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Abbas Poya (Hrsg.): Afghanistan 2001-2021

Rezensiert von Prof. Dr. Tobias Reichardt, 08.04.2025

Cover Abbas Poya (Hrsg.): Afghanistan 2001-2021 ISBN 978-3-8376-7317-3

Abbas Poya (Hrsg.): Afghanistan 2001-2021. Gewaltideologien und ein Hauch von offener Gesellschaft. transcript (Bielefeld) 2024. 209 Seiten. ISBN 978-3-8376-7317-3. D: 40,00 EUR, A: 40,00 EUR, CH: 48,70 sFr.
Reihe: Globaler lokaler Islam.

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Thema

Der hier besprochene Sammelband widmet sich der jüngeren Geschichte Afghanistans vor der Rückkehr der Taliban an die Macht. Dabei wird einerseits beschrieben, in welchem Ausmaß Afghanistan seit Jahrzehnten von Gewalt und Ideologien beherrscht ist. Andererseits werden Anfänge zu Modernisierung und Entwicklung, „ein Hauch von offener Gesellschaft“ entdeckt, der unter der Schirmherrschaft der Westmächte stattfand.

Herausgeber und Autor:innen

Der Herausgeber Abbas Poya ist Heisenberg-Professor für Reformdiskurse im gegenwärtigen Islam am Department Islamisch-Religiöse Studien der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Die Beitragenden sind Wissenschaftler:innen verschiedener Fachrichtungen und verschiedener Nationalitäten. Einige Autor:innen hatten unmittelbar biographische Berührungen mit den politischen Entwicklungen Afghanistans.

Aufbau und Inhalt

Der Band besteht aus einer Einführung des Herausgebers sowie neun Einzelbeiträgen.

Dehqan Zehma stellt in seinem Beitrag „Der afghanische Marxismus als ‚säkulare Religion‘“ heraus, wie sehr der Marxismus in Afghanistan sowohl in der prosowjetischen als auch in der maoistischen Gestalt der traditionellen, religiösen Mentalität verhaftet geblieben ist. Der Marxismus stellte eine Art Ersatzreligion dar.

Rüdiger Lohlker ist Verfasser zweier Beiträge. Zunächst untersucht er in „Afghanische Mudschaheddin: Sakralisierung der Gewalt“ Bildmaterial aus dem Archiv des Afghan Media Resource Center. Nach Lohlker zeigt sich darin das „Panorama einer von Gewalt geprägten Gesellschaft“, in dem Gewalt religiös aufgeladen werde. Passend dazu analysiert Lohlker in seinem zweiten Beitrag die Ideologie der Taliban als „Theologie der Gewalt“. Dies geschieht anhand eines einschlägigen Werkes von Abdolhakim Haqqani, eines hohen Richters der Taliban. Vergleichend zieht der Autor eine Artikelserie der Zeitschrift as-Somud aus dem Jahr 2010 hinzu, die sich mit den Grundpfeilern des Denkens der Taliban befasst. Lohlker zeigt, wie sehr die Idee des gewaltsamen Dschihad gegen den „Westen“ im Mittelpunkt der Ideologie der Taliban steht.

Abbas Poya beschäftigt sich in seinem Beitrag „Vom Sozialismus zum Sufismus. Reflexionen über die jüngere Geschichte Afghanistans am Beispiel von Ismail Akbar (1950-2015)“ mit der Biografie eines afghanischen „Berufsrevolutionärs“, der sich sein Leben hindurch für eine bessere Gesellschaft einsetzte und zunächst seine Hoffnungen auf den Sozialismus, später auf einen gemäßigten Islam setzte. Akbar verkörpert insofern den „Hauch offener Gesellschaft“, dem das Buch nachspüren will.

Es folgt ein von Poya übersetzter, eingeleiteter und kommentierter Text von Ismail Akbar mit dem Titel „Der Weg der Zukunft“ aus dem Zeitraum 2005/06. Akbar nutzte die Zeit der westlichen Präsenz in Afghanistan zu einem selbstkritischen Rückblick. Er schildert schonungslos die Geschichte Afghanistans und seiner politischen Bewegungen im zwanzigsten Jahrhundert, insbesondere unter den Aspekten der Entwicklung und Modernisierung, und skizziert Ideen für eine bessere Zukunft des Landes.

Der englischsprachige Beitrag von Fakhereh Moussavi „The Situation of Aghan Women during the Western Military Presence in Afghanistan“ beschäftigt sich mit der schwierigen Situation der Frauen in Afghanistan. Deren Lage habe sich in den Jahren 2001 bis 2021 nur eingeschränkt verbessert. Die meisten Frauen, insbesondere außerhalb der Zentren, wurden von den Liberalisierungen kaum oder gar nicht berührt. Der Einfluss des westlichen Bündnisses ging nicht weit genug, um tief greifende und dauerhafte Schritte auf dem Weg zur Gleichberechtigung hervorzurufen.

