Kommission Sozialpädagogik (Hrsg.): Sozialpädagogische*s Zeit*en
Rezensiert von Prof. Stefan Müller-Teusler, 16.06.2025

Kommission Sozialpädagogik (Hrsg.): Sozialpädagogische*s Zeit*en.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2025.
307 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7849-7.
Reihe: Veröffentlichungen der Kommission Sozialpädagogik.
Die Herausgeber:innen
Anselm Böhmer, Dr., ist Professor an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Institut für Erziehungswissenschaft.
Zoë Clark, Dr., ist Professorin an der Universität Siegen, Institut für Sozialpädagogik.
Mischa Engelbracht, Dr., ist Professor an der Bergischen Universität Wuppertal, Institut für Erziehungswissenschaft.
Davina Höblich, Dr., ist Professorin an der Hochschule RheinMain, Fachbereich Sozialwesen.
Vicki Täubig, Dr., ist Professorin an der Universität Rostock, Institut für Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik.
Anlass des Buches
Der vorliegende Band ist die Dokumentation der Jahrestagung der Kommission Sozialpädagogik in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), die vom 23. bis 25. März 2023 an der Universität Rostock stattfand. „Das Thema der Tagung wurde gewählt, da sozialpädagogische Praxen in den Handlungsfeldern und deren (wissenschaftlichen) Beschreibungen unweigerlich mit Zeit und Zeitbegriffen arbeiten, dies aber für die sozialpädagogische Theoriebildung bislang wenig Beachtung findet…“ (S. 10).
Das Buch ist in drei Abschnitte unterteilt und enthält neben der Einführung 19 Beiträge. Die Abschnitte sind gegliedert in:
- Zeitdiagnosen und historische Analysen
- Doing time und temporale Anforderungen
- Ausblicke
In der vergleichsweise umfangreichen Einführung in den Band wird erst von Vicky Täubig begründet, wie das Thema die Sozialpädagogik aus verschiedenen Perspektiven und Ebenen berührt und auch formt (auch im Hinblick auf das Selbstverständnis der Disziplin), bevor es dann zum Überblick über die vielen Beiträge geht.
Bernd Dollinger diskutiert unter dem Titel „Sozialpädagogische Diagnosen von Zeit und Gesellschaft“, wie sich Sozialpädagogik und Zeitgeistdiagnosen verhalten. Das ist der erste Beitrag in dem Abschnitt „Zeitdiagnosen und historische Analyse“. Sein Befund lautet: „Mit ihren Zeitdiagnosen hat die Soziale Arbeit teil an den Auseinandersetzungen, in denen die Gültigkeit dieser Zuschreibungen verhandelt wird. Es dürfte für ihre Selbstaufklärung nicht unwesentlich sein, dies umfassender zu erschließen, als dies bislang meist erfolgt“ (S. 39).
„Zur doppelten Reflexivität der Historischen Sozialpädagogik“ ist der Beitragstitel von Stephan Dorf, in dem dieser der Frage nachgeht, wie sich Geschichtwissenschaft und Geschichte der Sozialen Arbeit zueinander verhalten. Ein wesentliches Fazit ist, „dass sich die historische Forschung zur Sozialpädagogik seit den 1990er-Jahren durch eine Reflexivität auszeichnet, mit der nicht nur die Geschichte der Sozialpädagogik, sondern auch die theoretischen Voraussetzungen der sozialpädagogischen Geschichtsschreibung zum Gegenstand der historischen Forschung werden“ (S. 53).
Die „Perspektiven auf Transformation der Sozialen Arbeit in Ostdeutschland“ werden von Julia Hille, Mandy Schulze und Peter-Georg Albrecht aufgegriffen, weil es um eine spezifisch ostdeutsche Genese zur Sozialen Arbeit geht, die über spezifische Phänomene wie Rechtsextremismus hinausgeht. Es ist eine westdeutsche Dominanzkultur, die mit der Wiedervereinigung erfolgt ist. Daher meinen die Autor:innen: „Die Soziale Arbeit in Ostdeutschland benötigt eine erneute Reflexion ihrer Genese, um den kritischen Blick auf Abhängigkeiten professionellen Handelns, die geringe Anwaltschaft für Adressat*innen und schwache Strukturen zu richten und für eine gesamtdeutsche Profession zu stärken“ (S. 67).
