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Silke Gülker: Religion und Wissenschaft

Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut Kreß, 26.06.2025

Cover Silke Gülker: Religion und Wissenschaft ISBN 978-3-8487-7260-5

Silke Gülker: Religion und Wissenschaft. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2025. 198 Seiten. ISBN 978-3-8487-7260-5. 22,00 EUR.
Reihe: Studienkurs Religion.

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Thema

Das Buch befasst sich mit dem Verhältnis von Religion und Wissenschaft bzw. von Glauben und Wissen, die in der Neuzeit in Konflikt geraten sind. Es ist als Studienbuch angelegt und enthält geistesgeschichtliche Informationen sowie Hinweise auf aktuell zu diskutierende Fragen.

Autorin

Die Autorin Silke Gülker ist Soziologin und Politikwissenschaftlerin und leitet die Geschäftsstelle des Instituts für christliche Ethik und Politik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin.

Aufbau

Das Beziehungsgeflecht zwischen Religion und Wissenschaft wird in drei Buchteilen betrachtet. Der erste Teil blickt auf die Reflexion von Religion vornehmlich in der Soziologie. Danach erinnert der zweite Buchteil daran, dass sich das naturwissenschaftliche und philosophische Denken in der Neuzeit generell von religiösen Vorgaben emanzipiert hat. Der dritte Buchteil umreißt verschiedene aktuelle Themen, z.B. die Frage des Wissenschaftsstatus der Theologie oder den Zugang von Religion einerseits, Wissenschaft andererseits zur Medizin und zur Bioethik.

Inhalt

In der Einleitung ihres Buches betont die Autorin, dass sie sich mit dem Phänomen der Religion vor allem aus soziologischer Perspektive auseinandersetze, weshalb philosophische, historische oder sonstige Gesichtspunkte bei ihr in den Hintergrund träten. Grundsätzlich lasse sich Religion entweder substanziell verstehen – ihr Wesen bestehe darin, dass sie in der Transzendenz verankert sei und auf diese hinweise – oder sie sei funktional interpretierbar. Die funktionale Deutung fragt nach der Rolle, die die Religion in einer Gesellschaft besitzt, und nach ihren soziokulturellen Effekten (S. 13 f.).

Teil I steht unter der Überschrift „Soziologische Perspektiven“. Soziologisch lasse sich die Beziehung von Religion und Wissenschaft als Konfliktverhältnis, als Differenzverhältnis oder im Licht ihrer Gemeinsamkeiten beschreiben.

Die Auffassung, dass zwischen Religion und Wissenschaft ein Konflikt bestehe, habe klassisch Auguste Comte (1798–1857) vertreten. Seiner Dreistadienlehre zufolge sei die Gesellschaft inzwischen in der Lage, Religion und Metaphysik hinter sich zu lassen, um sich stattdessen von der positiven Wissenschaft leiten zu lassen (S. 25 ff.). In der Gegenwart sei es der Evolutionismus oder Neue Atheismus – einer ihrer herausragenden Vertreter: Richard Dawkins –, der die Gegensätzlichkeit von Religion und Wissenschaft und die Rückständigkeit der Religion betone (S. 34).

Daneben werde das Verhältnis von Religion und Wissenschaft aus soziologischer Sicht als Differenzverhältnis beschrieben. Sowohl Religion als auch Wissenschaft seien bemüht, bestimmte Sinnperspektiven zu vermitteln. Dabei gehe es der Religion um das Seelenheil, der Wissenschaft um rationale Wahrheit (S. 42 f. unter Rückgriff auf Wilhelm Dilthey und auf Georg Simmel). Insofern besäßen sie unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen (S. 56).

Anschließend unterstreicht die Autorin die Gemeinsamkeit von Religion und Wissenschaft. Sie bestehe darin, symbolische Sinnwelten zu legitimieren (S. 74). Dies erfolge freilich in unterschiedlicher Form; die Autorin spricht von ihrem jeweiligen „epistemischen Stil“ (S. 59). Als Referenz verweist sie auf den Soziologen Emile Durkheim (1858–1917) (S. 60 ff.). Aus der Gegenwartsdiskussion erwähnt sie etwa den Gedanken Jürgen Habermas‘, religiöse Ideen und Sätze hätten einen Eigenwert, müssten aber auch in eine säkulare Sprache übersetzt werden (S. 83 f.).

