Didier Eribon: Eine Arbeiterin
Rezensiert von Dr. Franziska Sophie Proskawetz, 03.04.2025

Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2024. 270 Seiten. ISBN 978-3-518-43175-7. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 35,50 sFr.
Thema und Entstehenshintergrund
„Das ist also ihr Leben gewesen, dachte ich: Das ist ihr Leben gewesen und das ist ihr Alter, das Leben und das Alter einer Arbeiterin. Noch wusste ich nicht, dass ich dieser Aufzählung bald ein drittes Wort würde hinzufügen müssen“ (S. 211).
In seinem Buch „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“ beschäftigt sich Didier Eribon auf 271 Seiten mit dem Leben, dem Alter(n) und dem Sterben seiner Mutter. Ausgangspunkt des Buches ist der Umzug seiner Mutter in eine stationäre Pflegeeinrichtung in der Nähe von Reims. Eribon schildert dabei nicht nur ihren individuellen Lebensweg, sondern greift auch eine Vielzahl gesellschaftlicher Themen auf. Insbesondere setzt er sich mit den Herausforderungen der letzten Lebensphase auseinander – Altern, Pflegebedürftigkeit und Sterben – sowie mit den Belastungen, denen Angehörige in diesem Zusammenhang ausgesetzt sind.
Darüber hinaus thematisiert das Buch den Habitus der (französischen) Arbeiterklasse und damit verbundene politische Einstellungen sowie soziale Ungleichheit und die Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen, insbesondere von Frauen der Arbeiterklasse.
Autor
Didier Eribon (geboren 1953 in Reims)ist ein französischer Soziologe und Philosoph. In seinem 2009 erschienenen Hauptwerk und autobiographischem Roman „Rückkehr nach Reims“ verarbeitet er seine Herkunft aus einem Arbeiterhaushalt und seine davon geprägte Kindheit. Eribon hatte mehrere Gastprofessuren inne und gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen Frankreichs.
Aufbau und Inhalt
Die biografische Erzählung ist in vier Teile gegliedert, auf deren Inhalte ich im Folgenden eingehen werde. Dabei werde ich mich weniger auf die individuellen Erlebnisse Eribons konzentrieren, sondern vielmehr auf jene Aspekte, die zentrale gesellschaftliche Themen der westlichen Welt widerspiegeln und aktuell diskutiert werden.
Teil I
Ausgangspunkt der Erzählung ist der unausweichliche Umzug von Didier Eribons alter und pflegebedürftiger Mutter in eine stationäre Pflegeeinrichtung in Fismes, Frankreich. Wie viele Menschen, deren Eltern pflegebedürftig werden, steht auch Eribon vor zahlreichen Herausforderungen, mit denen er sich im Text auseinandersetzt: Welche Einrichtung ist für die Mutter geeignet? Welche Absprachen müssen mit den Geschwistern getroffen werden? Welche Kosten kommen auf die Familie zu? Und wie oft lassen sich Besuche realisieren, wenn eine größere Distanz zwischen dem eigenen Wohnort und der Pflegeeinrichtung liegt?
Neben diesen organisatorischen und finanziellen Fragen erlebt Eribon auch eine erhebliche emotionale Belastung. Seine Mutter altern zu sehen, ihre zunehmende Hilfsbedürftigkeit zu erfahren und gleichzeitig ihren Widerstand gegen den Umzug ins Heim abzufedern, fällt ihm schwer. Hinzu kommt das schlechte Gewissen gegenüber seiner Mutter, das er mit beruhigenden Floskeln ihr gegenüber („Du wirst sehen, alles wird gut“ (S. 50)) zu mildern versucht. Diese Situation beschreibt er eindrücklich: „In dieser schweren Zeit färbt noch ein anderes, ebenfalls unausweichliches Gefühl die Schwermut, in der man versinkt. Zur Traurigkeit gesellt sich die Angst. […] Man weiß, dass man irgendwann selbst so ein Zimmer bewohnen wird, in einem ähnlichen Altersheim. Zumindest ahnt man es“ (S. 50).
Im weiteren Verlauf der Erzählung setzt sich Eribon auch mit seiner eigenen Kinderlosigkeit auseinander – und mit der Ungewissheit darüber, wer sich eines Tages um ihn kümmern wird. Schon im ersten Teil des Buches greift Eribon zentrale gesellschaftspolitische Herausforderungen auf, die er mit Rückblicken auf das Leben seiner Mutter verknüpft: ihre von Anfang an unglückliche Ehe, geprägt von Distanz und Feindseligkeit, ihre Unterordnung unter ihren Ehemann und die finanziellen Engpässe einer französischen Arbeiterfamilie.