Lucia Bruns legt die Basis ihrer Forschung zum NSU-Komplex zugrunde und wirft „Ein[en] Blick zurück auf die Zeit der 1990er-Jahre“ mit dem Fokus auf den Jugendclub Winzerclub in Jena-Winzerla, der als besonders relevant für rechtsextreme Rekrutierung in der Offenen Jugendarbeit bisher galt. Sie weist darauf hin, dass die Blickwinkel auf diesen Jugendclub unzureichend sind, weil bestimmte Strukturen bzw. Kontexte zu wenig beachtet wurden. Dabei ist es nicht eine historische Einzelfrage, sondern es um erweiterte Perspektiven, um generell dem Thema Rechtsextremismus und dessen Genese differenzierter zu begegnen.
Alexander Retkowski vertritt in seinem Beitrag „Naturwissenschaftliche Zeitdiagnosen und ihre Relevanz für die Sozialpädagogik“ die These, dass Soziale Arbeit im Hinblick auf Klima- und Umweltforschung sowie die ökologischen Dimensionen ein Erkenntnisproblem hat, weil diese bisher kaum in sozialpädagogische Forschungen oder in theoretisch-konzeptionelle Arbeiten eingeflossen sind. Er plädiert daher „in diesem Zusammenhang für Ansätze eines erkenntnistheoretischen Verständnisses von Interdisziplinarität zur Analyse des Alltäglichen und der Lebenswelt“ (S. 98).
„Zeit für (mehr) aktivistisches Wissen in der Sozialen Arbeit?“ So lautet die Fragestellung von Rahel More, Caroline Schmitt und Hanna Weinbach angesichts der vielen unbefriedigenden gesellschaftlichen Zustände. Sie konstatieren, „dass sich in den letzten Jahren die Frage nach den Bezügen sozialer Bewegungen und der Sozialen Arbeit wieder und zugleich neu (etwa vor dem Hintergrund der Klimakrise, dem zunehmenden Rechtsextremismus sowie Digitalisierungsprozessen) stellen. Aus unserer Sicht bedarf es hierzu noch eingehender empirischer (Diskurs-)Analysen, um das Verhältnis aktivistischer Wissensbildung im Kontext von sozialen Bewegungen, Selbstvertretungsinitiativen und der Wissensbildung innerhalb der Sozialen Arbeit vertieft zu erschließen“ (S. 112).
Der zweite Buchabschnitt „Doing time und temporale Anforderungen“ beginnt mit einem Beitrag von Barbara Stauber und Andreas Walther. Unter der Überschrift „Doing Transitions in Time“ gehen sie der Frage nach, wie das Verhältnis von Sozialpädagogik und Übergängen auf dem Hintergrund von Zeit aussieht. Sie kommen zu dem Schluss, „das Thema der Zeitlichkeit zu nutzen, um bereits entwickelte Konzepte in temporaler Perspektive neu zu reflektieren, etwa als konsequentes Weiterdenken des Konzepts der Lebensbewältigung“ (S. 130 f.).
„Doing-Time in Übergangsprozessen in Mutterschaften“ ist der Titel des Beitrages von Stefanie Veith, wo es um Bewältigungsverläufe im Übergang in Mutterschaften geht. Sie untersucht im Rahmen ihrer Dissertation, wie sich Gefühle zur Mutterschaft entwickeln und stellt fest, dass es zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und dem individuellen Erleben, die auch mit Ambivalenzen verbunden sind, Diskrepanzen gibt, die zeitlich nicht eindeutig festzulegen sind.
Patrick Leinhos, Yağmur Mengilli und Susanne Siebholz untersuchen in ihrem Beitrag „Time work von Kindern und Jugendlichen“, wie sich ein Spannungsverhältnis zwischen normativen Ansprüchen und handlungspraktischen Ausgestaltungsweisen im Umgang mit Zeit bei jungen Menschen zeigt. Es zeigte sich durch verschiedene empirische Erhebungen, dass es verschiedene Bewältigungsstrategien zwischen institutionellen und gesellschaftlichen Anforderungen und individuellem Zeitmanagement und Bedürfnissen gibt.
Zeit ist frei verfügbar und dann ist sie es doch nicht. Das zeigen Jennifer Hübner, Serafina Morrin und Tim Wersig in ihrem Beitrag „Zwischen Selbstbestimmung und Verordnung“ auf. Es ist der schwierige Spagat zwischen Freiheit und Zwang und zwischen Handlungsmöglichkeiten und Verpflichtungen. Das wird in drei verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit untersucht. Der Fokus auf Zeitlichkeiten kann gewinnbringend sein, wie resümierend festgestellt wird.