Teil II des Buches (S. 87–106) verbreitert die geistesgeschichtliche Betrachtung. Der Buchteil zeichnet nach, wie sich die Wissenschaften in der Neuzeit von der Religion bzw. von der Kirche abgelöst haben. Dies sei bei Galileo Galilei (1564–1642) mithilfe neuer astronomischer Einsichten, bei Isaac Newton (1643–1727) durch physikalische Erkenntnisse oder bei Charles Darwin (1809–1882) durch eine entwicklungsbiologische Weltdeutung geschehen. Der Buchteil bringt in Erinnerung, dass es hierdurch zu scharfen Auseinandersetzungen mit der christlichen Kirche kam. Die Kirche fühlte sich angegriffen, weil das wissenschaftliche Denken den religiösen Gottesgedanken unplausibel erscheinen ließ, sodass es den modernen Atheismus stützte.

Einen anderen Akzent setzt Teil III, indem er „aktuellen Debatten“ nachgeht. Die Autorin erörtert fünf Themen ganz unterschiedlicher Art.

  • Zunächst widmet sie sich dem Status theologischer Fakultäten an staatlichen wissenschaftlichen Universitäten (S. 107–123). Sie schildert, in welcher Hinsicht die Rückbindung der Theologie an die Kirchen einerseits, ihre Verpflichtung auf Wissenschaftlichkeit andererseits in Widerstreit geraten, und erwähnt, dass insbesondere die katholische Kirche auf theologische Fakultäten erheblichen Druck ausübt.
  • Danach lenkt sie den Blick auf die Deutung der Kategorie Geschlecht und der geschlechtlichen Vielfalt in religiöser und in wissenschaftlich fundierter Betrachtung (S. 125–141). Bezogen auf die katholische Kirche legt sie dar, diese halte lehramtlich unverändert an einem vormodernen, an der Gottesmutter Maria orientierten Frauenbild und an einem wissenschaftlich nicht haltbaren Verständnis von Homosexualität fest.
  • Ferner beschäftigt sich die Autorin damit, wie sich Wissenschaft und wie sich Religion jeweils zur Medizin verhalten. Dabei erwähnt sie eine Reihe diverser Einzelaspekte, z.B. – in dieser Form eine deutsche Besonderheit – die kirchliche Trägerschaft von Krankenhäusern und ihre Privilegierung durch ein vom Staat abgelöstes kirchliches Arbeitsrecht (S. 148 f.), oder das sogenannte spirituelle Heilen (S. 150 ff.) als Alternative zur Schulmedizin. Den Sachverhalt, dass Kranke sich für Religion interessieren, interpretiert die Autorin als einen „Wunsch nach Autonomie“, der daraus resultiere, dass manche Patient:innen sich von der naturwissenschaftlich fundierten Medizin nicht hinreichend versorgt fühlten (S. 152). Ihre diesbezügliche Darstellung schließt sie mit der Bemerkung ab, in der heutigen Epoche der naturwissenschaftlichen Medizin ereigne sich eine Renaissance des „längst überwunden geglaubten Verständnis[ses] von Krankheit als Ergebnis von Sünde“. Dabei könne zwar „nicht von einer Sünde vor dem strafenden Gott gesprochen werden, aber doch von einer Schuld aus Pflichtverletzung, die zu Krankheit führt“ (S. 152).
  • Thematisch benachbart befasst sich das nachfolgende Teilkapitel damit, wie Religion bzw. wie Wissenschaft Leben definiere. Beide wollten wissen, „was Leben eigentlich ausmacht“ (S. 159). Zur Veranschaulichung greift die Autorin die Debatte über reproduktionsmedizinische Keimbahninterventionen auf (S. 159 ff.).
  • Das letzte Teilkapitel grenzt sowohl die Religion als auch die Wissenschaft vom heutigen Verschwörungsdenken ab (S. 167–175).

Am Schluss des Buches, in einem „Ausblick“, macht die Autorin auf das Anliegen aufmerksam, das sich für sie mit dem Buch verbindet. Der Buchtitel lautet „Religion und Wissenschaft“. Sie sagt nun aber, es sei ihr „nur vordergründig“ um „das Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft“ gegangen: „Eigentlich ging es um die darunter liegende Frage, wie Gewissheit in Gesellschaften hergestellt wird“ (S. 177). Hierfür sei sowohl Religion als auch Wissenschaft relevant.

Diskussion

Nachfolgend sollen vier unterschiedliche Punkte angesprochen werden.

