Thomas Wagner: Abenteuer der Moderne
Rezensiert von Peter Flick, 22.05.2025

Thomas Wagner: Abenteuer der Moderne. Die großen Jahre der Soziologie 1949-1969. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2025. 329 Seiten. ISBN 978-3-608-98705-8. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.
Thema
Das Buch Thomas Wagners über die „großen Jahre der Soziologie 1949–1969“ interessiert sich weniger für die wissenschaftliche Entwicklung des Fachs Soziologie als für zwei ihrer einflussreichen Vertreter, Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen. Beide Soziologen verstanden es nicht nur, ihre soziologischen Überlegungen in Zeitdiagnosen so zu schärfen und zuzuspitzen, dass sie bis heute eine breite öffentliche Wirkung entfalten. Wagners Buch zeigt auch ihr Geschick, die eigenen Zeitdiagnosen im medialen Feld strategisch richtig zu platzieren. Davon zeugen nicht zuletzt die inzwischen legendären Rundfunkgespräche.
Wagner interpretiert die Beziehung zwischen Adorno, den das NS-Regime ins Exil gezwungen hatte, und Gehlen, der im Dritten Reich eines steile akademische Karriere machte, als Teil einer doppelbödigen deutschen Intellektuellengeschichte. Ein Kuriosum am Rande stellt dabei die freundschaftliche Beziehung Gehlens zu Wolfgang Harich dar. Der Philosophaus Ostberlin, ein ehemaliger Bloch-Schüler, blieb bis zum Tod Gehlens 1975 dessen größter marxistischer Bewunderer, der auch bei Brecht und Georg Lukács für Gehlens Werk geworben hat.
Autor und Werk
Thomas Wagner (* 1967 in Rheinberg) ist Kultursoziologe. Er lebt und arbeitet als freier Autor und Journalist in Berlin. In seinem Buch „Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten“, Berlin 2017 vertritt er die These, dass das Jahr 1968 auch Neubeginn der Neuen Rechten markiert. In seinem zuletzt erschienenen Buch „Fahnenflucht in die Freiheit: Wie der Staat sich seine Feinde schuf – Skizzen zur Globalgeschichte der Demokratie“, Berlin 2022, plädiert er im Rückgriff auf David Graeber für einen postkolonialen Blick auf die Demokratiegeschichte und einen politischen Freiheitsbegriff, der sich an der egalitär-demokratischen Idee eines „staatenlosen Gemeinwesens“ orientiert.
Aufbau und Inhalt
Prolog. Blick durch den Eisernen Vorhang (9 ff.)
Der „Prolog“ eröffnet die Erzählung mit Zitaten aus dem am 3. Februar 1965 im Südwestfunk aufgezeichneten „Streitgespräch“ zwischen Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen zum Thema „Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?“. Adornos Hoffnung auf die reflexive Kraft des Einzelnen, die sich gegen übermächtige Organisationsstrukturen behauptet, entlockt Gehlen nur einen Stoßseufzer: Ob er, Adorno, im Ernst glaube, man solle einen solchen „Reflexionsaufwand, mit tief nachwirkenden Lebensirrtümern, die wir (sic!) durchgemacht haben, allen Menschen zumuten“ (Gehlen, zit. nach T.W., 11 f.). Er selbst, bekennt Gehlen, habe „in der Wirklichkeit“ eigentlich immer nur „eine honorige Sache gesucht, der man dienen kann.“ (Gehlen, zitiert nach T.W., 12).
Der Wirklichkeit zugewandt (Kapitel 3, 63 ff.)
Die drei Kapitel beschreiben Gehlens „Bekenntnis zum Nationalsozialismus“ (21 ff.), seine wissenschaftliche Karriere im NS-Regime und ein „Neuanfang in der Trümmerlandschaft“ (39 ff.), der Gehlen von Wien in die universitäre Provinz nach Speyer verschlug. Schon Anfang der 1950er Jahre hat ihm dort der Ostberliner Philosoph Wolfgang Harich einen Besuch abgestattet, um ihm die Aussicht auf einen Lehrstuhl an der Ostberliner Humboldt-Universität schmackhaft zu machen, da es nach Harichs Einschätzung um die Soziologie in der DDR traurig bestellt sei („Dicke Fräulein und Arschkriecher“, 55 ff.). Gehlen zog indes eine akademische Karriere in Westdeutschland vor. 1955 gab Gehlen gemeinsam mit Schelsky ein „Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde“ heraus, das moderne soziologische Forschungsansätze, Methoden und Theorien vorstellte und vom jungen Habermas in der FAZ enthusiastisch rezensiert wurde („Habermas ist beeindruckt“, 57 ff.).
