfallliste und Notfallkoffer
- Katastrophenhelfer*innen – Unterstützung bei Reorientierung und Stressregulation
- Erste Hilfe bei Akuttrauma in der Schockphase und als Stressmanagement in den ersten 4–6 Wochen.
In Abgrenzung und als Ergänzung zur sozialpädagogischen Traumaarbeit stellen die Autorinnen aktuelle psychotherapeutische Hilfen und deren Wirksamkeit vor:
- Trauma-fokussierte kognitiv-behaviorale Therapie (TF-KBT)
- Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)
- Narrative Expositionstherapie für Kinder (KIDNET)
- Traumazentrierte Spieltherapie
- Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT)
- Körper- und Bindungsorientierte Therapieverfahren
- Pharmakotherapie und stationäre Traumabehandlung
Im 3. Teil des Buches kümmern sich die Autorinnen um das Helfersystem. Sie zeigen Wege auf zur Stabilisierung und Selbstfürsorge im Helfersystem als Schutz vor Sekundärer Traumatisierung.
- Übungen zum Schutz vor überflutenden Emotionen
- Übungen zur Genussfähigkeit
- Übungen zur Selbstannahme
- Übungen zum Selbstwirksamkeitserleben
In den Schlussbetrachtungen weisen die Autorinnen noch einmal eindringlich darauf hin, dass es neben der Arbeit mit dem Klienten auch darum geht, gesellschaftspolitische Verantwortung anzunehmen und sich für die Verbesserung von Lebensbedingungen einzusetzen, gepaart mit einer klaren Haltung gegen Gewaltverherrlichung bzw. -verharmlosung und einer Entwertung in der Gesellschaft.
Diskussion
Bereits in der Einleitung formulieren die Autorinnen wichtige Aussagen, die zum einen die Herausgabe der 5. Auflage dieses Buch rechtfertigen sollen, die zum andern aber schon wesentliche Aspekte der Gesellschaft, im spezifischen in der Erziehung, benennen: in zunehmendem Maße dominieren in vielen Kitas und Schulen wieder Straf- und Manipulationssysteme. Auch in der Kinder- und Jugendhilfe „wird der Ruf nach disziplinarischen Maßnahmen und verengten Regelwerken wieder stärker“ (S. 9). Das Kind wird zum Objekt der Erziehung. Dies steht im Widerspruch zum Recht der Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung, wonach körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Behandlungen unzulässig sind. Deshalb ist es „ein zentrales Anliegen traumasensibler Pädagogik (…) dieses Recht für Kinder sicherzustellen und (sozial)pädagogische Maßnahmen grundsätzlich dahingehend zu überprüfen, ob die Würde des Menschen (Art. 1GG) (…) darin berücksichtigt wird“ (S. 11).
Damit sind die Pflöcke eingeschlagen, die wesentliche Grundlage gelegt: „die Traumapädagogik bemüht sich um subjektorientierte Zugänge in radikaler Akzeptanz individueller Entwicklungslogiken. Sie arbeitet im transparenten Dialog mit den betroffenen Menschen. (…) Das Wiederherstellen von Würde durch Wertschätzung, Verständnis und Wahrung von Rechten ist dabei zentrales Ziel“ (S. 16)
In ihrem Buch gelingt es den Autorinnen durch das Einbetten der Theoriegerüste in anschauliche Praxisbeispiele, Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und die eigene Haltung immer wieder zu hinterfragen. Die von ihnen vorgestellten Konzepte setzen auf die Selbstwirksamkeit und die positive Selbstwahrnehmung der Klienten und machen damit deren Wertschätzung deutlich. Anschauliche Übungen helfen den Fachkräften, diesen Weg mit ihren Klienten zu gehen.
Vor allem für pädagogische Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe werden in diesem Buch wertvolle Hilfestellungen finden. Und dies nicht nur für „traumatisierte“ Kinder und Jugendliche. Vieles, was hier zu lesen ist, ist ganz einfach gute Pädagogik, die schon in den Konzepten des „therapeutischen Milieus“ (Fritz Redl) zu finden ist. Redl verwies schon vor vielen Jahren darauf hin das die „Kinder, die hassen“, so sein Buchtitel, in ihrer Kindheit einem permanenten Trauma ausgesetzt waren.
Wichtig erscheint mir auch der Hinweis auf die inflationäre Benutzung des Begriffs „traumatisiert“ (S. 52). Darauf gehen die Autorinnen ausführlich ein und sie stellen in ihrem Buch ausführlich dar, wie die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gestaltet werden muss, die einem „permanenten Trauma“ in ihrer Lebenswelt ausgesetzt waren und wie vorzugehen ist, wenn die Kinder und Jugendlichen aus Kriegsgebieten zu uns geflüchtet sind.
Nicht zuletzt richten sie auch noch den Apell, gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, um die Lebensbedingungen ihrer Klientel, aber auch die Arbeitsbedingungen der Fachkräfte zu verbessern.
Fazit
Eine Fülle an Material ist also in diesem Buch zu finden. Durch seine theoretisch gut fundierte und praxisorientierte Darstellung bietet es hilfreiche Informationen und Anregungen für pädagogische Fachkräfte und auch für Studierende der Sozialpädagogik.
Rezension von
Dr. Richard Hammer
Dipl. Motologe
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