Den Blick auf die außerschulische Bildung richten Susann Fegter, Lisa Fischer und Stella März in ihrem Aufsatz „Zeitliche Ordnungen außerschulischer Bildungsräume als analytischer Zugang zu ungleichem Wohlergehen von Kindern“. Hier geht es um das Anliegen, übergreifende Fragen von Bildungsgerechtigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe institutionenübergreifend, lebensweltbezogen und differenzsensibilisiert zu untersuchen. Es gibt zeitliche Ordnungen außerschulischer Bildungsräume, was sich unter anderem als ungleiches Wohlergehen von Kindern erweist.
Bildung bleibt das Thema, was Pia Rother und Ina Kaul in den Fokus nehmen. Unter dem Titel „Keine Zeit zu verlieren“ geht es um Bildungsorganisationen (Kita und Schule) und die Gestaltung von Kindheiten sowie eine damit zugleich durch Erwachsene gerahmte Zeit. Im Sinne einer Optimierung stellt sich heraus, dass es um eine möglichst „optimale Zeit“ (S. 203) mit einer Tendenz zur Verschulung geht, was Fragen nach der Relevanz von Kindheit aufwirft.
Weniger Ungleichheit ist das Ziel 10 der Agenda 2030, was für Nadine Fiebig, Jana Senger und Dorothee Schäfer Anlass ist, das Generationenverhältnis in der Blick zu nehmen, insbesondere den Stellenwert von Kindern und Jugendlichen. Daher ist es „Zeit für eine kritische Auseinandersetzung mit der Positionierung von Kindern im generationalen Machtverhältnis zur Förderung sozialer Gerechtigkeit“, denn unsere Gesellschaft weist hier soziale Ungleichheit auf. Sehr im Sinne der Agenda 2030 nehmen die Autor:innen eine adultismuskritische Perspektive in der Wissensgenerierung und plädieren für eine neue Form der Wissensproduktion, die Kinder und ihre Zukunft als wesentlichen Teil der Weiterentwicklung versteht.
When the hell is going on? ist die plakative Frage, mit der Nina Flack, Florian Eßer, Judith von der Heyde, Sylvia Jäde, Jan Nicolas und Maximilian Schäfer in der Auswertung von vier verschiedenen Forschungsprojekten der Frage nachgeben, „dass Ontopolitiken Zeit(en) implizieren und gleichsam hervorbringen. Durch die relationale Betrachtung wird deutlich, dass Ontopolitiken in (zeitlichen) Zusammenhängen zu betrachten sind und diese gleichzeitig auch mitbedingen. Zeit(en) der Ontopolitiken sind folglich eben nicht permanent und konstant, sondern veränderbar“ (S. 224). Hier steht als Fazit im Raum, inwieweit sozialpädagogisch-professionelles Handeln (unbewusst) Einfluss auf das Leben von heranwachsenden Menschen nimmt. Es bleibt nur die kritische Reflexion, um verfestigenden Strukturen zu entgehen.
Geflüchtete Menschen sind einem Zwang von Zeit ausgesetzt: dem Warten. Erich Esau untersucht, wie sich Umgangsweisen Geflüchteter mit temporalen Anforderungen im Kontext Sozialer Arbeit darstellen. Weil die Regularien so kompliziert und langwierig sind, wird das Warten als verschwendete Zeit erlebt, wobei Soziale Arbeit durch die verschiedenen Angebote ein Sinnkonstrukt in dieser Wartezeit bieten kann, was anhand von empirischen Untersuchungen als Fazit belegt werden kann.
Zeit*en für Professionalisierung diskutiert, wie das Zeitverständnis die Professionalisierung Sozialer Arbeit ergänzen kann. Hannah Goede, Christian Hey-Nguyen, Davina Höblich und Franziska Leissenberger zeigen auf, dass sich unter diesem Blickwinkel eine kritische Perspektive auf „gegen-hegemoniale, widerständige Zeitigung“ (S. 251) entwickeln kann. Es ist wenig verwunderlich, dass Zeitdiktate im Widerspruch zu sozialpädagogischen Prozessen stehen.
Ausblicke ist der III. Abschnitt des Buches überschrieben. Eines dieser (bedauerlichen) Ausblicke ist „Zeiten der Armut“, wo der Titel zugleich Programm ist. Stefanie Albus, Maksim Hübenthal, Phries Künstler, Bettina Ritter und Holger Schoneville gehen dem Verhältnis von Armut und Sozialpädagogik nach. Unter der Zeitperspektive diskutieren sie:
- eine politisch-wohlfahrtsstaatlichen Perspektive,
- eine professions- und organisationsbezogenen Perspektive und
- eine querliegenden Perspektive mit Rückgriff auf den Begriff des Subjekts (S. 268).