Im Abschnitt „Verdeckte Kooperation“ (70 ff.) geht der Autor dann kurz auf die sich damals herausbildenden Zentren der soziologischen Forschung ein und die damit verbundenen Positionskämpfe in der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ („Machtkämpfe unter Soziologen“, 72 ff.), in der am Ende Exilierte und die Vertreter der Soziologie, die im NS-Regime ihre universitäre Laufbahn ungestört fortsetzten, zu einem „pragmatischer Konsens“ zusammenfanden, um das Fach „als empirisch arbeitende Disziplin (.) zu verankern.“ (81).
Radio Days (Kapitel 7, 115 ff.)
Nicht zuletzt das Interesse an der modernen Nachkriegskunst, so eine These des Buchs, habe Adorno und Gehlen einander nähergebracht. Zunächst schildert Wagner Adornos Begegnung mit Gottfried Benn im Kurort Bad Wildungen im Jahr 1955. Adorno sieht in Benn einen wahlverwandten Geist, der sich den formprägenden, konstruktiven Prinzipien der modernen Ästhetik verpflichtet fühlt („Wille zur Form“, 85). Als 1960 Gehlens Buch „Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei“ erscheint, schreibt ihm Adorno, wie sehr ihn das kunstsoziologische Buch beeindruckt habe („Das Eis bricht“ (99 f.). Nach einem brieflichen Austausch kommt es zum einem privaten Treffen der Ehepaare Adorno und Gehlen und später zur Reihe der berühmten „Streitgespräche“ in Funk und Fernsehen.
Die andere Seite (Kapitel 10, 165 ff.)
Das Medium Rundfunk eröffnet Intellektuellen, auch den Soziologen, ein neues Bestätigungsfeld. Helmut Schelsky gelingt es dort, seine These von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ wirkungsvoll zu verbreiten. Zusammen mit Hans Freyer, („Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“, 1955) argumentiert Gehlen gegen eine in seinen Augen überholte kulturkonservative Entfremdungskritik („Entfremdung überwinden, 37 ff.). Gehlen vertritt einen sachlichen soziologischen Blick auf die Moderne, der sich für ihn im Stadium der „posthistoire“ befindet. Ihr Kennzeichen ist die kulturelle „Kristallisation“. In der späten Moderne, so Gehlens These, sind die grundsätzlichen Bestände alle entwickelt und neue, umstürzende Weltentwürfe nicht mehr zu erwarten („Nichts geht mehr“, 145 f.). „Die andere Seite“ (165 ff.) meint die Seite jenseits des „Eisernen Vorhangs“, die indirekt Anteil an der Debatte im Westen nimmt. Harich ergreift für Gehlen Partei. Seine Institutionenlehre enthalte eine richtige kulturanthropologische Einsicht, der in seinen Augen nur der marxistische Unterbau fehle. Er empfiehlt Brecht die Lektüre Gehlens („Brecht liest Gehlen“, 169 f.).
Die zweite Gründung der der Bundesrepublik (Kapitel 14, 235 ff.)
Unter dem Eindruck der Studentenrevolte setzt bei den bislang moderaten liberalkonservativen Soziologen eine Gegenreaktion ein. In einem WDR-Fernsehgespräch mit Adorno zum Thema „Freiheit und Institution“ im Juni 1967 hat sich der Ton Gehlens verschärft: „Wer das Gefühl der Freiheit und der großen Bestimmung des Menschen enthusiastisch realisieren (.) will, der ist nach einem rätselhaften Verhängnis der Schrittmacher der Guillotine.“ (Gehlen, zitiert nach T.M., 185). In der von linken Soziologen beeinflussten Gesellschaftskritik sieht Gehlen einen anarchistischen Angriff auf die institutionellen Fundamente von Staat und Gesellschaft. Im Sommer 1969 verstarb Adorno. Im selben Jahr veröffentlicht Gehlen dann sein Buch „Moral und Hypermoral“, in dem er im Blick auf die Menschheitsgeschichte die sozialen „Gegenseitigkeitsstrukturen“ herausarbeitet und diese kulturanthropologische Analyse mit einer Kritik des aufklärerischen Humanismus verbindet. Eine überdehnte familienbezogene Ethik, die eine universelle Welt- und Menschenliebe vertritt, untergrabe die Basis jeder menschlichen Verhaltenssicherheit. Gehlen klagt die soziale Gruppe der Intellektuellen als Vertreter dieses maßlosen Moralanspruchs an. Mit ihrem „Humanitarismus“ (sprich ihrer „Humanitätsduselei“) und den damit verbundenen ethischen Maximen überforderten sie die „normalen“ Menschen.
Epilog. Die Geister, die sie riefen (Kapitel 15, 255 ff.).
