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Herfried Münkler: Macht im Umbruch

Rezensiert von Peter Flick, 10.04.2025

Cover Herfried Münkler: Macht im Umbruch ISBN 978-3-7371-0215-5

Herfried Münkler: Macht im Umbruch. Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. rowohlt Berlin Verlag (Berlin) 2025. 432 Seiten. ISBN 978-3-7371-0215-5. D: 30,00 EUR, A: 30,90 EUR.

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Thema

Die Mentalität der Bürger und der politischen Elite muss sich grundlegend verändern, damit Deutschland als „servant leader“ beim Umbau der Europäischen Union eine aktive Rolle spielen kann – das ist die These von Herfried Münklers Buch „Macht im Umbruch“.

Der Autor sieht die Europäische Union und Deutschland im Zangengriff einer imperial auftretenden US-Regierung und Putins Russland. Es sei deshalb an der Zeit, so Münkler, dass Deutschland seine hamlethafte Zögerlichkeit in europäischen Führungsfragen aufgebe. Bei der Schaffung eines neuen strategischen Machtzentrums der EU, das über eine eigene Armee verfügt, müsse Deutschland eine führende Rolle spielen, wenn sich Europa im geopolitischen Wettbewerb behaupten soll. Den Rückbau der EU zum „Europa der Vaterländer“, wie das die AFD und andere Rechtspopulisten empfehlen, hält er hingegen für einen „politischen Irrweg“.

Autor und Werk

Herfried Münkler (*1951) ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. In seinem zuletzt erschienenen Buch „Welt in Aufruhr“ (2024) entwickelte Münkler schon die Rahmenerzählung eines globalen Kampfs um Einflusszonen, die auch „Macht im Umbruch“ (2005) bestimmt: der liberale Globalismus sei durch eine Ära imperialer Kämpfe der fünf Großmächten USA, Russland, China, Indien und der EU abgelöst worden, in der sich Europa auch als militärische Macht behaupten muss.

Aufbau und Inhalt

Einleitung: Geopolitik, Verteidigung der Demokratie und deutsche Bedenklichkeit (11 ff.)

In seiner Einleitung beschreibt Herfried Münkler die Methode des historischen Vergleichs, die nicht mit einem simplen „Gleichsetzen“ (15) verwechselt werden dürfe. Ein Vergleich könne hingegen den Blick für historische Parallelen schärfen. Die Gegenwart erinnert den Autor in vieler Hinsicht an den „Kampf zwischen Demokratien und faschistischen Regimen in den 1930er und 1940er Jahren“ (18). Die Umbrüche der letzten zehn Jahre hätten nichts von den hochgespannten Erwartungen des Liberalismus übrig gelassen, dass die globalisierte Ökonomie „politischen Feinde in ökonomische Konkurrenten“ (16) verwandeln würde. Im Gegenteil. Eine realistische Betrachtung internationaler Machtbeziehungen zeige, dass der liberale Idealismus einer regelbasierten internationalen Ordnung illusionär war. Statt einer neuen Ära des Kantischen Rechtspazifismus sei vielmehr ein Zeitalter der geopolitischen Machtkämpfe angebrochen.

Kapitel 1 Demokratie im 21.Jahrhundert (37 ff.)

Das erste Kapitel resümiert die bekannten Ursachen der aktuellen Krise der westlichen Demokratien. Das aristotelische Leitbild des „guten Bürgers“, der über politische Urteilskraft verfügt, gilt Münkler nach wie vor als existentielle „Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie“ (49 ff.). Wo der politische Gemeinsinn schwindet, der sich auf einer urteilsfähigen Bürgerschaft stützt, verliere das „politische Kompositum des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats“ (vgl. 58 ff.) seine Stabilität. Der demokratische Rechtsstaat sei zusätzlich durch einen „Populismus“ (64 ff.) an den politischen Rändern bedroht, der durch die „Veränderung der Kommunikation am Ende der Gutenberg-Galaxis“ (77 ff.) begünstigt wird. Zudem diagnostiziert Herfried Münkler eine verhängnisvolle Tendenz zur „Juridifizierung“ demokratischer Entscheidungsprozesse (vgl. 88 ff.). Das trage zu dem in westlichen Demokratien verbreiteten Missverständnis bei, dass demokratische Partizipation die „Durchsetzung von Einspruchsrechten“ (91) beinhalte. Der „Schutz von Schnabelenten“ und anderer Tierarten wird so „zum Hebel bei der Blockierung wichtiger Infrastrukturvorhaben“ (90). Als gravierend bewertet Münkler weiterhin den „Schwund an politischer Führungsfähigkeit“ (93 ff.) in den Demokratien, ein Thema, das in Kapitel 5 vertieft wird.

