Stefan Danner: Wissenschaftstheorien und sozialwissenschaftliche Denkstile
Rezensiert von Prof. Dr. Nicole Biedinger, 11.08.2025
Stefan Danner: Wissenschaftstheorien und sozialwissenschaftliche Denkstile. Eine Einführung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2025. 132 Seiten. ISBN 978-3-7799-8983-7. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Das Taschenbuch mit 132 Seiten führt aus sozialwissenschaftlicher Perspektive in den Bereich der Wissenschaftstheorie ein. Ziel ist es die klassischen und modernen Wissenschaftstheorien darzustellen und ihre Wirkung auf sozialwissenschaftliche Denkstile zu verdeutlichen. Dabei wird erklärt wie klassische Theorieperspektiven die verschiedenen Routinen in der Forschung, Methodenauswahl und Ergebnisdarstellungen noch heute prägen. Kernthemen sind dabei u.a. der Positivismus, der kritische Rationalismus und der Konstruktivismus. Dabei wird auch eine pluralistische Perspektive eingenommen und die begrenzte Rationalität (bounded rationality) und offene Theorien- und Methodenvielfalt diskutiert.
Autor
Stefan Danner ist seit 1995 an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig beschäftigt. Sein Lehrgebiet umfasst vor allem die Erziehungswissenschaft und die Wissenschaftstheorie, wobei seine bisherigen Publikationen stärker in verschiedenen Bereichen der Pädagogik angesiedelt waren.
Entstehungshintergrund
Das kleine Taschenbuch führt aus sozialwissenschaftlicher Perspektive in den Bereich der Wissenschaftstheorie und der wissenschaftlichen Denkstile ein. Hierbei wird gezielt darauf geachtet vor allem eine sozialwissenschaftliche Perspektive einzunehmen. Zudem wird sich um einen gesprächsähnlichen Charakter bemüht, was sich in zahlreichen Zitaten aus klassischen wissenschaftstheoretischen Publikationen widerspiegelt. Dies ermöglicht zum einen zahlreiche klassische Theorien kurz zu Wort kommen zu lassen, aber zum anderen gleichzeitig auch deren Bezüge in die Gegenwart mit aufzunehmen.
Aufbau und Inhalt
Stefan Danner beginnt sein Werkt mit der an die Medizin angelehnten Perspektive von Ludwik Fleck, den Danner als den Blick zweiter Ordnung beschreibt. Für ihn geht es um den Zusammenhang von wissenschaftlicher Wahrnehmung, daher wird auf die bei Fleck wiederkehrenden Begriffe der Gestalt, des Erkennens, der Denkstile und Denkkollektive näher eingegangen. Daraus wird geschlussfolgert, dass Denkstile immer soziale Vorgänge widerspiegeln bei denen im Hintergrund komplexe Lernprogramme ablaufen. Als Beispiel dazu wird auf die persönlichen Lernerfahrungen von Andreas Gruschka Bezug genommen, der diese im Rahmen seiner eigenen wissenschaftlichen Karriere beschreibt. Danner kommt im Anschluss daran zu dem Ergebnis: „Ein Mensch, der den akademischen Sozialisationsprozess durchlaufen hat, kann nicht anders, als bestimmte Gestalten, die zentral für seine wissenschaftliche Disziplin sind, zu sehen. Sie drängen sich ihm geradezu auf.“ (Danner 2025: 22). Die etablierten Denkstile sorgen zwar dann für Stabilität und Orientierung, allerdings behindern sie auch die Entstehung von neuen Erkenntnissen, was Fleck als Beharrungstendenzen beschreibt. Die folgenden Kapitel versuchen nun die Verknüpfung zwischen den klassischen wissenschaftstheoretischen Ansätzen und aktueller sozialwissenschaftlichen Denkstilen herzustellen.