Teil II
Der zweite Teil der Erzählung beginnt mit einer Beschreibung des Pflegeheims, in dem Eribons Mutter nun lebt, sowie der Bewohner*innen und des Heimalltags, einschließlich der angebotenen Freizeitaktivitäten. Eribon betrachtet diese kritisch: „Mir war, als wären das alles nur Scheinaktivitäten, die im pauschalen Sinne für ›Zerstreuung‹ sorgen sollten oder, um es unverblümt zu sagen, dafür, dass sich die Alten beim Warten auf den Tod nicht zu sehr langweilten“ (S. 57).
Er zieht einen Vergleich zwischen dem Pflegeheim und einem Kindergarten – jedoch für Menschen ohne Zukunft. Auch die zwischenmenschlichen Schwierigkeiten im Heim thematisiert er: Konflikte zwischen den Bewohner*innen sind an der Tagesordnung. Seine Mutter, die sich ihre Gesellschaft nicht ausgesucht hat, muss sich nun mit Menschen arrangieren, mit denen sie keine Verbindung empfindet: „Sie musste lernen, mit Menschen umzugehen, deren Gesellschaft sie sich nicht ausgesucht hatte, musste sich mit Menschen vertraut machen, zu denen sie keinen Kontakt wollte, nicht einmal bei den Mahlzeiten“ (S. 59).
Eribon beschreibt eindrücklich, wie schwer es für ältere Menschen ist, sich an eine neue Umgebung anzupassen und mit Mitbewohner*innen zu leben, die ihnen unfreiwillig den eigenen Status quo vor Augen führen. Dies führt ihn zu der Frage, inwieweit eine habituelle Passung in Pflegeeinrichtungen überhaupt eine Rolle spielt: „Es war, als hätten die Bewohnerinnen ihre Vergangenheit vollständig hinter sich gelassen, als hätte die neue Lebenssituation nicht nur ihre Eigenheiten zum Verschwinden gebracht, sondern auch ihren Bezug zu einer Gruppe, ihre Verwurzelung in eine Schicht, einer Klasse, einer geografischen und politischen Konstellation, ihren ›Habitus‹“ (S. 67).
Mit dem körperlichen Abbau seiner Mutter geht eine zunehmende geistige Verwirrung einher. Besonders erschütternd sind ihre starken Halluzinationen, die Eribon zunächst kaum einordnen kann: „Sie lebte in einer Parallelwelt. Es brachte sie zur Verzweiflung, dass ich die Menschen und Tiere, die ihre Wohnung bevölkerten, die Gespenster, die sie zu jeder Tages- und Nachtzeit belästigten, nicht hörte oder sah“ (S. 89).
Neben den Halluzinationen verstärkt sich auch ihre allgemeine Verzweiflung über ihre Situation, was für Eribon eine große emotionale Belastung darstellt. Unerwartet stirbt seine Mutter nur sieben Wochen nach ihrem Einzug ins Heim, ohne dass er sich von ihr verabschieden kann. Er führt ihren Tod auf das sogenannte „syndrome du glissement“ zurück – den Verlust des Lebenswillens, der bei älteren Menschen nach einem plötzlichen Bruch mit ihrem bisherigen Leben auftreten kann.
Ein weiteres zentrales Thema dieses Teils ist der lamentable Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens in Frankreich. Eribon kritisiert den massiven Personalmangel in der Pflege und setzt die Erfahrungen seiner Mutter in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang.
Zudem erzählt er von einem späten Kapitel im Leben seiner Mutter: Drei Jahre nach dem Tod ihres Ehemanns verliebt sie sich erneut – ein Umstand, mit dem ihre Söhne, mit Ausnahme von Didier Eribon, nur schwer umgehen können. Ihr Wunsch nach einer Einäscherung mit christlicher Zeremonie überrascht Eribon, da Religion in der linken Arbeiterschaft, in der er aufwuchs, kaum eine Rolle spielte. Religiöse Feste wurden dort eher als familiäre Anlässe betrachtet, während Kommunionsunterricht vor allem als eine Beschäftigungsmöglichkeit für Kinder diente.
Eribon reflektiert schließlich über den Tod und seine eigene Haltung zu Beerdigungen. Er erinnert sich an die Beerdigung Bourdieus, eine der wenigen, die er je besucht hat, und gesteht, dass er an der Beerdigung seiner eigenen Mutter nicht teilgenommen hat.
Teil III
Zu Beginn des dritten Teils beleuchtet Eribon den mit dem Tod seiner Mutter einhergehenden Rollenverlust. Von nun an ist er kein Sohn mehr – mit dem Tod seiner Mutter verschwinden auch familiäre Verbindungen und das Wissen über Verwandtschaftsbeziehungen. Ein zentrales Thema ist für Eribon zudem der Verlust einer bestimmten Sprache: Der Dialekt, den seine Mutter sprach, wird für ihn in der Form nicht mehr hörbar sein, was ihn zur Reflexion über seinen eigenen gespaltenen Habitus führt – ein Phänomen, das Klassenwechsler*innen oft begleitet: „Der gespaltene Habitus, den man als Klassenwechsler hat, bedeutet auch, dass man zwei sprachliche Register in sich trägt, zwei verschiedene Formen des körperlichen Ethos und dass man bis zu einem gewissen Grad zwischen beiden hin- und herwechseln kann“ (S. 172).