  1. Das Buch ist deskriptiv angelegt. Es listet Sachverhalte und Problemstellungen auf, verzichtet aber durchgängig darauf, zu strittigen Fragen selbst Position zu beziehen. Obwohl sich dieser Verzicht daraus erklären lässt, dass es sich um ein Studienbuch handelt, bedeutet er letztlich einen Verlust an Transparenz und an gedanklichem Profil. Im Anschluss an die einzelnen Abschnitte werden allerdings jeweils Fragen genannt, die der weiterführenden Reflexion dienen. Auf diese Weise sollen die Leser*innen dazu angeregt werden, ihrerseits vertiefende Überlegungen vorzunehmen und sich eine begründete Meinung zu bilden.
  2. Es sind vor allem die fünf Abschnitte des dritten Buchteils, die zu weitergehenden Diskussionen einladen. Dies gilt z.B. für den Abschnitt, der die Zwitterstellung theologischer Fakultäten zwischen Wissenschaft und Religion erörtert. Überraschend ist, dass die Autorin in diesem Abschnitt nicht auf Max Weber zu sprechen kommt, auf dessen Werk sie an anderer Stelle ihres Buches hingewiesen hatte. In seinem berühmt gewordenen Beitrag über „Wissenschaft als Beruf“ von 1919 hatte Weber den Wissenschaftsstatus der Theologie radikal in Frage gestellt, weil sie auf unüberprüfbaren transempirischen Voraussetzungen beruhe. Hiervon abgesehen erwähnt der Buchabschnitt zumindest stichwortartig Probleme der Einbuße an Wissenschaftlichkeit und insbesondere an Wissenschaftsfreiheit, die der Sonderstatus der Theologie an staatlichen Universitäten mit sich bringt (S. 110 ff.). Im Anschluss an die Lektüre des Abschnitts drängt sich die Frage auf, ob der deutsche Sonderweg konfessioneller theologischer Fakultäten an den Universitäten à la longue tatsächlich noch tragfähig und haltbar ist.
  3. Das vorliegende Buch ist informationsreich. Es erwähnt nicht nur eine Reihe von Aspekten, die in der Gegenwart im Verhältnis von Religion und Wissenschaft eine Rolle spielen, sondern ebenfalls zahlreiche Namen, Positionen und Sachverhalte der Geistesgeschichte. Manchmal dürfte es sich für Interessierte lohnen, den Blick noch auszuweiten. Soziologiegeschichtlich nimmt das Buch vor allem auf die Deutung von Religion und Wissenschaft bei Emile Durkheim Bezug (S. 60 ff.). Auf seinen Zeitgenossen Georg Simmel geht es nur randständig ein (S. 42 f.). Unerwähnt bleibt Simmels Schrift „Die Religion“ (1905), die eine Grundlagenschrift der modernen Religionssoziologie ist. Hier entfaltete Simmel die Auffassung, existenziell lebendige Religiosität sei stets davon bedroht, in starre religiöse Dogmatik umzuschlagen und von ihr überfremdet zu werden. Beachtung verdient sodann Simmels monumentales Werk „Philosophie des Geldes“ (1900), dem zufolge in der modernen Gesellschaft das Geld zum Funktionsersatz des allmächtigen Gottes geworden ist. In der säkular gewordenen Kultur habe der Gottesgedanke seine integrative Kraft verloren, sodass das Geld in die von ihm hinterlassene Leerstelle eingetreten sei. Mit seinen Überlegungen rückte Simmel Probleme der Religion ins Licht, die im Horizont des Themas „Religion und Wissenschaft“ eigens zu bedenken sind.
  4. Zwar verzichtet das Buch durchgängig auf eigene Bewertungen. Letztlich scheint es aber von dem Anliegen geleitet zu sein, das Konfliktpotenzial zwischen Wissenschaft und Religion zu entschärfen. Seine oben wiedergegebene Leitidee, dass beide – sowohl Religion als auch Wissenschaft – der Gesellschaft „Gewissheiten“ vermitteln sollen, deutet darauf hin, dass die Autorin sie auf gleicher Ebene in einem prinzipiell harmonischen Nebeneinander versteht. Das Buch entfaltet freilich nicht, in welcher Hinsicht wissenschaftlich oder religiös die Vermittlung von Gewissheiten heute jeweils erfolgen kann oder soll. Ebenso wenig geht es der Frage nach, inwieweit Religion angesichts ihrer internen gedanklichen Probleme und – zumindest in Europa – ihres gesellschaftlichen Bedeutungsverlustes zur Vermittlung von „Gewissheiten“ überhaupt noch in der Lage ist. Zudem ist zu beachten, dass religiösen Gewissheiten in einer pluralistischen Gesellschaft nur noch eine gruppenbezogene, partikulare Bedeutung zukommt, wohingegen die Wissenschaft universalisierbar zu argumentieren hat. Zum Anliegen des Buches brechen also eine ganze Reihe von Anschlussfragen auf.

Fazit

Das Buch erörtert wichtige Punkte zum Verhältnis von Religion und Wissenschaft, enthält geistesgeschichtlich sowie gegenwartsbezogen viele Informationen und regt, auch indirekt, zu weiterführenden kritischen Reflexionen an.

Rezension von
Prof. Dr. Hartmut Kreß
Professor für Sozialethik an der Universität Bonn
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Es gibt 21 Rezensionen von Hartmut Kreß.

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ISSN 2190-9245