Der „Epilog“ beschäftigt sich ganz mit der Rezeptionsgeschichte Gehlens. Es geht darum,
- wie Gehlens Meisterschüler Helmut Schelsky dessen Intellektuellenschelte zunächst heftig kritisiert, um dann in den 70er Jahren vom „Soziologen“ zum „Anti-Soziologen“ zu konvertieren („Geburt der >Anti-Soziologie<“, 259 f.);
- wie eine aktuell rechtskonservativen „Renaissance der Moralkritik“ (261 f.) Gehlens Intellektuellenkritik „recycelt“; einmal in der linkskonservativen Variante als Abrechnung mit der „Life-style-Linken“ (Bernd Stegemann) oder als rechte Version eines Plädoyers für die Rehabilitation eines bürgerlichen Kulturpessimismus' (Alexander Grau und Autoren im Umfeld der Zeitschrift „Sezession“, siehe auch 269);
- wie Gehlens kulturanthropologische Anregungen in und außerhalb der Soziologie aufgegriffen werden, u.a. von Axel Honneth und Dieter Wellershoff (264). (Vgl. „Von links gesehen“, 263 f.).
- Schließlich geht der Autor auf historistische Deutungen Gehlens ein, die ihn retrospektiv als „Aufklärer wider Willen“ (267) nobilitieren, indem sie entweder, wie Odo Marquard, Gehlens Kompensationsbegriff ironisch entschärfen oder, wie der Hamburger Historiker Axel Schildt („Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik“, Göttingen 2020), Gehlen in der Aufbauphase der Bundesrepublik einen „>Beitrag zur Aufhellung politischer Kultur und intellektueller Diskurse<“ (268) attestieren.
- Den tragikkomischen Schluss bildet Harichs posthume Abrechnung mit der einst von ihm verehrten „Lichtgestalt“ („Sturz einer Lichtgestalt“, 269 ff.).
Diskussion
Thomas Wagners „ketzerische“ These, die Gehlen nachträglich zum „Aufklärer wider Willen“ (267) macht bzw. in den Kreis der „intellektuellen Gründervater“ (268) der Bundesrepublik aufnimmt, schießt übers Ziel hinaus. Axel Schildt, auf den der Autor sich u.a. beruft, stellt klar, dass Gehlens Kritik am herkömmlichen Kulturpessimismus der christlicher „Abendländler“ durchaus „nicht aufklärerischen Intentionen“ folgte, sondern mit einer „Kritik der humanistischen Gehalte der Aufklärung verbunden“ war (A. Schildt, a.a.O. 495 f.). Man kann Gehlen darum schwerlich einen „Aufklärer wider Willen“ nennen.
Was das „Fortschrittsversprechen der Moderne“ (Detlef Pollack) betrifft, so verfehlt die Darstellung Thomas Wagners eine entscheidende Differenz zwischen Adorno und Gehlen, auf die Karl-Siegfried Rehberg in seinem Vergleich hingewiesen hat: Obwohl beide „Skeptiker gegenüber allen Fortschrittsversprechungen“ (228) waren, folgt Adornos Denken einem theologischen Motiv, „welches >das ganz Andere< als gleichermaßen säkular-messianische Hoffnungsformel beschwor.“ (Karl-Siegfried Rehberg: Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen: Politische Gegensätze und kulturkritisches Einverständnis, Scenari, 14, 1/2021, 229).
Zudem geraten die neuen sozialtheoretischen Weichenstellungen der Nachkriegssoziologie, die mit dem Namen Talcott Parsons verbunden sind, in Wagners zeitgeschichtlicher Darstellung überhaupt nicht in den Blick. Da sowohl Niklas Luhmann wie Jürgen Habermas aus ihren „Anleihen“ bei Parsons und der Kulturanthropologie Gehlens keinen Hehl gemacht haben, erfahren wir nichts darüber, wie Gehlens wissenschaftlicheAnregungen unter anderen system- und handlungstheoretischen Voraussetzungen produktiv weitergeführt wurden.
Fazit
Eine erzählend konstruierte Geschichtsschreibung hat ihre Tücken. Der zentralen Frage, ob der pessimistische Blick auf eine dunkel verhängte Zukunft der westlichen Moderne, die Adorno und Gehlen teilen, nicht ganz unterschiedlichen normativen Quellen entspringt und sie darum auch zu gänzlich unterschiedlichen politischen Schlussfolgerungen führt, wird in dem Buch nicht nachgegangen. Ganz unbefriedigend erscheint die auf Gehlen konzentrierteWirkungsgeschichteim „Epilog“, die nicht deutlich zwischen den heute noch lesenswerten kulturanthroplogischen Einsichten Gehlens und seiner von antimodernen Affekten getragenen Intellektuellenkritik unterscheidet, die nur noch für eine Sozialpsychologie des Ressentiments von Interesse ist.
Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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