Kapitel 2 Die Grenzen Europas als geopolitische Herausforderung (97 ff.)

Der Mangel an strategischem Denken zeige sich nicht nur in der Zögerlichkeit der politischen Klasse in Deutschland, die Führung ausschließlich als reaktives und taktisches Handeln verstehe. Gegen den Trend in der Politikwissenschaft will Herfried Münkler eine zu Unrecht vernachlässigte Tradition des geopolitischen Denkens zu ihrem Recht kommen lassen. Nach der Darlegung des Zentralbegriffs der „unklaren Grenzen“ Europas (99 ff.) geht es ihm vor allem um die Geschichte Europas nach 1945. Die „folgenreiche geopolitische Zurückhaltung“ (124 ff.) ist für Münkler von Anfang an ein zentraler Konstruktionsfehler des europäischen Projekts gewesen. Dazu das technokratische Denken, das eine EU-Bürokratie geschaffen habe, die durch ihre Regelungswut zum Hemmschuh geworden sei („Der Fluch der Bürokratisierung“, 136 ff.). Durch die Aufnahme immer weiterer Mitgliedsländer im Rahmen der verschiedenen EU-Erweiterungsrunden hätten dann die „Zentrifugalkräfte“ (133 ff.; 140 ff.) in der EU immer weiter zugenommen, so dass sie heute seine Einheit und Handlungsfähigkeit bedrohten. Die Ausdehnungsrunden der EU stellen für den Autor eine exzessive räumliche Machtausweitung dar, die er mit einem Begriff des US-Historikers Paul Kennedy als „imperiale Überdehnung“ (149) der EU bewertet.

Kapitel 3 Deutschland die Macht der Mitte (155ff)

Kapitel 3 analysiert u.a. in zwei „Ausflügen in die Geschichte des geopolitischen Denkens“ (vgl. 169 ff., 188 ff.), die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen, unterschiedliche Interpretationen der geopolitischen Situierung Deutschland als „Macht der Mitte“.

Kapitel 4 Hat der „Westen“ eine Zukunft (237 ff.)

Das Folgekapitel befasst sich dann wieder mit der geopolitischen Gegenwart. Es beginnt mit der „Infragestellung des Westens“ im Verhältnis USA-Europa“ (254 ff.), behandelt anschließend die Bedrohung der Autonomie Europas durch das russischen „Eurasien-Projekt“ (266 ff.) bzw. die Rolle Deutschlands in diesem Konzept (275 ff.) und befasst sich dann mit „Chinas schleichendem Zugriff auf die Europäische Union“ (291 ff.).

Kapitel 5 Deutsche Führung in Europa? (303 ff.)

Das Schlusskapitel spitzt die Darstellung auf die zentrale Frage zu: „Kann Deutschland die EU politisch führen?“ (358 ff.). Trotz seiner Skepsis angesichts der gelernten „Taktikvirtuosen“ und „Strategiedilettanten“ unter den deutschen Spitzenpolitiker:innen skizziert er „in Umrissen“ den in seinen Augen notwendigen politischen „Umbau der EU“, Er umfasst zwei Vorhaben: 

Hierarchiebildung im Zentrum (345 ff.)

Es soll ein handlungsfähiges, schnell agierendes politisches Machtzentrum in der EU entstehen, das durch einen neuen Vertrag über die „Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik“ (GASP) der EU geschaffen werden könnte. Neben dem „Weimarer Dreieck“, „Deutschland, Frankreich und Polen“, gelten Münkler „Italien und/oder Spanien und eine Vertretung für die skandinavischen und baltischen Staaten und gegebenenfalls auch das Vereinigte Königreich“ (347) als aussichtsreiche Kandidaten für diesen innersten Machtkreis der Europäischen Union, in dem das Vetorecht zugunsten des Mehrheitsprinzips abgeschafft wäre. Deutschland als Führungsnation solle zwar vorangehen und aktiv führen, dürfe sich dabei aber nicht als Hegemonialmacht gebärden, sondern als kluger „primus inter pares“.

Abgeflachte Ränder (350 ff.)

Das zweite Reformvorhaben, das er vorschlägt, sieht eine abgestufte Mitgliedschaft in der EU vor. Um das politische Machtzentrum der EU sollen sich weitere Kreise möglicher „mehrstufiger Mitgliedschaften“ bilden. Der auf das Zentrum folgende wäre ein mit ihm „eng verbundener Kreis kleiner Länder“, an den sich weitere Kreise peripherer Mitgliedsstaaten anlagern könnten.