Kapitel drei und vier richten einen Blick auf ideale Formen und auf die Ordnungen der sublunaren und der supralunaren Sphären. Wobei die Besonderheiten von philosophischen und wissenschaftlichen Ansätzen von Platon und Aristoteles in den Blick genommen werden. Hier werden bereits erste allgemeine Unterschiede zwischen dem Allgemeinen und dem Spezifischen, genauso wie die Einführung von Deduktion und Induktion bei Aristoteles thematisiert. Somit werden bereits wichtige Zusammenhänge zwischen Beobachtung, empirischer Untersuchungen und Theorie hergestellt, die auch noch im 21. Jahrhundert relevant sind.
Beim Übergang zum 5. Kapitel (Der Blick auf Möglichkeiten der erweiterten Naturbeherrschung) wird ein großer zeitlicher Sprung hin zum 17. Jahrhundert vollzogen. Es geht um das wissenschaftliche Denken von Francis Bacon und seine Fundamentalkritik, die dann zu einer vorurteilsfreien Induktion hinleitet. Ab Kapitel sechs wird dann auf das Allgemeine in den Sozialwissenschaften stärker Bezug genommen. Danner kommt zu dem Schluss, dass Bacon zwar auch Einzelfälle in den Blick nimmt, doch der Vorrang und das Hauptziel von Allgemeingültigen bleibt unangetastet. Dieser Denkstil ist in den Sozialwissenschaften auch weiterhin prägend, was Danner anhand der Favorisierung von zahlreichen Begriffen (z.B. Typ, Idealtyp, Struktur, Muster, Modell etc.) zeigt.
Ausgehend davon wird die Unterscheidung von Max Weber zum Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen ausgeführt. Auch die Etablierung von qualitativen Methoden hat nach Danner nicht dazu beigetragen dem Besonderen einen höheren Rang zu geben (Danner 2025: 53). Als einer der wenigen Kritiker dazu wird John Dewey zitiert, bevor dann einige beispielhafte Forschungsergebnis dargestellt werden, die diese Argumentation untermauern. Eine mögliche Ursache hierzu sieht Danner in der Sprache begründet, die die jeweiligen Nuancen nicht adäquat wiedergeben kann. Darüber hinaus sei menschliches Leben nicht nur individuell, sondern immer ein Prozess bzw. in Interaktionen eingebunden. Abgeschlossen wird das Kapitel mit der Frage nach Stefan Hirschauer, ob es wirklich auf die Theorien ankommt oder ob vielmehr die Bereitschaft der Forschenden gefragt ist sich von den untersuchten Phänomenen überraschen zu lassen.
Kapitel 7 widmet sich dem Blick auf die mathematische Ordnung des Universums. Begonnen wird mit einem kurzen Bezug auf Galileo Galilei, was schlussendlich belegt, dass empirische Forschung zwingend nötig ist und immer ein Bestandteil von Forschung sein muss. Hieraus ergibt sich ein Übergang zur quantitativen empirischen Sozialforschung. Hier zeigt Danner erneut, dass die klassischen Ansätze beispielsweise nach Wolfgang Krohn auch auf die heutigen Sozialwissenschaften zu übertragen sind. Eine Besonderheit sieht er im wissenschaftlichen Schreibstil. Besonders spannend ist dabei die Diskussion um eine „Ich-Form“ bei wissenschaftlichen Arbeiten, bei der er erneut auf Fleck, aber auch auf Krohn zurückgreift.
Kapitel 8 untersucht im Anschluss das Vorhersehbare und das Unkalkulierbare anhand der wissenschaftstheoretischen Thesen von Auguste Comte und John Stuart Mill. Hier wird der Positivismus eingeführt und diskutiert, die schließlich am Beispiel von erziehungswissenschaftlicher Forschung von Wolfgang Brezinka verdeutlicht werden. Daran anschließend wird auch das Konzept von Theodor Litt vorgestellt, der einem derart positivistischen Denkstil nicht entspricht. Hierbei wird dann der Übergang zur hermeneutischen Auseinandersetzung mit Texten eingebunden.