Durch das Lesen von Marx bewahrt Eribon eine Verbindung zur Arbeiterklasse, obwohl er sich von ihr entfremdet hat. Dies beschreibt er als Strategie, um sich selbst einzureden, seine Familie nicht verraten zu haben: „Dies war meine Strategie, meine Familie nicht zu verraten, als ich die Klasse zu wechseln begann, ein Weg, der immer mit einem gewissen Verrat einhergeht. […] Und von diesem Standpunkt aus, vom politischen Standpunkt aus, kann ich sagen, dass ich meine Familie nicht verraten habe“ (S. 202).
Ein weiteres Thema dieses Abschnitts sind die rassistischen und homophoben Denkweisen seiner Mutter und der Arbeiterklasse insgesamt. Diese Einstellungen treten immer wieder zutage und führen zu Konflikten bis hin zur Entfremdung zwischen Eribon und seiner Mutter.
Eribon widmet sich zudem der Rolle des Fernsehens im Leben der Arbeiterklasse. Er beschreibt es als eine Art Traum- oder Fantasiemaschine, die Realität und Fiktion verschwimmen lässt: „Es hob den Unterschied zwischen Realität und Fiktion auf, zwischen wahr und falsch, zwischen Vergangenheit und Gegenwart; es ignorierte die unerbittliche Determinierung durch Klasse, Geschlecht und Alter. Es leugnete die Unumkehrbarkeit des Schicksals, den etablierten Sinn der Existenz“ (S. 195).
Alltagsszenen In diesem kurzen Kapitel gibt Eribon kleine Passagen aus dem Alltag seiner Familie preis. Allesamt Situationen, die die soziale Klasse, aus der er stammt, widerspiegeln.
Teil IV
Das Kapitel beginnt u.a. mit Einblicken in die Werke „Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“ von Elias und „Das Alter“ von Beauvoir. Eribon setzt ein Zitat von Sartre in den Zusammenhang mit dem Alter und stellt fest, dass alte Menschen in vielen philosophischen und theoretischen Kontexten nicht mitgedacht werden – beispielsweise auch bei Merleau-Ponty: „Indem sie Konzepte entwickeln, in denen alte Menschen keinen Platz, keinen Raum haben, ja, noch fundamentaler, in denen alte Menschen keinen Raum, keinen Platz haben können, tragen die Philosophie und die politische Theorie zum Ausschluss des Alters und zur Ausgrenzung alter Menschen bei“ (S. 254–255, Hervorhebung im Original). Eribon kritisiert zudem, dass es keine organisierte Gruppe wirklich alter, geschwächter und hilfsbedürftiger Menschen gibt, die für sich selbst einstehen kann – jenseits von Rentner*innenbewegungen: „Es gibt kein hörbares ›Wir‹, das aus hochbetagten Menschen besteht, weil kein reales ›Wir‹ möglich ist, und daraus folgt, dass auch keine öffentliche Wortmeldung möglich oder auch nur denkbar ist“ (S. 262). Da diese Menschen selbst keine kollektive Stimme haben, sind sie auf die Fürsprache anderer angewiesen – etwa von Fachkräften oder Journalist*innen.
Diskussion
Das Buch liest sich sehr flüssig – ganz anders als „Rückkehr nach Reims“. Es erfordert weit weniger soziologisches und philosophisches Vorwissen und ist in einem literarischen Stil verfasst. Eribon lässt Passagen verschiedener Denker*innen und Schriftsteller*innen einfließen, ohne dass der Text an Leichtigkeit verliert. Besonders eindrücklich ist, wie treffend er die Erfahrungen beschreibt, die man im Umgang mit alten Menschen macht. Viele Leser*innen werden sich in seinen Schilderungen an eigene Erlebnisse in Pflegeheimen erinnert fühlen.
Fazit
Didier Eribon gelingt es in „Eine Arbeiterin“, persönliche Erfahrungen mit gesellschaftlichen Fragestellungen zu verknüpfen und dabei berührend, analytisch und kritisch zugleich zu bleiben. Das Buch sensibilisiert für die Herausforderungen des Alter(n)s, die soziale Ungleichheit und die Unsichtbarkeit hochbetagter Menschen in der öffentlichen Debatte. Eine eindringliche und zugleich zugängliche Lektüre, die zum Nachdenken über soziale Herkunft, Pflege und den Umgang mit dem Alter anregt.
Rezension von
Dr. Franziska Sophie Proskawetz
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