Zusätzlich zu den zwei für die „Selbstbehauptung der EU elementaren Reformen“ (354) sieht Münkler vier kurzfristige Aufgaben einer „To-do-Liste“ („Was jetzt zu tun ist?“, 373 ff.):

  • Die Herstellung der „Verteidigungsfähigkeit nach außen als auch im Inneren“ (373), da nach dem Ukrainekrieg mit einer Fortsetzung der „hybriden Kriegsführung“ (373) durch Russland zu rechnen sei (etwa im Baltikum).
  • Eine „grundlegende Vereinfachung der Deliberationsverfahren“ innerhalb der EU (376), die flexible Reaktionen auf den „okkasionell-opportunistischen“ Politikstil Trumps und die Provokationen Putins ermöglicht.
  • Die Prüfung einer „eigenständige(n) wirtschaftliche(n) Zusammenarbeit“ mit China, „die für beide Seiten vorteilhaft“ (374) sein müsste.
  • Mögliche europäische Lösungen in der Migrationspolitik, um „die illegale Migration nach Südeuropa“ zu begrenzen (etwa durch „ein niedrigstufiges Integrationsabkommen mit den Maghrebstaaten“, 375).

Das ist nicht gerade wenig. Zumal die deutsche Regierung zu Hause mit gutem Beispiel vorangehen und weitere, von Münkler aufgezählte „Baustellen“ in Angriff nehmen müsste: die Erneuerung der deutschen Infrastruktur, die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, die Instandsetzung des öffentlichen Verkehrs sowie eine „nachhaltige Dekarbonisierung“ (380) der deutschen Wirtschaft.

Diskussion

Die Unfähigkeit zum politischen Ausgleich ist die Schwäche einer imperialen Geopolitik, gegenüber der die EU als „Zivilmacht“ das Konzept der regelbasierten internationalen Ordnung und der verlässlichen Partnerschaft verteidigen sollte.

Gerade wenn man das Anliegen Herfried Münklers teilt, dass dafür auch die Stärkung der gemeinsamen militärischen Verteidigungsmacht der Europäischen Union notwendig ist, fällt auf, wie wenig sein Vorschlag einer „Neugründung der EU“ den föderalen und demokratischen Elementen der EU Beachtung schenkt. Sein Vorschlag eines neuen „Zentrums der Macht“ in der EU und der Hierarchisierung militärisch-politischer Führung stellt die „kleinen Länder“ Europas unverblümt vor die Wahl, sich der Allianz der Führungsnationen Deutschlands, Frankreichs und Polen unterzuordnen oder, wenn sie weiter Einfluss auf die Außen- und Sicherheitspolitik der EU nehmen wollen, „Kooperationen mit einem oder zweien der Zentrumsstaaten ein(zu)gehen, über die sie ihre speziellen Interessen ins Spiel bringen“ (349) könnten. Ebenso irritierend ist, wie unwirsch Münkler die Frage der Demokratisierung und der Kontrolle des angestrebten Machtzentrums beiseite wischt. Der „Angelpunkt des Umbaus“ sei nun mal nicht der „einzelne Bürger (…) oder eine Demokratisierung“, sondern die geopolitische Machtfrage, wie Europa im 21. Jahrhundert in der globalen Ordnung eine Rolle zu spielen vermag.“ (350).

Sein Plädoyer für ein deutsches „Investment“ in die „Zentralmacht der EU“ (153) verschweigt nicht, dass über die schuldenfinanzierten „Sonderhaushalte“ hinaus ein „Umbau des Haushalts“ notwendig wird. Eine „Umschichtung von Mitteln aus der Sozial- in die Verteidigungspolitik wie in den Zusammenhalt Europas“ (154) sei unumgänglich. Er wird die Stabilität der Demokratie allerdings weiter schwächen, wenn (wie üblich) nicht diejenigen den „Gürtel enger schnallen sollen“, die genügend Speck angesetzt haben, sondern diejenigen, die ihren Gürtel schon im letzten Loch festgeschnallt haben.

Fazit

Dass Bürger und politische Eliten in Deutschland endlich ihre Scheu vor einer deutschen Führungsverantwortung in Europa ablegen müssten – dieser Appell zieht sich als „roter Faden“ durch das gesamte Buch Herfried Münklers. Eine genaue Antwort darauf, wie das neu zu schaffende militärische Machtzentrum der Europäischen Union demokratisch in die bestehende Struktur der EU integriert und wie die finanzielle Last einer militärischen Führungsrolle Deutschlands gestemmt werden soll, bleibt der Autor in diesem Buch allerdings schuldig.

Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Es gibt 37 Rezensionen von Peter Flick.

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ISSN 2190-9245