Daran schließen sich die logischen Wiedersprüche im neunten Kapitel an, die vor allem den wissenschaftstheoretischen Annahmen von Karl Raimund Popper folgen. Mit seinem kritischen Rationalismus, dem die Ansätze von Bacon, Comte und Mill gegenübergestellt werden, wird dieser Ansatz recht ausführlich behandelt. Ziel des kritischen Rationalismus nach Popper sei es, dass jede Beobachtung schlussendlich nicht der Verifikation, sondern der Falsifikation dient. Durch diese Argumentation ist der Weg zur Deduktion geebnet, woran sich schließlich noch einige Überlegungen zu Pseudowissenschaften, außerwissenschaftlichen Werten und zur wissenschaftlichen Objektivität anschließen.
Das abschließende Kapitel widmet sich den thematisierten Hintergrundannahmen mit den Thesen von Helen E. Longino. Sie geht davon aus, dass im Hintergrund Annahmen vorliegen, die sowohl die Hypothesenbildung, aber auch die Datengewinnung und -interpretation maßgeblich beeinflussen. Daher sollte dies viel intensiver in den Blick genommen werden. Danner führt dieses Argument dann am Beispiel der sogenannten Bindungstheorien aus.
Noch vor dem offenen Ende wird auch die Kritische Theorie rund um Jürgen Habermas (Kapitel 11) angesprochen. Hier wird schlussendlich deutlich, dass eine interessenfreie und neutrale Wissenschaft zwar im höchsten Maße gewünscht, aber nicht möglich ist. Danner verzichtet dann auf ein abschließendes Kapitel und endet in einem „Offenes Ende“ (Danner 2025: 125)
Diskussion
Das Taschenbuch ist eine gut zu lesende, kurze Einführung in die Wissenschaftstheorie. Aufgrund des begrenzten Umfangs ist es natürlich nicht möglich viele der Ansätze detailliert zu beschreiben und zu diskutieren, aber sie werden komprimiert und verständlich aufgegriffen und ermöglichen so jedem Lesenden sich bei Bedarf noch genauer zu informieren. Besonders hilfreich finde ich, den klaren Fokus der vorgestellten klassischen Wissenschaftstheorien auf die Sozialwissenschaften heute. Dies scheint mir ein sehr gelungenes Vorhaben zu sein und wird sehr ansprechend umgesetzt. Natürlich kann auch dies nicht ausführlich umgesetzt werden, aber gerade auch die Bezüge auf die gängige Forschungspraxis gelingen sehr gut.
Insgesamt empfinde ich das Buch in sich rund und gelungen, auch wenn es sicherlich noch weitere theoretische Grundlagen gäbe, die hier nicht angesprochen werden. Ich vermisse bei der Lektüre erstmal nichts. Auch zeichnet sich das Werk durch seine Neutralität aus, bei der die verschiedenen Paradigmen gleichwertig dargestellt werden ohne erkennbare Präferenzen des Autors.
Für völlig fachfremde Leser*innen könnte ich mir vorstellen, dass manche Teile doch etwas voraussetzungsvoll sind bzw. ganz ohne Grundwissen zu manchen Fachtermen nicht so leicht zu verstehen sind. Dennoch finde ich, dass der Spagat zwischen einer kurzen Einführung und doch auch etwas Tiefe (z.B. durch die Zitate aus den klassischen Texten) gut gelungen ist.
Auf der anderen Seite können auch Leser*innen mit Vorkenntnissen von der Lektüre profitieren, da gerade der konkrete Bezug auf die Sozialwissenschaften und die zahlreichen Zitate ganz neue Einblicke liefern können. Insgesamt empfinde ich gerade den sprachlichen Diskussionsstil mit den zahlreichen Zitaten als sehr lehrreich und gewinnbringend.
Fazit
Das Buch gibt einen kurzen Einblick in die zentralen wissenschaftstheoretischen Ansätze, die auch heute noch in die sozialwissenschaftlichen Denkstile und Forschungsroutinen einwirken. Dabei arbeitet es mit zahlreichen Zitaten und praktischen Bezügen und stellt somit eine grundständige Einführung in ein komplexes Thema dar.
Rezension von
Prof. Dr. Nicole Biedinger
Empirische Sozialforschung und Soziologie
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