Michael Ermann, Dorothea Huber (Hrsg.): Der Andere in der Psychoanalyse
Rezensiert von Diplompsychologin Iris Meilicke, 08.10.2025
Michael Ermann, Dorothea Huber (Hrsg.): Der Andere in der Psychoanalyse. Die intersubjektive Wende.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2025.
3. Auflage.
156 Seiten.
ISBN 978-3-17-045810-9.
34,00 EUR.
Reihe: Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik.
Thema
Das Buch geht der Frage nach, wie sich das Verständnis des „Anderen“ in der psychoanalytischen Theorie entwickelt hat. Während Freud den „Anderen“ primär als Objekt triebhafter Bedürfnisse verstand, wird in der Objektbeziehungstheorie und später in der intersubjektiven Wende der „Andere“ als realer, mitgestaltendes Gegenüber im analytischen Feld sichtbar.
Ermann entfaltet diesen Weg als historische und zugleich praxisrelevante Entwicklung, die im Alltag klinisch bedeutsam ist: für Übertragung, Gegenübertragung und die Haltung des AnalytikerIn.
Autor
Prof. Dr. med. Michael Ermann, emeritierter Ordinarius für Psychosomatik und Psychotherapie an der LMU München, Psychoanalytiker in eigener Praxis, ist bekannt für die Verbindung von Theorie, Behandlungstechnik und psychosomatischer Reflexion. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte – u.a. Kriegskindheit, Homosexualität, interaktive Behandlungshaltung – spiegeln sich in seinem Stil wider, der reflektiert, klar und praxisbezogen ist.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in fünf Vorlesungen, die aus den Lindauer Psychotherapiewochen 2013 hervorgegangen sind:
- Freud: Der Andere als Objekt triebhafter Besetzung.
- Objektbeziehungstheorien: Klein, Winnicott, Fairbairn – innere Objekte und reale Gegenüber.
- Die intersubjektive Wende: Stolorow, Atwood, Mitchell – wechselseitige Subjektivität als neues Paradigma.
- Klinische Konsequenzen: Haltung, Setting, Übertragung und Gegenübertragung.
- Ausblick: Integration klassischer Theorie mit intersubjektivem Diskurs.
Stilistisch handelt es sich nicht um eine schwergewichtige Monografie, sondern um klar strukturierte Vorlesungstexte. Die Sprache ist präzise und zugleich didaktisch reduziert, Literaturangaben werden knapp, aber sinnvoll eingesetzt.
Zielgruppen des Buches sind
- PsychoanalytikeInnenund tiefenpsychologisch orientierte PsychotherapeutInnen, die den theoretischen Diskurs zur Haltung stärken wollen.
- AusbildungskandidatInnen, die einen klaren Überblick über den intersubjektiven Diskurs suchen.
- KollegInnen aus psychosomatischem, klinischem bzw. beratendem Umfeld mit Interesse an Theorie-Praxis-Integration.
Für Einsteiger ohne Vorkenntnisse kann die Dichte an Theoriebegriffen stellenweise herausfordernd sein.
In der Veröffentlichung beschreibt Michael Ermann das Konzept des „Anderen“ in der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Er betont, dass das Unbewusste des Subjekts stets in Bezug zu einem „Anderen“ steht, sowohl innerlich (durch frühe Bindungserfahrungen) als auch in der therapeutischen Beziehung. Die/Der Therapeut:in fungiert als Spiegel der/des Patienten/​Patienten, wobei Übertragung und Gegenübertragung zentrale Dynamiken sind. Ermann bezieht sich auch auf Lacans Theorie des „Großen Anderen“, der die soziale und kulturelle Ordnung repräsentiert. Das Buch zeigt, wie das „Andere“ die psychische Entwicklung des Subjekts prägt und Konflikte beeinflusst. Insgesamt wird die Bedeutung des „Anderen“ als Differenz und transformative Kraft in der Psychoanalyse betont.
Diskussion
Die Stärke des Buches liegt darin, die „intersubjektive Wende“ nicht als Bruch, sondern als Weiterentwicklung zu zeigen. Freud wird historisch eingeordnet, Objektbeziehungstheorien als Übergang beschrieben, die schließlich zur intersubjektiven Sicht führen.
Für die klinische Praxis bedeutet dies eine Haltung, in der die AnalytikerIn sich nicht als neutrale Instanz versteht, sondern ihre eigene Subjektivität in die Beziehungsgestaltung reflektiert einbringt. Das Buch regt dazu an, den eigenen Anteil im therapeutischen Feld bewusster wahrzunehmen – eine Haltung, die in der täglichen Arbeit anspruchsvoll ist, aber für gelingende Prozesse entscheidend.
Für eine Neuauflage würde ich mir mehr klinische Beispiele wünschen, die theoretische Explikationen noch plastischer machen würden.
Ein schwerer wiegender Kritikpunkt ist, dass der Autor sich auf die technisch-psychotherapeutischen Aspekte der intersubjektiven Wende fokussiert: dadurch bleiben die kritisch-politischen Gründe für die intersubjektive Wende der Psychoanalyse ausgeblendet – Feminismus/​Queer-Theory, Rassismus-Kritik, Diversität, Auseinandersetzung mit Kolonialismus sowie autoritären Herrschaftssystemen – die in den meisten anderen Ländern dafür konstitutiv waren. Dies ist leider typisch für die Rezeption in Deutschland. Hierzu würde ich mir bei einer Neuauflage ein Kapitel wünschen.
Persönliche Anmerkung
Als Leserin mit klinischem Hintergrund empfinde ich es als besonders wertvoll, dass Ermann Theorie und Praxis verbindet. Das Buch lädt ein, sich nicht nur intellektuell, sondern auch persönlich mit der eigenen Rolle im analytischen Feld auseinanderzusetzen. Diese Selbstreflexion macht den Text – trotz seines knappen Umfangs – relevant für den Praxisalltag.
Fazit
Ein kompaktes, kluges und praxisnahes Buch, das die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse historisch einordnet und klinisch relevant macht. Wer die eigene therapeutische Haltung im Dialogfeld kritisch reflektieren möchte, findet hier eine klare, gut lesbare Einführung.
Besonders empfehlenswert für alle, die Theoriegeschichte nicht nur nachvollziehen, sondern auf ihre eigene Praxis beziehen wollen.
Rezension von
Diplompsychologin Iris Meilicke
Psychoanalytikerin in eigener Praxis, Supervisorin, Dozentin in der Aus- und Weiterbildung von PsychotherapeutInnen
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