Sayed Asef Hossaini betrachtet in „Afghan Literature in Transition. Creative Writing and War (2001-2021)“ die persischsprachige Literatur in Afghanistan. Nach dem Sturz der Taliban kehrten exilierte Schriftsteller und Schriftstellerinnen nach Afghanistan zurück. Bücher wurden vermehrt importiert, Verlage gegründet. Eine Café-Kultur des offenen Austauschs entstand. Frauen traten als Autorinnen an die Öffentlichkeit. Inhaltlich kam es zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Patriarchat, Tradition und Gewalt. Es handelte sich allerdings um eine Öffnung, die vom Westen initiiert und beaufsichtigt wurde und die sich auf wenige große Städte, vor allem Kabul, beschränkte.

Beatrice Lipani beleuchtet in „Hazara-Perspektiven auf das ethnische Miteinander in Afghanistan – Das Spannungsverhältnis von Sprache, Identität und Politik“ ethnische Konflikte in Afghanistan aus Perspektive der (marginalisierten) Ethnie der Hazara. Eine große Rolle spielt in ihrem Beitrag die Bezeichnung der Bürger Afghanistans als „Afghani“, die von Angehörigen der Hazara als paschtunische Fremdbezeichnung abgelehnt wird. Dabei ist Lipani wichtig zu zeigen, wie Sprache ethnische Dominanzansprüche ausdrückt und untermauert.

Kefajat Hamidis Beitrag „Strukturwandel der (massenmedialen) Öffentlichkeit in Afghanistan 2001-2021“ betrachtet vor dem Hintergrund Habermasscher Theorie die Entstehung der Medien in der fraglichen Zeit. Dabei stellt er fest, dass eine Entwicklung von Medien – Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern – in erheblichem Umfang stattgefunden hat. Sie stützte sich auf Werbeeinnahmen und ausländische Finanzquellen. Doch habe diese Entwicklung auch problematische Folgen gehabt: Vor dem Hintergrund einer marktliberalen Medienpolitik und eines hohen Anteils privater Medien hätten diese oft eine bestimmte ethnische Ausrichtung gehabt und zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen.

Diskussion

Nicht zuletzt dadurch, dass Afghanistan eines der Hauptherkunftsländer von Asylsuchenden ist, hat die Geschichte Afghanistans für Deutschland Relevanz. Politik, Geschichte und Kultur Afghanistans kommen in den sozialen und pädagogischen Institutionen Deutschlands an. Insofern ist es von praktischem Nutzen sich über diese Hintergründe zu informieren. Auch wer sich in einem weiteren Sinn für die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen islamischer Länder interessiert, wird aus diesem Buch Nutzen ziehen. Der Band versammelt wertvolle Beiträge zum Verständnis der Ideologie der Taliban sowie zur geschichtlichen Entwicklung in Afghanistan. Wir bekommen in zahlreichen Details vor Augen geführt, wie begrenzt und prekär Ansätze zu Demokratie und Liberalität in Afghanistan waren und wie wenig auch zwanzig Jahre westlicher Herrschaft in dieser Hinsicht bewirken konnten. Das Buch zeigt, welche Widerstände Afghanistan auf seinem Weg in die Moderne noch zu überwinden hat und wie stark ein archaisches Religionsverständnis in der Gesellschaft verankert ist. Insbesondere die Beiträge von Zehma, Poya und Akbar führen vor Augen, dass westliche Gesellschaftsmodelle nicht ohne Weiteres auf afghanische Verhältnisse übertragbar sind. Der Versuch einer solchen Übertragung unter westlicher Herrschaft ist gescheitert. Gerade angesichts der derzeit geringen Aussichten von Demokratie und Aufklärung in Afghanistan sind die Bemühungen Poyas und seiner Mitstreiter um eine nüchterne und (selbst-)kritische Betrachtung des Islams und der islamischen Länder zu begrüßen und zu unterstützen. Lösungswege für Afghanistan werden jedoch in diesem Band kaum aufgezeigt, wohl weil gegenwärtig die Hindernisse überwiegen und die Aussichten auf Modernisierungen in naher Zukunft äußerst gering sind.

Fazit

Der Band versammelt hochwertige Beiträge, die die jüngere afghanische Geschichte unter verschiedenen Aspekten kritisch beleuchten. Er ist jedem zu empfehlen, der ein größeres Verständnis für (ausbleibende) Modernisierungen in Afghanistan erwerben will. Dabei ist der Band auch ohne spezielle Vorkenntnisse zugänglich. 

Rezension von
Prof. Dr. Tobias Reichardt
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Es gibt 1 Rezension von Tobias Reichardt.

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ISSN 2190-9245