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Helga Dill, Christiane Lange et al. (Hrsg.): Verratenes Vertrauen

Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 25.06.2025

Cover Helga Dill, Christiane Lange et al. (Hrsg.): Verratenes Vertrauen ISBN 978-3-7799-8755-0

Helga Dill, Christiane Lange, Malte Täubrich (Hrsg.): Verratenes Vertrauen. Analysen zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2025. 312 Seiten. ISBN 978-3-7799-8755-0. D: 78,00 EUR, A: 80,20 EUR.
Reihe: Sexualisierte Gewalt und andere Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland.

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Thema

Im Zentrum der Publikation steht das Erleben der Menschen, die sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche bzw. Diakonie erfahren haben. Betrachtet wird die erlittene Gewalt im vorgenannten kirchlichen Kontext in ihrer Vielgestaltigkeit. Sie „stellt die Bedingungen und Kontexte ihres Auftretens ausführlicher dar und rekonstruiert die biografischen Folgen für die betroffenen Personen“ (S. 8).

Herausgeber:innen

Helga Dill ist Diplomsoziologin. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitet sie am Institut für Praxisforschung und Projektberatung in München. Hier bearbeitet sie schwerpunktmäßig die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Institutionen.

Christiane Lange ist Diplom-Ökotrophologin, Programmiererin und Verwaltungsangestellte. Ehrenamtlich engagiert sich Lange in unterschiedlichen Arbeitskreisen zur Betroffenenarbeit in der evangelischen Kirche, beispielsweise dem Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt in der EKD.

Malte Täubrich ist Sozialarbeiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. in Berlin.

Entstehungshintergrund

Es handelt sich bei dieser Veröffentlichung um den dritten Teil der „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ (S. 7).

Aufbau

  1. Heiner Keupp: Partizipative Forschung – Ein Lernprozess mit Hindernissen
  2. Helga Dill, Christiane Lange, Charlotte Müller, Tinka Schubert, Sephir Arden, Malte Täubrich, Horst Eschment, Peter Caspari: Subjektive Reflexionen zum partizipativen Forschungsprozess
  3. Christiane Lange: „Irgendwie kann ich mich an nichts anderes mehr als an Gott klammern“ – Spiritueller und theologischer Missbrauch im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie
  4. Malte Täubrich: „Ich liebe meine Kirche, und ich leide an meiner Kirche“ – Motive für den Verbleib in evangelischen Kontexten nach sexualisierter Gewalt und sich daraus ergebende Herausforderungen für Betroffene
  5. Helga Dill: Doppelte Ausgrenzung und halbe Aufarbeitung. Der Umgang mit ehemaligen Heimkindern in evangelischen Kontexten
  6. Sephir Arden: Zum Umgang evangelischer Institutionen und Verantwortlicher mit von sexualisierter Gewalt Betroffenen. Neun Fallanalysen
  7. Peter Caspari, Gerhard Hackenschmied: Sexualisierte Gewalt in der Bremischen Evangelischen Kirche – Der Fall Abramzik

Inhalt

In dieser Publikation, die das dritte von fünf Teilprojekten der Studie des Forschungsverbundes ForuM – und das ist die Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland – darstellt, stehen die Erfahrungen der Betroffenen von sexualisierter Gewalt im Zentrum. Durch das Einbeziehen der Betroffenen als Co-Forschende, liegt diesem Teilprojekt ein partizipatives Forschungsdesign zugrunde, dem sich Heiner Keupp zu Beginn der Veröffentlichung widmet.

Co-Forschende wirkten beispielsweise an folgenden Arbeitsschritten mit:

  • „Formulierung der Anrufe an Betroffene zur Teilnahme an Interviews
  • Vorbereitung und Durchführung einer Pressekonferenz
  • Entwicklung von Interviewleitfäden“ (S. 34).

Zur spirituell und theologisch begründeten sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie führt Christiane Lange u.a. die Machtstellung der Täter an. Ebendiese Täter haben das kirchliche Umfeld ausgenutzt. So berichten Betroffene, dass ihnen von den Tätern mit christlichen und biblischen Argumenten gedroht und somit Druck ausgeübt wurde.

Wie ist es möglich, trotz der erfahrenen sexualisierten Gewalt, der evangelischen Kirche nicht den Rücken zu kehren? Mit dieser Frage befasst sich Malte Täubrich. Die Motive für den Verbleib in der evangelischen Kirche sind divers. Eine Rolle hierfür spielen „bindungsbiographische Faktoren mit monetären Abwägungen und teilweise […] auch der Kontrast zu Tätern oder Bystandern“ (S. 129).

Die sexualisierte Gewalt, die zwischen 1949 und 1975 in stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen ausgeübt wurde, thematisiert Helga Dill in ihren Ausführungen. Diese Misshandlungen haben Auswirkungen auf das spätere Leben der Betroffenen. Dies betrifft u.a. die bisher – unvollendete – Aufarbeitung und Unterstützungsmaßnahmen. Viele Betroffene leben mit – kirchlich verursachten – gebrochenen Erwerbsbiografien.

Dem früheren Domprediger der St. Petri Domgemeinde in Bremen – Günter Abramzik – wird, wie Peter Caspari und Gerhard Hackenschmied ausführen, die Durchführung sexualisierter Gewalt zur Last gelegt. Letztgenannte Autoren befassen sich ausführlich mit diesem Fall.

Diskussion

Sexualisierte Gewalt habe ich, selbst am 25.05.1969 evangelisch getauft und seit dieser Zeit ununterbrochen Mitglied dieser Glaubensgemeinschaft, nicht für möglich gehalten. Im Gegensatz zu den Pfarrern etwa der römisch-katholischen Kirche, haben die Pfarrer in der evangelischen Kirche doch alles, was zumindest für die Befriedigung des Sexualtriebs nötig ist. Das ist wohl zu kurz gedacht. Wie Christiane Lange herausgefunden hat, kann sexualisierte Gewalt biblisch begründet werden, zumindest wurde das von den Tätern so praktiziert.

Für das Aufdecken der sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland ist die partizipative Forschung ein hervorragendes Instrument, weil die Beforschten selbst am Forschungsprozess beteiligt werden. Ihre Auslegung ist für die scientific community besonders erkenntnisreich!

Sexualisierte Gewalt ist, wie Christiane Lange herausstellt, immer mit dem Missbrauch von Macht verbunden. Die Autorin hält es für wichtig in der theologischen Ausbildung die Themen Macht und Machtausnutzung in den Vordergrund zu rücken. Scheinbar führt das Thema Sexualität und Kirche ein Nischendasein: darüber wird in der Kirche nicht gesprochen, obwohl es das Normalste der Welt ist.

Und deshalb muss sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie zur Sprache kommen, weil die Sprache, das Wort, in dieser Institution von ganz zentraler Bedeutung ist – und das in Denkschriften, Predigten, Seminaren und Gesprächskreisen. Überall kommt die Sprache zum Einsatz. „Die Worte der Betroffenen rütteln am Selbstverständnis der evangelischen Kirche“ (S. 105).

Fazit

Bei der rezensierten Publikation handelt es sich um ein Teilprojekt (C) zu einer Studie zum Umgang der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland mit sexualisierter Gewalt. Bei Nutzung der partizipativen Forschung werden zentrale Resultate, Fallstudien und Textanalysen zusammengefasst. In doppelter Hinsicht wird sich mit der Perspektive der sexualisierte Gewalt erfahren Habenden befasst, nämlich als Beforschte (Interviewte) und als Forschende (Interviewauswertung).

Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
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Es gibt 188 Rezensionen von Carsten Rensinghoff.

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ISSN 2190-9245