Ein wesentlicher Blick ist eine subjektzentrierte Perspektive, bei der es auch um zukünftige Forschungen geht, so eine zentrale Aussage aus dem Beitrag.
Der letzte Aufsatz hat einen ganz anderen Fokus, der bisher nicht erwähnt worden. Marie Frühauf, Sarah Henn, Lisa Janotta, Margret Dörr und Lara Spiegler fragen: „Psychoanalyse − eine zeitgemäße Perspektive für sozialpädagogische Forschung?“ Auch wenn es „unmodern“ erscheint, weil die Beschäftigung mit dem Unbewussten nicht in eine rationale, effizienzorientierte Epoche passt, sehen die Autor*innen hier aus einer psychoanalytischen Perspektive „ein Potenzial für sozialpädagogische Fragestellungen, da sie das Unbewusste als konflikthaftes und ambivalentes Moment eines jeden Individuums und seines Verhältnisses zur jeweiligen Gesellschaft zur anthropologischen Ausgangsannahme nehmen“ (S. 286). Die Autor:innen plädieren nach Sichtung unterschiedlicher Ansätze und Perspektiven für eine spezifische Forschung.
Der letzte Beitrag in diesem Buch ist eine kurze Aussage, die im Rahmen einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe auf der Tagung entstanden ist. Birgit Bütow, Wolfgang Schröer, Stephan Sting, Sarah Blume, Margret Dörr, Mischa Engelbracht, Maria Groinig, Sarah Henn, Franziska Leissenberger, Mandy Schulze, Hanna Weinbach und Meike Wittfeld haben ein „Diskussionspapier zum Umgang mit Gewaltkonstellationen in Forschungsprozessen und Praktika“ verfasst, das drei wesentliche Punkte umfasst:
- Sensibilisierung/Vorbereitung/Prävention
- Krisen/Interventionen
- Aufarbeitung (S. 299).
Diskussion
Es ist schwierig, in einem solchen Sammelband einzelne Beiträge herauszuheben bzw. spezifisch zu diskutieren. Schon in der kurzen Beschreibung der jeweiligen Inhalte der Beiträge ist zu konstatieren, dass diese eigentlich unzureichend sind und nur andeuten können, worum es geht. Zu vielfältig sind die angeführten exemplarischen Handlungsfelder (wenngleich sie überwiegend im Kinder- und Jugendbereich angesiedelt sind), zu unterschiedlich sind die methodischen Zugänge und zu weitreichend sind die Perspektiven. Allen Beiträgen ist der Bezug zu Zeit als normative Kategorie, als Machtfaktor oder als Gestaltungsraum gegeben, mit Ausnahme des letzten Aufsatzes (Psychoanalyse), wo es um die Zeitgemäßheit eines Ansatzes in vermeintlicher Unzeit geht. Es ist den Herausgeber:innen augenscheinlich gelungen, die sehr breite Perspektive eines Kongresses in Buchform abzubilden, trotz der Heterogenität der Beiträge. Die drei Bereiche des Buches sind nicht nur unterschiedlich thematisch ausgerichtet, auch die Verteilung der Beiträge ist ungleich, was aber dem Tagungsspektrum entspricht. Auch wenn es in den Beiträgen vielfach angesprochen wird, so wäre eine Fortsetzung zu wünschen unter dem Blickwinkel einer Theoriedebatte zur Sozialen Arbeit, denn Impulse stehen im Raum, ohne dass es eine spezifische theoretische Verortung gibt. Gerade in Zeiten, in denen Zeit ein Beschleunigungsfaktor ist mit entsprechenden Mechanismen von Ausgrenzung und Schaffung von prekären Strukturen, ist eine professionstheoretische Positionierung unerlässlich und wertvoll.
Fazit
Ein Buch, das in seiner thematischen Bündelung vielfältige Aspekte aufgreift und verschiedene Perspektiven einbringt, die zur Weiterentwicklung des Selbstverständnisses Sozialer Arbeit mehr als relevant sind. Im Hinblick auf die vielen Studien und forschungsmethodischen Zugängen bietet das Buch einen großen Fundus. Es bleibt zu hoffen, dass dieses nicht leicht zugängliche, aber lesenswerte Buch eine Leserschaft findet, die dafür Zeit hat, damit es nicht womöglich einer Beschleunigung zum Opfer wird und für unzeitgemäß erklärt wird. Besonders lobenswert ist auch der Open-access-Zugang, sodass es zumindest online eine weite Verbreitung finden kann.
Rezension von
Prof. Stefan Müller-Teusler
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